Cover
Titel
The Sick Child in Early Modern England, 1580-1720.


Autor(en)
Newton, Hannah
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 77,22
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Juliane Jacobi, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Potsdam

Ob Kinder in „vormodernen“ Familien, namentlich im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, in vergleichbarer Weise von ihren Eltern mit liebevoller Aufmerksamkeit bedacht wurden, wie dies in der Regel seit der Aufklärung und den großen demographischen Wandlungsprozessen des 19. und 20. Jahrhunderts der Fall ist, ist eine Frage, die die historische, soziologische und pädagogische Forschung seit dem Erscheinen von Philipp Ariès epochemachender Studie L'enfant et la vie familiale sous l'Ancien Régime1 und von Lawrence Stones The Family, Sex and marriage in England2 beschäftigt hat. Unabhängig davon, dass beide Studien viele andere interessante Fragen zur Geschichte der Kindheit und der Familie aufgeworfen haben und dass viele neuere Forschungen die von Ariès und Stone vertretene Ansicht einer mangelnden elterlichen Zuwendung vor der Aufklärung widerlegt haben, wird diese These immer noch gerne als Ausgangspunkt für kulturgeschichtliche Studien zur Kindheit genommen.3

Auch Hannah Newton schließt in ihrer ursprünglich als Dissertation verfassten Monographie an diesen veralteten Befund an. Sie will die Beziehungen von Erwachsenen zu Kindern in der Frühen Neuzeit untersuchen, indem sie den ‚worst case‘ der Belastung der Eltern-Kind Beziehung, das kranke Kind, in den Fokus stellt. Herausgefordert fühlt sich die Autorin aber nicht nur durch die beiden epochemachenden familiengeschichtlichen Studien der sechziger und siebziger Jahre, sondern auch durch die geschlechtergeschichtliche Perspektive auf Kindheit und Familie, die die Rolle von Müttern (und Frauen) bei der Sorge für Kinder herausstellt und davon ausgeht, dass Jungen und Mädchen in den Familien verschieden behandelt werden. Darüber hinaus sollen medizinhistorische Untersuchungen, die eine besondere Behandlung von Kindern durch Ärzte und Volksmedizin im 17. Jahrhundert verneinen, revidiert werden. Hannah Newton konzentriert sich für ihre Untersuchung auf das von verheerenden religionspolitischen Auseinandersetzungen geprägte England des 17. Jahrhunderts. Ihre Quellen stammen ganz überwiegend aus dem Milieu der puritanischen Oberschichten. In drei großen Abschnitten werden die Ergebnisse der Studie präsentiert. Das Thema des ersten Abschnitts bildet die Wahrnehmung von Kindern als Kranke aus der Sicht von medizinischen, vor allem muttersprachlichen Traktaten sowie in Fallbeschreibungen von Ärzten, die über kranke Kinder als Patienten berichten, und Schilderungen von Eltern. Sodann rekonstruiert Newton vornehmlich anhand biographischer und autobiographischer Quellen die Beziehungen von Müttern und Vätern und anderen nahen Verwandten zu kranken und sterbenden Söhnen und Töchtern. Im dritten Teil nimmt sie die subjektive Erfahrung der kleinen Patienten selbst in den Blick.

Neben der medizinischen und emotionalen Bedeutung wird die spirituelle Dimension von Krankheit im Weltbild und im Gefühlsleben der puritanischen englischen Oberschichten im 17. Jahrhundert besonders intensiv ausgeleuchtet, so dass sie einen entscheidenden Fokus der Untersuchung darstellt. Krankheit bedrohte nicht nur das Leben des Kindes und führte oft in den Tod, sondern konnte eine Strafe Gottes oder eine Erfüllung der göttlichen Vorsehung bedeuten. Sie stellte auch eine göttliche Prüfung der Glaubensfestigkeit von Eltern und Kindern angesichts des Sterbens und des Verlusts eines Kindes dar und verlangte von den Eltern, die Kinder religiös auf das Sterben vorbereiten. Die von Erwachsenen verfassten Tagebücher, Briefe und Biographien über Krankheit und Tod ihrer Kinder müssen deshalb im Rahmen der literarisch-ästhetischen Praxis dieser Frömmigkeitsbewegung gelesen und entschlüsselt werden. An Sammlungen von Exempelgeschichten wie beispielsweise James Janeway A Token for children being an exact account of the conversion, holy and exemplary lives and joyful deaths of several young children (1671), die eine hohe Verbreitung fanden, lässt sich der Stellenwert von Kindern als „mouthpiece for his [God’s] Holy Spirit“ (S. 18) im puritanischen Milieu ablesen.4 Zugleich bildeten die breit rezipierten Erzählungen von christlicher Märtyrerschaft die Folie für die Grenzerfahrungen der Betroffenen.

Bereits 1983 hat Linda A. Pollock herausgearbeitet, dass englische Eltern ihren Kindern in der Frühen Neuzeit emotional durchaus nicht unbeteiligt gegenüberstanden.5 Newtons Studie bestätigt diese Erkenntnis, indem sie darlegen kann, dass kranke Kinder von Eltern, Verwandten und anderen Haushaltsangehörigen sorgfältig und empathisch gepflegt wurden. Auch korrigieren die Berichte über die emotionale und praktische Zuwendung einzelner Väter und deren Teilnahme an der Pflege von kranken Kindern das eindeutige Bild von Männlichkeit, das sich ausschließlich an normativen Quellen orientiert. Allerdings bieten die biografischen Quellen keinen Anlass in Zweifel zu ziehen, dass die Hauptsorge für Kinder auch in der Frühen Neuzeit in weiblicher Hand lag.

Neu sind die Einsichten, die Newton mit ihrer Untersuchung der subjektiven Erfahrungen der kranken Kinder gewonnen hat, auch wenn hierbei immer mit bedacht werden muss, dass die Kinder nie selbst geschrieben haben und die kindlichen Äußerungen durch die Erwachsenen gefiltert in die Berichte gelangten. Sorge, Pflege und Therapie konnten beides bedeuten: Mitleid, Zuwendung, Aufmerksamkeit und Kraft; oder Leid, Schmerz, Erschöpfung und Schwächung. Auch wenn die physische, emotionale und spirituelle Erfahrung der Krankheit zumeist von Erwachsenen im metaphorischen Gewand zur Sprache kommt, kann Newton uns neue Einsichten in die kindliche Erfahrungswelt des 17. Jahrhunderts vermitteln. Ähnlich wie heutige Kinder auf Schmerzen und ärztliche Behandlung reagieren, bestand auch in der Frühen Neuzeit eine enge Verbindung zwischen körperlichem und seelischem Befinden. Überformt war diese jedoch von den religiösen Überzeugungen, mit denen sie lebten. Die bedrohliche Perspektive, ohne Erlösung zu sterben und sündig in die Hölle zu kommen, gehörte ebenso dazu wie die tröstliche Vorstellung, in den Himmel hinüberzuwandern und dort zu einem späteren Zeitpunkt mit Eltern und Geschwistern wieder zusammenzutreffen. Diese Erfahrungsdimension steht heutigen Kindern in Europa in der Regel nicht zur Verfügung, denn – anders am Ende des 18. Jahrhunderts – war Religion in der Welt der kleinen Puritaner und Puritanerinnen noch „in the social air which everyone breathed together“6 (S. 19). Hannah Newton ist sich darüber im Klaren, dass ihre Untersuchung aufgrund der Quellenlage einen Ausschnitt aus den oberen Etagen der sozialen Welt des 17. Jahrhundert bietet. Ihr Bemühen, durch Berichte über kranke Kinder aus den ärmeren und weniger gebildeten Sozialschichten die Exklusivität der von ihr untersuchten Familien zu erweitern, bleibt unbefriedigend. Aber auch nicht alle Oberschichtfamilien teilten das puritanische Weltbild. Es gab katholische Frömmigkeitspraxen und auch mildere Form der protestantischen Religiosität. Newtons Studie regt insofern zu der weiterführenden Frage an, ob kulturelle Differenzen Auswirkungen auf den Umgang mit kranken und sterbenden Kindern gehabt haben.

Anmerkungen:
1 Philipp Ariès, L'enfant et la vie familiale sous l'Ancien Régime, Paris 1960 (englisch: Centuries of Childhood, New York 1962, deutsch: Geschichte der Kindheit, München 1975).
2 Lawrence Stones, The Family, Sex and marriage in England, New York 1977.
3 Beispiele aus der umfangreichen Literatur: Nicholas Orme, Medevial Children, New Haven 2003; Ralph Houlbrooke, The English Family 1440–1700,London 1984.
4 John Exalto, Gereformeerde heiligen: de religieuze exempeltraditie in vroegmodern Nederland, Nijmegen 2005.
5 Linda A. Pollock, Forgotten Children. Parent-child relations from 1500 to 1900, Cambridge 1983.
6 Laslett, Peter, The world we have lost: further explored, London 1965, S. 72.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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