KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): Wehrmacht und Konzentrationslager

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Titel
Wehrmacht und Konzentrationslager.


Herausgeber
KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Reihe
Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, H. 13
Erschienen
Bremen 2012: Edition Temmen
Anzahl Seiten
267 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Klein, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

Man sollte meinen, dass in den über vierzig Jahren zwischen Manfred Messerschmidts Befund von 1969 über die Teilidentität der Ziele zwischen Militärs und Nationalsozialisten und den jüngsten Studien aus dem Institut für Zeitgeschichte über die Rolle der Wehrmacht im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion kein Aspekt militärischer Gewaltgeschichte unausgeleuchtet geblieben ist. Doch ein Workshop im Juni 2010 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme brachte unter dem Titel „Wehrmacht und Konzentrationslager“ teils kaum bekannte Verbindungen ans Licht. Zehn Aufsätze liegen nun als Band 13 der „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ vor.

Dem Einsatz von Wehrmachtsangehörigen als KZ-Wachpersonal widmen sich vier Autoren mit verschiedenen Fragestellungen. Stefan Hördler eröffnet das Spektrum mit einem Überblick über die politische Entscheidungsfindung zum Personalaustausch von Wachsturmbann-Angehörigen mit nicht mehr kampffähigen Wehrmachtsoldaten in die Wachverbände der KZ. Sein Schwerpunkt liegt wegen der vergleichsweise günstigen Quellenlage auf den Verhältnissen im KZ Stutthof, wo der dortige Wachverband ohnehin als Schulungsstation für Wehrmachtsangehörige zur Vorbereitung auf den KZ-Einsatz fungierte. Reimer Möller hingegen konzentriert sich auf den Austausch von 200 Angehörigen der Neuengammer KZ-Wachmänner mit etwa 1300 Heeres- und Marinesoldaten aus allen Dienstgraden. Während die SS-Angehörigen als Teil des Kampfverbandes Kurmark in Frankreich eingesetzt wurden, erledigten Offiziere und Mannschaften die Führungs- und Wachaufgaben in dem ohnehin expandierenden Außenlagersystem. Möller macht ganz verschiedene Verhaltensmuster der neu Eingesetzten aus, wenn er von Gewaltverbot, der Besserung medizinischer Grundversorgung, von Indifferenz angesichts menschenverachtender Verhältnisse und von blanker Gewaltbereitschaft spricht. Häftlingsbewachung funktionierte auch jetzt nach den von der SS vorgegebenen Standards, von Verantwortung und Menschlichkeit getragene Handlungsmuster blieben die Ausnahme. Marc Buggeln analysiert die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Häftlingen in den Außenlagern Neuengammes unter den verschiedenen Bewachungsgruppen. Seine empirische Methode, nach der Häftlingssterblichkeit in Außenkommandos unter SS- oder Wehrmachtsleitung zu fragen, zeigt, dass diese unter Offizierskommando zwar anfänglich geringer war, sich jedoch wegen der hygienischen Zustände, der Mangelernährung und Überbelegung im Winter 1944/45 schnell erhöhte. Tatsächlich zeigt Buggeln anhand einiger Beispiele, dass viele Wehrmachtsangehörige tendenziell weniger brutale Gewalt ausübten als ihre Vorgänger; das Gegenbeispiel des ehemaligen Obergefreiten Hans Fiekers funktioniert hier quasi als Korrektiv, um vorschnelle Verallgemeinerungen zu erschweren. Die von Buggeln festgestellte geringere Mortalität in den Frauenaußenlagern fußte weniger auf den Handlungsspielräumen der neuen Bewacher; vielmehr muss hier ein deutlich effektiveres Solidarnetzwerk mit anderen Gefangenengruppen und deutschen Zivilarbeitern bestanden haben. Mit Hilfe der privaten Korrespondenzen zweier Soldaten mit ihren Frauen über den neuen Lagerdienst weist Buggeln mit aller Vorsicht darauf hin, dass unter den eingesetzten Soldaten auch die Meinung verbreitet war, die Häftlinge säßen zu Recht in Konzentrationslagern ein und die Bevölkerung müsse vor ihnen geschützt werden. Indifferenz und Verachtung gegenüber den Inhaftierten können zwar nicht als gewaltbereite Totschlägermentalität gelten, aber vor dem Hintergrund der sich rapide verschlechternden Lebensumstände in den Außenlagern 1944/45 verbesserte sich die Häftlingssituation wegen des Wehrmachteinsatzes nicht. Christine Glaunig zeigt das verhängnisvolle Wirken des Führers des KZ-Außenlagers Bisingen, Johannes Pauli, dessen Vita sie mühevoll rekonstruiert hat. Noch als knapp 18-Jähriger in Flandern im letzten Kriegsjahr eingesetzt, durchlief Pauli die gesamte zweite Sozialisation in den völkisch-revanchistischen Kreisen von Freikorps und schwarzer Reichswehr, bis er in den zehn Jahren zwischen 1923 und 1933 teilweise arbeitslos und politisch eher indifferent eine Familie gründete und 1934/36 zwischen Stahlhelm und SA wechselte. Seit August 1939 als Infanterist eingezogen, wechselte er vermutlich im Herbst 1941 die Einheit; als Feldgendarm wirkte er nun in der Ukraine. Im Mai 1944 kam er nach eigenen Angaben aufgrund einer Disziplinarstrafe zu den Wachmannschaften nach Dachau und wurde von dort in das Außenlager Bisingen des KZ Natzweiler versetzt, wo er nach wenigen Monaten zum Lagerführer avancierte und ein grausames Terrorregiment über etwa 1.500 Häftlinge errichtete. Aus dem Hauptfeldwebel Pauli wurde ein Hauptscharführer. Die rund 120 Mann starke Wachkompanie dieses Außenlagers zur Schieferölgewinnung umfasste lediglich drei SS-Männer, der Rest bestand aus Wehrmachtssoldaten. Auch Glaunig fragt im Zusammenhang mit solchen personellen Neuerungen nach den Veränderungen im Häftlingsalltag und konstatiert strukturelle Gründe, die gewaltsames Handeln von eigentlich hierfür nicht ausgebildeten Soldaten hervorriefen. Anpassungsdruck in einem von Terror geprägten Tätigkeitsfeld während der Endkriegsphase mag sicher hierzu gehört haben, aber auch sie kann einzelne Gegenbeispiele von Solidarität und Hilfsbereitschaft personalisieren. Die Strafverfolgung der Gewalttaten in Bisingen bildet ein eigenes, kurzes Kapitel, das abseits der französischen und der Schweizer Rechtsprechung mit dem schon oft festgestellten Befund endet, dass kein Täter jemals vor einem deutschen Gericht hierfür verurteilt wurde.

Diese vier ersten Beiträge wollen keine steilen Thesen wagen, sondern sind das Produkt empirischer Analyse aus biographischen und Massendaten, aus Zeugenaussagen und amtlichen Restüberlieferungen. Sie ähneln sich in ihren Ergebnissen über Handlungsmuster und Sachzwänge, über vermutete ideologische Prädispositionen und nur einzeln belegte, anlassbezogene Solidarität aus den Reihen von Wehrmachtssoldaten. Eindrucksvoll zeigen alle vier Autoren, wie aus verstreuten Splitterbeständen Fragestellungen angegangen werden können, deren Wichtigkeit von vielen Zeithistorikern noch nicht einmal erkannt wurde.

Der Oldenburger Historiker Hans-Peter Klausch geht in seinem umfangreichen Beitrag der Frage nach den Disziplinierungsinstanzen und -methoden innerhalb der Wehrmacht gegen diejenigen Soldaten nach, die unterhalb militärjustiziabler Vergehen durch permanente Ordnungs- und Regelverstöße auffällig wurden. Die verschiedenen Schicksalswege dieser „Disziplinstörer“ als Häftlinge in Sonderabteilungen des Feld- und Ersatzheeres oder als sogenannte Zwischenhäftlinge durchliefen vor und während des Krieges eine gestaffelte Eskalation der brutalen Korrektur ihres Fehlverhaltens. Waren solche verhaltensdevianten Soldaten trotz brutalster Misshandlung in Sonderabteilungen oder dem Sonderbataillon im unmittelbaren Gefahrenbereich der kämpfenden Truppe immer noch nicht zum disziplinierten Kampf bereit, so konnten sie als Häftlinge der „Sonderaktion Wehrmacht“ ins KZ überwiesen werden. Klausch schätzt in seinem Neuland betretenden Aufsatz die Zahl der so misshandelten und getöteten Soldaten auf 550 bis 750 Männer.

Einen dritten Schwerpunkt bildet das kollaborierende Verhalten von Wehrmacht, SS und Polizei zur Durchsetzung des Mordes an sowjetischen Kriegsgefangenen auf Reichsgebiet. Nach einem kontextualisierenden Beitrag des Experten Rolf Keller zur Umsetzung der Mordaktionen gegen vermutete „bolschewistische Triebkräfte“ unter den Kriegsgefangenen, die sich zwischen Himmlers hochtrabenden Plänen zum Arbeitseinsatz von Hunderttausenden und der mörderischen Vernachlässigung von Millionen Betroffener auch in Neuengamme abspielten, konzentriert sich Christian Römmer ganz auf die Morde in diesem KZ. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stehen acht Mordaktionen, die er auf ihre Grundlagen hin untersucht. Waren diese Morde wegen der vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) vorgegebenen Befehle begangen worden, wie hießen die Opfer und warum wurde Neuengamme zum Tatort? Erstaunlicherweise scheint der mörderische RSHA-Befehl Nr. 9 vom 27. August 1941 nur bei der ersten der untersuchten Mordaktionen handlungsleitend gewesen zu sein, und gerade bei den zwei Vergasungsaktionen im September und November 1942 gegen die aus dem Lager Fallingbostel verlegten Opfer war ein Erlass aus dem Oberkommando der Wehrmacht zur Aussonderung von unheilbar kranken Kriegsgefangenen verantwortlich. Römmer zeigt bei penibler Rekonstruktion aus ganz unterschiedlichen und spärlichen Quellen, dass die konkrete Ausprägung gerade dieser Massenmorde in den Lagern auf Reichsgebiet trotz aller erreichten Erkenntnisse noch etliche Fragen offenhält. Ramona Saavedra Santis richtet ihren Blick auf die als „bolschewistische Flintenweiber“ denunzierten weiblichen Kriegsgefangenen aus der Roten Armee im Frauen-KZ Ravensbrück. Bei über 23.000 sowjetischen Frauen als KZ-Häftlinge im uckermärkischen Lager waren etwa 700 von ihnen gefangene Soldatinnen, deren Ruf als vitale und solidarische Gruppe im kollektiven Gedächtnis der gefangenen Frauen von Ravensbrück in krassem Widerspruch stand zu den pejorativen Zuschreibungen der NS-Ideologie. Auch wenn sich aus den seriellen Zugangslisten des KZ lediglich 107 Namen mit Zuschreibung „Rote Armee“ rekonstruieren lassen, so waren es die etwa 500 Soldatinnen, die am 27. Februar 1943 in ihrem abgegrenzten Lagerbereich untergebracht wurden, die dieses Narrativ prägen sollten. Wie schwierig es ist, jenseits der erinnerten Charakteristika die Herkunft, Berufsausbildung und den letzten Einsatz vor der Gefangennahme zu erkunden, zeigt sich in Santis’ Rekonstruktion der Wege über das westukrainische Sammellager Rowno und das Durchgangslager Soest in Westfalen. Dort hatten sich die Frauen der Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie verweigert und waren deshalb in das KZ verlegt worden, wo sie in unterschiedlichen Arbeitskommandos und nur teilweise nach ihren Qualifikationen eingesetzt wurden.

Einem roten Faden gleich führen diese drei Beiträge zum Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener auf Reichsgebiet zu einer Reihe offener Fragen an den einzelnen KZ-Stationen, deren Beantwortung trotz einer nur als höchst unzureichend zu qualifizierenden Quellenlage möglich ist.

Im dritten Schwerpunkt des Themenheftes treten Luftwaffe und Marine als Auftraggeber zur Durchführung von medizinischen Versuchen an KZ-Häftlingen auf. Albert Knoll fasst in seinem Beitrag über die Menschenversuche der Luftwaffe im KZ Dachau an 540 Häftlingen die Erkenntnisse aus den vergangenen Jahrzehnten seit dem Nürnberger Ärzteprozess konzise zusammen und fügt bisher nicht bekannte Zeugnisse von Überlebenden hinzu. Astrid Ley widmet sich den bisher unbekannten Medikamentenversuchen an Häftlingen im KZ Sachsenhausen, wo die Probanden für Lederersatzschuhe auf der Schuhprüfstrecke noch zusätzlich mit leistungssteigernden Mitteln aufgeputscht wurden. Das Schuhläuferkommando musste mit den Mitteln Pervitin und Cocain in verschiedenen Formen vergleichende „Laufleistungen“ erbringen, um Dosen und Einnahmevarianten für U-Boot-Besatzungen zu formatieren. Ley zeigt hier sehr anschaulich die einvernehmliche Kooperation zwischen Marine und SS im November 1944 bei der menschenverachtenden Ausbeutung von Häftlingen zugunsten der deutschen Kampfführung.

Das vorliegende Schwerpunktheft ist ein idealtypisches Resultat einer Konferenz mit Workshop-Charakter, wo ja in erster Linie Forschungsdesiderata, Quellenprobleme und Untersuchungsmethoden im Vordergrund stehen. Aus den innovativen und quellenorientierten Beiträgen ragt Hans-Peter Klauschs Aufsatz über die Disziplinierung ungehorsamer Wehrmachtsangehöriger heraus, weil mit diesem Thema ein neues Forschungsfeld betreten wird.

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