T. Stockinger: Dörfer und Deputierte

Cover
Titel
Dörfer und Deputierte. Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise)


Autor(en)
Stockinger, Thomas
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
930 S.
Preis
€ 98
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Fahrmeir, Historisches Seminar, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Auf den ersten Blick überrascht dieses Buch. Es handelt auf fast 1000 Seiten von wenigen Tagen, nämlich den Wahlterminen im Frühjahr 1848 in Frankreich und Cisleithanien. Und nicht nur der Zeitraum, sondern auch der geographische Fokus ist eng begrenzt: Es geht (eigentlich) nur um die ländliche Umgebung der Hauptstädte. Wiederum auf den ersten Blick scheint es dafür nur zwei Erklärungen zu geben: Entweder ist jemandem ein Thema völlig aus dem Ruder gelaufen oder es gibt einen Forschungsbedarf, den die lange Diskussion über die Revolutionen von 1848 offenbar übersehen hat. Nachdem man das Buch gelesen hat, weiß man, dass es noch eine dritte Erklärung gibt: Thomas Stockinger hat sich vorgenommen, an diesem Beispiel zugleich zu skizzieren, wie man die Geschichte von Wahlen, Wählern und Gewählten (nicht nur) im 19. Jahrhundert neu denken und in der Folge neu schreiben könnte.

Dementsprechend hebt das Buch nach der Einleitung mit einem sehr ausführlichen theoretischen und historiographiegeschichtlichen Überblick an, in dem es kurz um die Frage des Vergleichs geht, dann differenziert und überaus reflektiert um das Verhältnis zwischen Wahlen und den ganz unterschiedlichen Mechanismen, denen bisher eine politisierende Wirkung zugeschrieben wurde. Stockinger geht es darum, den Fokus vom Ergebnis von Wahlen und ihrer Rolle als Mechanismen der nationalen Politisierung auf die Frage zu verschieben, warum man überhaupt wählen geht, wie Wahlen aus der Sicht der verschiedenen beteiligten Akteure funktionieren, welche Bedeutung sie haben können und was sich daraus an Perspektiven auf Modernisierungs-, Demokratisierungs-, Nationalisierungs- und Politisierungsprozesse im ländlichen Raum ergibt.

Bevor man dazu kommt, sich zu fragen, ob es so geschickt ist, eine Pilotstudie zum ländlichen Raum ausgerechnet unmittelbar neben den Hauptstädten anzusiedeln, erfährt man im dritten Kapitel (das den sozioökonomischen Rahmenbedingungen gewidmet ist), dass die Distanz zur Hauptstadt in beiden Fällen relativ groß war. Niederösterreich und das Departement Seine-et-Oise waren, wie der detaillierte Vergleich zwischen Demographie, Landwirtschaft, Betriebsgrößen und Steuerlast zeigt, im Wesentlichen landwirtschaftlich geprägte Regionen mit vergleichbaren Produktivitätsverhältnissen, allerdings unterschiedlichen strukturellen Rahmenbedingungen, die sich vor allem im österreichischen Problem der „Feudallasten“ manifestierten, obgleich es auch um Paris durchaus Großgrundbesitzer mit erheblichen Privilegien gab. In beiden Regionen waren die Verkehrsverhältnisse nicht ganz einfach und einige Dörfer daher weitgehend isoliert, obwohl sie nicht sehr weit weg von größeren Gewerbe- und Verwaltungszentren lagen. Zumal in Österreich mit seiner weniger entwickelten Zeitungslandschaft nicht immer klar war, was in Wien vorging, aber auch im Umland von Paris bewegten sich Nachrichten und Gerüchte zumindest abseits der Eisenbahnstrecken mit der Geschwindigkeit eines gemächlich ausschreitenden Fußgängers.

Damit sind wir aber bereits im nächsten Kapitel, das sich mentalen und kulturellen Voraussetzungen widmet, die am Wahltag wichtig wurden; neben der Kommunikation fallen darunter Schulen und Alphabetisierung, Religiosität (die in Österreich deutlich stärker präsent war), sowie die bisherige Erfahrung mit politischer Partizipation, die in Frankreich durch Revolution und Gemeindewahlen geprägt war, in Niederösterreich angesichts der starken Bedeutung der intermediären Grundherrschaften durch Richterwahlen und die Ständeversammlung.

Kapitel fünf schildert sodann die Vorgänge der Revolution von 1848 bis zur relevanten Zeit. Es relativiert die stereotype Vorstellung einer politischen Revolution in Frankreich, der im ländlichen Österreich eine auf die Feudallasten konzentrierte soziale Revolution gegenübergestanden habe, ohne das Bild völlig falsifizieren zu können oder zu wollen.

Inzwischen hat man gut 350 Seiten hinter sich und ist der Vorgeschichten, so spannend, differenziert, umfassend und klug sie sind, ein wenig müde, aber mit dem sechsten Kapitel beginnt die Schilderung der Wahlen, die – jenseits des immerhin über 100 Seiten starken Literaturverzeichnisses – den Rest des Bandes einnimmt. Diese Schilderung der Wahlen gliedert sich in zwei große Abschnitte: „Die Wege zum Wahltag“ und „Die Momente der Wahl“. Im ersten Abschnitt geht es um Wahlordnungen und ihre administrative Umsetzung vor Ort, sonstige Wahlen im selben Zeitraum – womit in Österreich vor allem die Wahlen zur Nationalversammlung in Frankfurt gemeint sind –, staatliche Versuche der Wahlbeeinflussung sowie die Wahlwerbung der Kandidaten. Stockinger zeichnet ein überaus dichtes und differenziertes Panorama von staatlichen Vorstellungen des Wahlakts, lokalen Rückfragen und Protesten sowie der Informationen, auf deren Grundlage Wähler eine Entscheidung treffen konnten: im Wesentlichen eine Entscheidung zwischen Personen, in Frankreich etwas stärker als in Österreich aber auch eine Entscheidung zwischen etablierten politischen Programmen und zwischen Kandidaten der Regierung und anderen.

Das abschließende siebte Kapitel hält, was der Titel verspricht: eine dichte Beschreibung der Wahlvorgänge samt aller Störungen durch lange Wartezeiten, schlechte Terminkoordination, An- und Abreisewege, weniger bekannte Verfahrensweisen sowie die Ergebnisse der Wahlen. Dabei interessieren Stockinger weniger die politischen Parteiungen als die Frage, wer (warum) wie partizipierte und ob die Wahlen im Ergebnis eher eine politische Entscheidungsmöglichkeit boten oder im Wesentlichen nach ständischen Kriterien funktionierten, so dass die prominentesten Vertreter unterschiedlicher sozialer Gruppen zunächst zu Wahlmännern und sodann vielleicht zu Abgeordneten wurden. Die vielen Schwierigkeiten, die in Frankreich wie in Österreich mit der Wahl verbunden waren, lassen die revolutionäre, aber überaus vieldeutige Bedeutung des Wahlakts plastisch hervortreten. Interessant ist wiederum die Abwesenheit eines klaren Kontrasts zwischen Österreich und Frankreich, wenn auch in Frankreich mehr nichtständische Wahlakte zu beobachten waren als in Österreich – wo die Wahlbeteiligung auch etwas niedriger war.

Stockinger ist es gelungen, seine Hypothese, dass aus einer dichten Beschreibung von Wahlakten ein sehr viel differenzierteres Bild von Demokratie zu zeichnen ist als durch Politisierungs- und Modernisierungstheorien, eindrucksvoll zu bestätigen. Vor diesem Hintergrund ist es auch nur konsequent, dass er das Verhältnis zwischen Dörfern und ihren Deputierten nicht im weiteren Verlauf der Revolution verfolgt; es geht ihm um eine theoretisch reflektierte, sozial- und kulturhistorisch umfassend kontextualisierte, detaillierte und dichte Momentaufnahme, deren Vor- und Nachgeschichte nicht ausgeblendet werden – sie sind aber, da sie das Handeln der Wähler wie der Kandidaten und der Regierungen nur teilweise zu determinieren vermögen, für diese Studie nicht von zentraler Bedeutung.

Damit leistet die Arbeit einen wichtigen Beitrag zur politischen Kulturgeschichte von Wahlen im 19. Jahrhundert allgemein. In anderer Weise scheint sie etwas aus der Zeit gefallen: Sie ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts, das weniger durch die verfügbaren Mittel als durch die Frage determiniert wurde, und nimmt sich den Raum, den sie braucht, ihre Argumente umfassend zu entfalten und ihr Material breit zu präsentieren, anstatt als Endprodukt eine knappe, synthetische Monographie anzustreben. Obgleich man das Buch vielleicht nicht in einem Zug lesen muss (die theoretische Einleitung könnte durchaus auch für sich stehen und die empirischen Teile kommen in gewissem Sinne auch ohne sie aus, vielleicht sogar ohne einige der Details der sozial- und kulturhistorischen Präliminarien), lohnt sich die Lektüre sehr – und sie ist ein sprachliches Vergnügen.

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