A. Bihrer: Begegnungen zw. d. ostfränkisch-deutschen Reich u. England

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Titel
Begegnungen zwischen dem ostfränkisch-deutschen Reich und England (850–1100). Kontakte – Konstellationen – Funktionalisierungen – Wirkungen


Autor(en)
Bihrer, Andreas
Reihe
Mittelalter-Forschungen 39
Erschienen
Ostfildern 2012: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
668 S.
Preis
€ 82,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torben R. Gebhardt, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Beziehungen zwischen England und dem ostfränkisch-deutschen Reich waren bereits häufig ein Thema der Forschung. Allerdings wurde dabei meist der Fokus auf die karolingischen Jahrhunderte oder die Zeit nach 1100 gelegt. Die wenigen Werke, die sich doch mit den dazwischen liegenden Jahrhunderten auseinandersetzten, näherten sich der mittelalterlichen Gesellschaft häufig mit einer anachronistischen Terminologie, die – selbst wenn sie sich vom nationalstaatlichen Paradigma explizit abgrenzten – dennoch vor- oder semistaatliche Gebilde als Akteure, gleichsam Formen von ‚Außenpolitik‘, in den Mittelpunkt rückten. Andreas Bihrer konzentriert sich bei seiner Studie, die die überarbeitete Fassung seiner im Wintersemester 2010/2011 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommenen Habilitationsschrift darstellt, dagegen stärker auf Ansätze der Mediävistik, die den Akteuren unterhalb der Herrschaftsebene einen größeren Stellenwert einräumen, beispielsweise Konzepte der Kulturtransferforschung.

Der Beginn der Arbeit ist vor allem der Entwicklung eines eigenen Ansatzes gewidmet. Dabei entwirft Bihrer ein Raster von vier großen Fragekomplexen, mit denen die konkreten Kontakte zwischen England und dem Reich eingefangen werden sollen: Erstens die nach den Akteuren, also wer sind die Zusammentreffenden? Der zweite Fragekomplex widmet sich der Situation der Begegnung, also wo und wie diese passiert. Die Begegnung musste nicht zwangsläufig mit einer Reise einhergehen, sondern konnte auch beispielsweise in Form eines Briefwechsels geschehen. An dritter Stelle steht die Frage nach den Transfergütern. Was wird also jeweils übernommen und was nicht? Der vierte Komplex schließlich umfasst die spätere Erinnerung an Begegnungen und die Frage, wie diese weitere Kontakte beeinflussten und über die eigentliche Kontaktsituation hinaus wirkten. Diesen Ansatz erweitert Bihrer durch den Entwurf einer neuen Kategorie: der „mittleren Distanz“. Dadurch umschifft er das Problem, dass sich die Kontaktforschung bisher vor allem entweder mit Nachbarschaft oder Fernbeziehungen befasst hat. Die „mittlere Distanz“ hingegen bietet weder Informationen aus erster, also nachbarschaftlicher Hand, noch hat sie mit den Problemen des weitgehenden Unwissens zu kämpfen, das aus einer großen Ferne beinahe zwangsläufig resultiert. Bihrer betont allerdings besonders, dass die „mittlere Distanz“ nicht die genaue Mitte zwischen einer fernen und einer nahen Beziehung darstelle, sondern stattdessen einer stetig oszillierenden Dynamik unterworfen sei, ohne jemals einen der beiden Extrempunkte zu erreichen.

Die Arbeit gliedert sich in drei große Kapitel: „Regiones“ (S. 49–226), „Regna“ (S. 227–386) und „Christianitas“ (S. 387–508). Auf der Ebene der „Regiones“ fokussiert Bihrer den Blick auf die Raumbildung, wie sie in der Forschung schon seit längerem sehr populär ist. Dabei interessiert ihn die Konstruktion von eigenen Begegnungsräumen, die „mehrere geographische Räume und diverse soziale Wirkungsfelder“ (S. 224) einschlossen. Jede Begegnung beinhaltete dabei mindestens eine Grenzüberschreitung. Dies konnte sowohl ein geographischer Grenzgang in Form der Überquerung des Kanals als auch ein sozialer in Form des Kontakts eines Klerikers mit einem Adligen sein. Besonders wichtig sind für Andreas Bihrer entsprechend mobile Akteure, wie Händler oder Pilger, deren Reisewege und -frequenz er untersucht. Am Ende steht das (natürlich erst einmal wenig überraschende) Ergebnis, dass die Zielsetzungen der Begegnungen je nach Akteur sehr unterschiedlich waren. Allerdings boten die neu geschaffenen Räume den Akteuren eine größere Bandbreite an Nutzungsmöglichkeiten. So wurde beispielsweise der Pilgerverkehr zwischen beiden Reichen zur Kultpropaganda genutzt. Dabei gilt es hervorzuheben, dass es, abgesehen von Händlern, unter allen Gruppen wesentlich seltener zu Kontakten kam, als bisher angenommen wurde. Dauerhafte Beziehungsnetzwerke konnten fast ausschließlich nur zwischen Exilanten und deren Exilorten festgestellt werden. Insgesamt blieben die Begegnungsräume hauptsächlich an die agierenden Personen gebunden und zeichneten sich entsprechend durch Kurzlebigkeit aus.

Das Großkapitel „Regna“ befasst sich mit Kontakten der Herrschaftsbereiche respektive der Herrschaftsträger, also zuallererst der Könige, aber auch des Adels. Neben den Begegnungen selbst untersucht Bihrer dafür die Verstetigungsmechanismen Geschenke, Verbrüderung und Verheiratung, um zu erarbeiten, welche Auswirkungen der Kontakt kurz- und längerfristig hatte. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass Begegnungen von Königen/Kaisern vor allem Gleichrangigkeit ausdrückten und Teil der herrschaftlichen Repräsentation, insbesondere auch gegenüber den Großen im eigenen Reich, war. Diese Begegnungen etablierten aber kein dauerhaftes Begegnungsnetzwerk. So hatten beispielsweise Geschenke nur situativ eine Wirkung. Gleiches gilt aber auch für andere mögliche Verstetigungsmechanismen. Damit stellt sich Bihrer gegen eine etablierte Forschungsposition. Lange Zeit ist beispielsweise eine ottonisch-wessexsche Allianz postuliert worden, die durch die Heirat Ottos mit Edith 929 begründet worden sei. Dies weiß Bihrer überzeugend und vor allem quellennah zu entkräften. Dabei argumentiert er zu Recht, dass an vielen Stellen ohne hinreichende Quellenbelege und mit allzu modernen Konzepten vorschnelle Schlüsse gezogen worden seien.

Als „Christianitas“ versteht Bihrer zuallererst die westliche Christenheit. In einem vergleichsweise knappen einleitenden Unterkapitel („Ansatz“) geht er deshalb auch auf die Frage nach einem Konzept von „europäischem Mittelalter“ ein, das er allerdings zu Recht für seine Fragestellung als wenig praktikabel einstuft. Stattdessen verfolgt er das Konzept einer „vorgestellten Gesamtheit aller getauften Christen“ (S. 389), die nach römischem Ritus lebten. Die Untersuchung dient vor allem dazu, die Wirkung des Austauschs zwischen ostfränkisch-deutschem Reich und England auf die gegenseitige Vorstellung jener „Christianitas“ zu ergründen. Bihrer erkennt ab dem 9. Jahrhundert eine stärkere Profilierung des jeweiligen Selbstbildes als Reaktion auf äußere Bedrohungen und die sich verbreitenden Reformbewegungen. Gegenseitige Kontakte beeinflussten es, ebenso wie das jeweilige Fremdbild, freilich kaum. Vielmehr griff man sowohl in England als auch im Reich meistens auf Bedas Kirchengeschichte zurück, ohne allerdings auf die darin beschriebene gemeinsame Herkunft Bezug zu nehmen. Eher fungierte Beda als „Wissensvorrat, der variabel verwendet und mit unterschiedlichen Intentionen verbunden werden konnte“ (S. 503). Ein die „Christianitas“ als Denkfigur betreffender Transfer fand somit zwischen beiden Reichen nur in geringem Maße statt. Vielmehr importierten beide karolingisches Gedankengut über das Westfrankenreich. Ein kulturelles Gefälle zwischen den beiden Reichen, wie es die Forschung je nach Zeitspanne wechselnd mit englischer oder ostfränkisch-deutscher Überlegenheit gesehen hat, kann Bihrer in diesem Zusammenhang ebenfalls widerlegen. Die so interpretierten zeitgenössischen Aussagen waren eher konstruierte Gefälle, um zu propagieren, dass ein Importbedarf aus dem vermeintlich weiter entwickelten Reich bestand. Insgesamt gab es also kaum einen Einfluss auf die gegenseitige „Christianitas“-Vorstellung und ebenso wenig ein Interesse daran, diese zu vereinheitlichen.

Bihrers kontaktgeschichtliche Untersuchung kann vor allem drei Bereiche näher beleuchten: (1.) Hinter einer Kontaktaufnahme stand meist keine langfristige Absicht, die ein weitreichendes Beziehungsnetz etablieren sollte. Dabei gab es auch keine festen Bilder vom Anderen. Stattdessen unterlag das Fremdbild einem hohen Grad an Variabilität, der durch verschiedene Intentionen und Phasen von Desinteresse und Interesse am Anderen beeinflusst wurde. (2.) Argumentative Nutzungen von Kontakten lassen sich ebenfalls erstaunlich selten nachweisen. So wurde bei Begegnungen nur in Ausnahmefällen auf frühere Treffen oder eine gemeinsame Abstammung verwiesen. Dies überrascht besonders, da in beiden Reichen Bedas Kirchengeschichte als Referenztext für das Wissen über den jeweils Anderen diente, dessen Nutzung allerdings je nach Intention ebenfalls sehr variabel war. Auch bei Übernahmen von Artefakten spielte die Herkunft keine argumentative Rolle. Erst die Nachwelt nahm stärkeren Bezug auf Begegnungen und Transferobjekte, nutzte diese allerdings ebenfalls intentionsgesteuert. (3.) Begegnungen hatten Auswirkungen auf die Vergemeinschaftungsformen der Beziehungsfelder „Regiones“, „Regna“ und „Christianitas“. Die jeweilige Relevanz divergierte allerdings. Bei den „Regiones“ konstituierte die Begegnung einen gemeinsamen Raum oder erhielt ihn unter Umständen aufrecht. Demgegenüber formierten sich die „Regna“ erst einmal unabhängig von Kontakten zu anderen Herrschern. Diese Kontakte dienten lediglich zur Festigung des Vorrangs im eigenen Herrschaftsgebiet. In der „Christianitas“ waren Begegnungen ebenfalls vor allem für die eigene Kirche relevant. So hatten Transfergüter, wie die Regularis Concordia zur Vereinheitlichung der Klosterregeln, zwar durchaus großen Einfluss, wurden aber den eigenen Bedürfnissen angepasst. Die von Bihrer zu Beginn definierte „mittlere Distanz“ bietet für die Ergebnisse den passenden Erklärungsrahmen. Denn diese Beziehungen sind nicht Teil eines Prozesses hin zu einem gegenseitig umfangreicheren Verständnis der Reiche oder einer aneinander angepassten „Christianitas“, sondern wurden im jeweiligen Moment argumentativ genutzt.

Andreas Bihrers gedruckte Habilitationsschrift zeugt von breiter Quellenkenntnis und Belesenheit. Er tritt etablierten Forschungspositionen kritisch gegenüber, die er durch eigene Re-Lektüren oft überzeugend zu korrigieren weiß. Das Resultat stellt nicht nur eine umfassende Bearbeitung eines bisher unzureichend behandelten Themas dar, sondern zeigt einleuchtend die Beschränkung, die sich die Forschung durch Verwendung moderner Konzepte bislang selbst auferlegt hat. Das Werk ist gut erschließbar und klar strukturiert. Es bleibt zu hoffen, dass durch Bihrers Studie das Interesse an der Beziehung zwischen England und dem Reich auch für die nachkarolingischen Jahrhunderte wieder zunimmt.