N. Stulz-Herrnstadt: Berliner Bürgertum

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Titel
Berliner Bürgertum im 18. und 19. Jahrhundert. Unternehmerkarrieren und Migration. Familien und Verkehrskreise in der Hauptstadt Brandenburg-Preussens


Autor(en)
Stulz-Herrnstadt, Nadja
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 99
Erschienen
Berlin 2002: de Gruyter
Anzahl Seiten
VIII, 378 S.
Preis
€ 148,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christof Biggeleben, Großbritannien-Zentrum HU Berlin

„Elektropolis“ oder „größte Industriestadt des Kontinents“. Das sind nur zwei Bezeichnungen, mit denen die wirtschaftliche Entwicklung Berlins seit der Industriellen Revolution oftmals beschrieben wurde. Um so überraschender ist die Tatsache, dass mit den Unternehmern der Stadt die eigentlichen Träger dieser Entwicklung bisher kaum erforscht worden sind. Für die Epoche der Industrialisierung ist man noch immer auf die in den 1930er Jahren entstandene Arbeit von Hugo Rachel, Johannes Papritz und Paul Wallich über die Berliner Großkaufleute des 18. und frühen 19. Jahrhundert sowie auf die Studien von Hartmut Kaelble und Otto Büsch angewiesen. 1 Schaut man auf spätere Perioden, etwa auf das Kaiserreich, werden zwar wichtige Teilgruppen der Berliner Unternehmerschaft wie die Bankiers, die Millionäre oder die Mäzene in den Blick genommen, nicht aber die Unternehmerschaft als Ganzes. 2 Ebenso wenig weiß man über die wichtigsten Interessenorganisationen der Berliner Wirtschaftsbürger. Etwa über die Korporation der Kaufmannschaft von Berlin, die, 1820 gegründet, bis zu ihrer Fusion mit der Berliner Handelskammer im Jahr 1920 die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt für ein Jahrhundert lang im Wesentlichen mitbestimmte. Einzig die Frühzeit der Korporation gilt, wiederum dank Kaelble, als erforscht. 3

Nun hat sich Nadja Stulz-Herrnstadt der Geschichte der Berliner Kaufmannschaft angenommen. Anhand des 21-köpfigen Ältestenkollegiums der Korporation von 1848/49 will sie die „Wanderungsbewegungen im bürgerlichen Gruppenbildungsprozess am Beispiel einer städtischen unternehmerischen Führungsgruppe untersuchen“ (S.1). Ihr Blick richtet sich dabei auf die Einzelpersönlichkeit der Ältesten sowie deren Familien und Familienverbände. Ihr Ziel ist es, „die soziale Genese und Sozialisierung sowie die Unternehmensentwicklung eines integralen Teils der Berliner bürgerlichen Stadtgesellschaft im Zeitraum von ca. 140 Jahren“ (1730/50-1860/70) darzustellen (S. 2).

Zunächst erschien es dem Rezensenten vermessen, bei 21 Ältesten einen Titel „Berliner Bürgertum im 18. und 19. Jahrhundert“ zu wählen. Doch man wird sehr schnell eines Besseren belehrt, denn Stulz-Herrnstadt nutzt für ihre Untersuchung die Methode der „erweiterten Familienrekonstruktion“. So kann sie die Einzelbiographie des Unternehmers „in und mit der Familienbiographie“ darstellen und im Kontext des Schichtenbildungsprozesses den Platz der Familie in der sozialen Gruppe definieren (S. 19). Um dieses Ziel zu erreichen, hat sie beispielsweise Taufregister von Kirchengemeinden ausgewertet, um über die dort registrierten Patenschaften eines Bürgerkindes (manchmal mehr als 10 Personen) das soziale Umfeld der Ältesten zu ergründen. Konkret heißt das, dass Stulz-Herrnstadt „verkartete Vitaldaten“ von ca. 35.000 Einzelpersonen in Berlin und anderen Städten und Ortschaften angelegt hat. Damit ist der Titel des Buches wahrlich gerechtfertigt.

Nadja Stulz-Herrnstadt gliedert ihre Arbeit in sechs Kapitel. In allen dominiert die Geschichte derjenigen Ältesten, die als Zuwanderer nach Berlin kamen und später bis in das Spitzengremium der Berliner Kaufmannschaft vordrangen. Denn der überraschende Befund des ersten Kapitels über deren geographische Herkunft ist, dass zehn der 21 Ältesten als Neuberliner in den erlauchten Kreis des Kollegiums der Kaufmannschaft gelangten (S. 36). Offensichtlich sind die Zuwanderer nicht benachteiligt worden, und es stellt sich die Frage, warum diese so scheinbar mühelos in einen Kreis gelangten, den eine starke Exklusivität auszeichnete. In ihrem zweiten Kapitel beschäftigt sich Stulz-Herrnstadt daher mit der sozialen Herkunft der Zuwanderer-Ältesten. Sie zeigt, dass alle Migranten aus Familien stammten, die in ihren Heimatstädten schon zur lokalen bürgerlichen Elite gehörten: „Mit seiner sozialen Herkunft und seinem Verkehrskreis hatte dieser Oberschichts-Migrationstypus bereits Startvorteile mitgebracht“, so Schulz-Herrnstadt, „die im Zuwanderungsort für den Statuserhalt bzw. für eine Statusaufwertung und für die wirtschaftsbürgerliche Spitzenkarriere ganz offensichtlich wertvoll gewesen“ waren (S. 90).

Welche Bedeutung dieser Status hatte, wird im folgenden dritten Kapitel beschrieben. Stulz-Herrnstadt untersucht die unternehmerische Startphase der Zuwanderer anhand ihrer Integration in die wirtschaftlichen Interessenorganisationen Berlins, ihre Kontakte zu den eingesessenen wirtschaftsbürgerlichen Eliten und den Zugang zu potentiellen Kreditgebern. Ihr Interesse gilt der Art und Weise, wie die Migranten die berufliche und soziale Integration in die bürgerliche Berliner Oberschicht bewältigten. Aufgrund ihres Ansatzes der Familienrekonstruktion deckt sie dabei ein „außerordentlich dichtes Netz“ von sozialen Verbindungen der Zuwanderer zu den lokalen Eliten auf (S. 103). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass „die bereits im frühen 18. Jahrhundert allmählich einsetzende, soziale Konzentration im oberen Drittel der städtischen bürgerlichen Oberschicht eine spürbare Segmentierung gerade auch ihres wirtschaftsbürgerlichen Teils zur Folge hatte. Die Zugangschancen auf sozialer Ebene zu jenen ... Führungsschichten und -gruppen verringerten sich gleichermaßen deutlich“ (S. 125). Mit anderen Worten: Aufsteiger hatten keine Chance in die Oberschicht vorzurücken. Dieser Befund erinnert nun stark an die Untersuchungen von Hartmut Kaelble, Dieter Ziegler u.a. , die für das 19. und frühe 20. Jahrhundert die hohe Selbstrekrutierung der deutschen Unternehmerschaft hervorgehoben haben. 4 Setzt man die Arbeit von Stulz-Herrnstadt außerdem noch in Bezug zu den Studien von Hervé Joly und Michael Hartmann über die bundesrepublikanische Wirtschaftselite, wird deutlich, dass man von der Mitte des 18. Jahrhunderts an bis in die unmittelbare Gegenwart hinein von einer stabilen Selbstrekrutierung der preußisch-deutschen Wirtschaftselite sprechen kann. 5

Um ihre Thesen abzusichern, vergleicht Nadja Stulz-Herrnstadt in ihrem sechsten Kapitel die Situation der Zuwanderer-Unternehmer in Bremen und Hamburg mit der der Berliner. Sie stellt die Migrationsstadt Berlin gegen zwei Städte, die im Gegensatz zur preußischen Metropole durch ein altes Patriziat gekennzeichnet waren. Aber auch in den alten Hansestädten war es für Zuwanderer möglich, in die Spitze der städtischen Hierarchie vorzustoßen, wenn sie durch ihre Herkunft einen schichtennahen oder schichtenidentischen Standard mitbrachten. So kommt Stulz-Herrnstadt insgesamt zu dem Ergebnis eines „überregionalen Schichtenbildungsprozesses“ im deutschen Bürgertum (S. 268), dessen Entstehung sie in und für Berlin in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sieht.

In den beiden übrigen Kapiteln werden zum einen die Kontakte der Migranten zu ihren Herkunftsorten thematisiert, die noch durch die nachfolgenden, in Berlin ansässigen Generationen gepflegt wurden. Zum anderen untersucht Stulz-Herrnstadt die Unternehmensform der Zuwanderer-Unternehmen. Dabei führt sie den Begriff der „flankierenden Unternehmensführung“ ein, d. h. eine Vernetzung von branchengleichen oder auch branchendifferenten Unternehmen, die sich über enge verwandtschaftliche, soziale und geschäftliche Beziehungen der Firmenchefs zusammenfanden. So kann Stulz-Herrnstadt in der Tat nachweisen, dass man bei einigen Unternehmen der Ältesten von einer faktisch „innerfamilialen Wirtschaftsstruktur“ sprechen kann (S. 183), die Startvorteile bot, wirtschaftliches Risiko minimierte und Netzwerke schuf. Bestes Beispiel hierfür ist die Gründung der Berliner Handelsgesellschaft (BHG, heute BHF-Bank) im Jahr 1856, welche von drei Ältesten der Korporation der Berliner Kaufmannschaft gegründet wurde, die darüber hinaus auch verwandtschaftlich und geschäftlich eng miteinander verbunden waren (Heinrich Conrad Carl, Paul Eduard Conrad und Johann Friedrich Gelpcke).

Trotz des innovativen Begriffes und der spannenden Ergebnisse des Ansatzes der „flankierenden Unternehmensführung“ merkt man gerade diesem Kapitel ein Grundproblem der Arbeit an, weil es hier besonders auffällt. Zwischen Fertigstellung und Veröffentlichung der Untersuchung lagen fünf Jahre (1997 bzw. 2002). Gerade in den Bereichen Unternehmer- und Unternehmensforschung ist in diesen Jahren jedoch einiges passiert (als Stichwort: Neue Institutionenökonomie). Auffällig ist auch, dass man während der Lektüre und bei den Ergebnissen des Buches die ganze Zeit an einen Namen denkt: Pierre Bourdieu. Offensichtlich hat Stulz-Herrnstadt ihre Arbeit fertiggestellt, bevor der französische Soziologe seinen Siegeszug durch die deutsche Geschichtswissenschaft antrat.

Das Ergebnis allerdings beruhigt. Es geht auch ohne ihn. Insgesamt nämlich überzeugt die flüssig geschriebene und mit Gewinn zu lesende Studie von Nadja Stulz-Herrnstadt. Sie schließt eine große Lücke der Berliner Unternehmer- und Bürgertumsgeschichte. Nun weiß man endlich mehr über die Persönlichkeiten, die als Älteste der Korporation der Kaufmannschaft die wirtschaftliche Entwicklung der deutschen Hauptstadt angestoßen haben und die Voraussetzungen dafür schufen, dass aus Berlin die eingangs zitierte „größte Industriestadt des Kontinents“ werden konnte. Dazu erfährt der Leser viel über das Umfeld dieser Industriepioniere, über ihre Herkunft und Verwandtschaft, ihre Verkehrskreise und Wohnmilieus, über die Zusammensetzung der bürgerlichen Berliner Oberschicht insgesamt. Die Informationen die Stulz-Herrnstadt zusammengetragen hat, sind beeindruckend, besonders hinsichtlich ihrer Sisyphusarbeit der Familienrekonstruktion. Man muss gerade diese Abschnitte der Verwandtschafts- und Patenschaftsbeziehungen sehr konzentriert lesen, denn sonst sieht man manchmal vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Einige illustrierte Schautafeln mit den einzelnen Familien und ihren sozialen Kontakten hätten hier sicherlich geholfen. Abschließend sei das einzig wirkliche Ärgernis des Buches benannt, eines, das die Autorin allerdings nicht zu verantworten hat: Der nicht nachzuvollziehende Preis, den der Verlag für sein Produkt verlangt: 148 €! Der interessierte Doktorand wird vor der Frage stehen: Das Buch oder ein Woche Urlaub. Der Rezensent hat sich für den Urlaub entschieden. Denn zum Glück gibt es ja Rezensionsexemplare.

Anmerkungen:
1 Rachel, Hugo/Papritz, Johannes/Wallich Paul, Berliner Grosskaufleute und Kapitalisten, Bd. 1-3 1924-1939. Neu hrsg. und bibliogr. erw. von Johannes Schultze, Henry C. Wallich und Gerd Heinrich, Bd. 1-3, Berlin 1967; Büsch, Otto, Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg 1800-1850. Eine empirische Untersuchung zur gewerblichen Wirtschaft einer hauptstadtgebundenen Wirtschaftsregion in frühindustrieller Zeit, Berlin 1971; Kaelble, Hartmut, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung. Herkunft, Status und politischer Einfluß, Berlin 1972.
2 Augustine, Dolores L., Patricians and Parvenus. Wealth and High Society in Wilhelmine Germany, Oxford 1994; Reitmayer, Morten, Bankiers im Kaiserreich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz, Göttingen 1999; Matthes, Olaf, James Simon. Mäzen im Wilhelminischen Zeitalter, Berlin 2000.
3 Kaelble, Berliner Unternehmer.
4 Kaelble, Hartmut, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1983, S. 102-110; Ziegler, Dieter, Kontinuität und Diskontinuität der deutschen Wirtschaftselite 1900-1938, in: ders. (Hrsg.), Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 31-53.
5 Joly, Hervé, Kontinuität und Diskontinuität der industriellen Elite nach 1945 sowie Hartmann, Michael, Kontinuität oder Wandel? Die deutsche Wirtschaftselite zwischen 1970 und 1995, in: Ziegler, Dieter (Hrsg.), Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 54-72 bzw. S. 73-92.

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