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Titel
Zur Genealogie der Pädagogik. Die Neu-Erfindung der Pädagogik als ‚praktische Wissenschaft‘


Autor(en)
Schäfer, Alfred
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Heinz-Elmar Tenorth, Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die wissenschaftliche Pädagogik in Deutschland hat sich in wesentlichen Fraktionen – zum Beispiel in der geisteswissenschaftlichen Tradition, bei einigen Erziehungsphilosophen, aber auch in der sogenannten ‚kritischen Erziehungswissenschaft‘ – ihrem spezifischen disziplinären Status nach als „praktische Wissenschaft“ definiert. Nach ihrem Bezug zur Erziehungspraxis, nach ihren theoretischen oder methodischen Programmen, auch im politischen Selbstverständnis oder in den philosophischen und wissenschaftstheoretischen Referenzen kann man historisch sehr verschiedene Varianten dieses Programms und seiner Praxis finden, immer aber sind sie typisch für das „deutsche Modell“ wissenschaftlicher Pädagogik, wie Schäfer zu Recht in der vorliegenden Publikation hervorhebt (S. 22, Anm. 12) Diese Lage ist in wissenschaftstheoretischen Kontroversen der Zeit von 1965 bis etwa 1990 noch einmal intensiv diskutiert worden, mit dem Ergebnis, dass Beobachter die Etikettierung als contradictio in adiecto verstanden und die Diagnose von der „Unmöglichkeit“ einer solchen ‚Wissenschaft‘ erneuert haben. Alfred Schäfer nimmt nicht diese Kontroversen und programmatischen Reflexionen neu auf, er liefert auch keine quellenfundierte Geschichte dieses Disziplinsegments (obwohl er mit gelegentlichen Anspielungen auf ihre Rolle im Kontext universitärer Etablierung und auf ihre „hegemoniale“ historisch-gesellschaftliche Rolle solche Argumente beansprucht), er versucht sich vielmehr ausgiebig an einer Diskussion der unterschiedlichen Muster der Begründung und Selbstbegründung ‚praktischer Wissenschaft‘ seit ihrer „Erfindung“1 im ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert. Methodisch beruft er sich auf Foucaults Begriff der „Genealogie“, konzentriert sich entsprechend auf diskursive Muster, also nicht primär auf Personen2, und bündelt als „Dispositiv“ zur Einheit, wovon er ohne Anspruch auf Vollständigkeit spricht. Er sollte und will jedenfalls – aus guten Gründen, wie man lesend feststellt – nicht als Disziplingeschichte gelesen werden, obwohl man den Aufbau des Buches zunächst so deuten könnte. Aber es ist Theorieanalyse und -kritik, die man hier findet, durchgängig eher schwere Kost als inspirierende Argumentation, systematisch aufschlussreicher als historisch.

In seiner – wie das gesamte Buch – nicht sehr einfach lesbaren, sehr dem Jargon seiner meist französischen Referenzautoren verpflichteten Einleitung führt Schäfer das Problem theoretisch ein, mit dem praktische Wissenschaften, wie sie seit Herder oder Fröbel zu sehen seien, zu kämpfen haben: Sie suchen nämlich nach „fundamentalen Begründungen“, und zwar für Wissenschaft und Wirklichkeit zugleich, obwohl seit Kant feststeht, dass es hier keine „transzendentalen“, gar für Handeln und Erkenntnis einheitliche Lösungen mehr gibt, jedenfalls keine ohne Rückfall in Metaphysik begründungsfähige Lösungen. Schäfer folgt nicht diesem Strang – und begrenzt sich auf eine Abschiedsrede –, sondern der durchaus „erstaunlichen Tatsache“, dass solche Begründungen – wenn auch nur metonymisch – als „transzendentale Grundlegungen“ intendiert, „dennoch versucht wurden“, und zwar immer wieder. Er will derartige Versuche darstellen – genealogisch, das heißt als „eine Vielzahl heterogener, sich keiner rationalen Entstehungslogik fügender Herkünfte“, die von ihm „aufgerufen“ werden sollen und für die rekonstruierte Sequenz zumindest „nachvollziehbare Plausibilität“ erreichen. Praktische Pädagogik soll in drei Hinsichten verständlich werden: „als Reaktionsform auf die Grundlegungsproblematik der Moderne“, als „hegemoniale Figur“ und als Vielfalt „unterschiedlicher Begründungsmuster“, immer „im Namen eines wahren Grundes“, aber letztlich als eine wegen „des Pädagogischen“ und seiner genuinen Ambition3 „notwendig werdende Arbeit am Imaginären“, als dem Unmöglichen und nicht mehr Einlösbaren. Die Reflexion und Praxis der Erziehung suche „fundamentale“ Begründungsmuster, um die Letzt-Begründbarkeit und Einheit von Denken und Handeln (in) der Erziehung zu erhalten, als Ziel „praktischer Wissenschaft“, das er in einem begründungstheoretischen Sinne für uneinlösbar hält.

Das zweite Kapitel („Strategien der a-rationalen Positivierung des Imaginären: Reformpädagogik und Geisteswissenschaften“) zeigt, wie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit diesem Problem umgegangen wurde. Schäfer präsentiert solche Grundlegungsversuche der (deutschen) Reformpädagogik, vertreten durch Berthold Otto („organisches Denken“), Ellen Key („das Kind als göttliche Normalität“) oder Peter Petersen („sich offenbarender Geist“), identifiziert hier, wie in der geisteswissenschaftlichen Tradition die Anstrengungen, dem „transzendentalem Subjekt“ einen „empirischen Ort“ zu geben, unter anderem im „Leben“, bei Wilhelm Dilthey oder, trotz Kritik der Reformrhetorik, als „Selbstvermittlung des Geistes“ (bei Theodor Litt). Kapitel 3 will „die hegemoniale Verfestigung der ‚praktischen Pädagogik‘“ zeigen, an Hauptvertretern der an Universitäten etablierten Geisteswissenschaften, das heißt bei Herman Nohl und seinem Begriff der „Erziehungswirklichkeit“ und in Wilhelm Flitners letztlich religiös-sozial begründetem „pädagogischen Grundgedankengang“. Schäfer sieht solches Fortzeugen traditioneller Konzepte aber auch bei Kritikern der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, unter anderem bei Wolfgang Brezinka und seinem Lob der „praktischen Pädagogik“ (das er meines Erachtens begründungstheoretisch missversteht), in der kritischen Erziehungswissenschaft (die sich ihre Begründungen für Theorie und Praxis aus der kritischen Theorie gesellschaftskritisch borgt) und bei Dietrich Benner, der eine nicht-affirmative Theorie pädagogischen Handelns versucht, aber sie in einer nicht begründungsfähigen normativen Praxeologie fundiert. Das vierte Kapitel zieht ein systematisches Fazit unter der These, dass der Pädagogik neben der Einsicht in ihre gescheiterten Grundlegungsversuche nur der Weg „von der Grundlegungsrhetorik zur Rhetorizität des Pädagogischen“ und damit zu einer demokratietheoretischen Begründung ihrer praktischen Ambitionen bleibe, in der Hoffnung, „die produktive Negativität der Rhetorik“ (S. 339ff.) fruchtbar zu machen.

Das ist, theoretisch gesehen, ein erwartbares Ergebnis, auch für die Analyse der reformpädagogischen Denkform, ihre moralische Codierung von Welt und Argumenten, und auch für die Kritik der Geisteswissenschaften nicht überraschend. Gelegentlich hätte man sich gewünscht, dass der Autor eindeutige Urteile über die historische Semantik, an der er arbeitet, auch in den Haupttext genommen4 oder die allmähliche Durchsetzung „pädagogischer Correctness“ als soziale Form nicht nur am Dispositiv behauptet, sondern in seiner Wirksamkeit historisch analysiert hätte. Aber er arbeitet sich primär paraphrasierend am historischen Material ab, um immer neu zu zeigen, dass die Begründungserwartung sich nicht einlösen lässt – wenn man Erwartungen hat, wie sie Schäfer hat und unterstellt.

Im Ergebnis: Für die Gründe, Kontexte und Folgen der Etablierung der Pädagogik als Universitätsdisziplin hat er wenig Neues beigetragen, ja im Kern nur die alten, inzwischen als verkürzt erkannten, Thesen wiederholt, aber nicht einmal die vorhandene Forschung genutzt (auch nicht über die Debatten in den Humanwissenschaften um 19005), oder sich gefragt, aus welchen Gründen zum Beispiel ein Autor wie Spranger (den er vollkommen ausspart) sich an der Sperrigkeit des Problems von Historizität und Geltung schon die Zähne ausgebissen hat.6 Vollständig schweigsam bleibt Schäfer gegenüber ganz anderen Lösungen des Begründungsproblems von Wissenschaft im Kontext pädagogischer Praxis, etwa in den empirisch-experimentellen Disziplinen, die ja durchaus emphatische Praxisansprüche hatten, wenn auch technologisch grundiert. Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass das Wissen der Praktiker, nämlich der pädagogischen Profession, gar nicht zur Sprache kommt, die sich trotz des fundamentalen Begründungsdefizits, das sie kannten, handelnd durchaus zu helfen wussten, ausdrücklich kritisch gegen überbordende Reformrhetorik oder die – für sie eigentümlich irrelevanten – Ansprüche der Erziehungstheoretiker. Aber mit der Empirie des Wissens, in Profession oder System, oder der Differenz von Wissensformen kann Schäfer historisch oder theoretisch wenig anfangen. Niklas Luhmann und Eberhard Schorr zum Beispiel werden getadelt, weil sie im Blick auf das gesellschaftlich kursierende pädagogische Wissen nicht die „Metaperspektive“ – also die Begründbarkeitsfrage – einnehmen, sondern sich in ihrer Systembetreuungswissenschaft „ihre Probleme, aber auch deren Bearbeitungsraum vom Selbstverständnis gesellschaftlicher Programmatiken vorgeben“ lassen (S. 336). Systematisch gesehen erliegt Schäfer der Ironie, die er historisch als Paradox des Kritikers kennt7, der die Unmöglichkeit der Begründung zeigen kann, aber dennoch die Frage der Begründbarkeit – von und für Erkennen und Handeln – zum zentralen Thema macht und für Wissenschaft und die Wahrheit des Sozialen zu beantworten sucht, also der Tradition selbst noch angehört, die er kritisch diskutiert.

Anmerkungen:
1 Schäfer nimmt mit diesem Begriff eine These aus einem früheren – selbst diskussionsbedürftigen – Buch auf: Alfred Schäfer, Die Erfindung des Pädagogischen, Paderborn 2009.
2 Explizit und exemplarisch wird das in seiner Beanspruchung der diskursiven Muster, für die Peter Petersen steht: „Es geht also weniger um Personen als um eine mögliche Aussagenfigur, eine strategische Operation im Spektrum der Antwortversuche auf das nachkantische Problem, das sowohl die Situierung der Sozial- oder Humanwissenschaften betraf, aber zugleich damit immer auch das a-rationale Verhältnis zur wissenschaftlichen Rationalität überhaupt.“ (S. 155/156 f., Anm. 391) – mit den erwünschten Folgen: mit Petersen und seiner Rolle im NS-Staat muss er sich nicht beschäftigen.
3 Eine der Erwartungen, die Schäfer als Ziel diesem Wissenschaftstypus unterstellt, heißt zum Beispiel: „Der praktische Pädagoge, der im Rahmen einer wahren und richtigen Grundlage agiert, wird durch diese nicht nur auf eine nicht problematisierende Weise autorisiert; er wird außerdem zu einer Figur, die das mit dem wahren Grund und der wirklichen Ordnung gegebene Versöhnungs- und Erlösungsversprechen verkörpert und einzulösen ermöglicht.“ (S. 338)
4 Über den pseudodarwinistisch inspirierten Reformpädagogen Haufe sagt er beispielsweise, er liefere „eine durch keine rationale Irritation unterbrochene und sich dennoch als wissenschaftliche Aufklärung verstehende Phantasie“ (S. 221, Anm. 617); andere Denkbemühungen werden als „eher rhetorische Justierungen“ (S. 310, Anm. 865) denn als Argumente qualifiziert, „notwendige Inkonsistenz“ (S. 187, Anm. 493) stört ihn nicht, das „Problem der Konsistenz“, so an anderer Stelle, „interessiert hier gerade nicht“ (S. 203).
5 Ich denke unter anderem an Rüdiger vom Bruch / Friedrich Wilhelm Graf / Gangolf Hübinger (Hrsg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989; oder an Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1996; Bollenbeck oder Köhnke, die er intensiv nutzt, sind wichtig, sollten aber nicht allein bleiben.
6 Dafür zum Beispiel schon Werner Sacher, Eduard Spranger 1902–1933. Ein Erziehungsphilosoph zwischen Dilthey und den Neukantianern, Frankfurt am Main 1988.
7 Für Nietzsches Argumente zeigt er das jedenfalls, dass dieser den „Wahrheitsanspruch“ für sich reklamiert, den er an anderen kritisiert (vgl. S. 345, Anm. 933).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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