J. Böhler u.a.: Gewalt und Alltag im besetzten Polen

Titel
Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939–1945.


Herausgeber
Böhler, Jochen; Lehnstaedt, Stephan
Reihe
Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 26
Erschienen
Osnabrück 2012: fibre Verlag
Anzahl Seiten
566 S.
Preis
39,80 Euro
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melanie Hembera, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Während des Zweiten Weltkrieges war das alltägliche Leben der Bevölkerung Polens in hohem Maße durch Gewalterfahrungen gekennzeichnet. Für diese Gewalt waren nicht nur die nationalsozialistischen Machthaber verantwortlich, sondern ebenfalls die Sowjetunion, die bis Mitte 1941 die östlichen Teile Polens gemäß des geheimen Zusatzprotokolls des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts okkupiert hatte.

Betrachtet man die Forschungslage zur nationalsozialistischen und sowjetischen Besatzungspolitik, werden deutliche Differenzen zwischen der östlichen und westlichen Forschungslandschaft offenbar. Während in Polen eine umfassende wissenschaftliche Beschäftigung mit der NS-Besatzung bereits nach Kriegsende einsetzte, nahm sich die westliche Forschung dieser Thematik erst allmählich in den 1960er Jahren an.1 Das Ende des Kommunismus bot nun polnischen Forschern die Möglichkeit, sich verstärkt der Geschichte Polens unter sowjetischer Besatzung zu widmen, während die westliche, allen voran die bundesdeutsche Historiographie, sich seit den 1990er Jahren auf der Basis nun zugänglicher Quellenbestände auf unterschiedliche Facetten der nationalsozialistischen Okkupationspolitik fokussierte.2

Um „Forscher zu vernetzen und eine gemeinsame Perspektive herzustellen, die erlaubt, jeweilige Besonderheiten und Gemeinsamkeiten zu identifizieren“ (S. 9), organisierte daher das Deutsche Historische Institut in Warschau in Zusammenarbeit mit dem Danziger Museum des Zweiten Weltkrieges (Muzeum II Wojny Światowej) im Jahr 2009 eine mehrtägige Konferenz in Warschau3, deren wichtigste Ergebnisse nun in diesem Sammelband vorgelegt werden.

Der Band, der darauf abzielt, drei methodische Perspektiven (Alltagsgeschichte, Geschichte der Gewalt und der Vergleich zwischen Drittem Reich und Sowjetunion) in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen, gliedert sich thematisch in vier Themenkomplexe: „Neue Herrschaftsformen“, „Neue Eliten“, „Ethnisierung des Alltags“ sowie „Widerstand und Kampf“. Neben einer sprachlich gelungenen und inhaltlich stringenten Einleitung des Mitherausgebers Stephan Lehnstaedt umfasst der Sammelband summa summarum 23 Beiträge internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Im ersten Teil, in welchem es um die Organe der Besatzungsregime geht, die nach dem Einmarsch die Macht in den besetzten Gebieten ausübten, liegt der Fokus auf den spezifischen Methoden von Herrschaft beider Regime. So gibt Daniel Boćkowski einen Überblick über die sowjetische Rechtsprechung in den okkupierten östlichen Territorien, die erst nach einigen Besatzungsmonaten aufgebaut worden war. Insgesamt erwies sich die Gesetzgebung der Sowjets als außerordentlich repressives System: Die Strafen dienten nicht nur erzieherischen Bestrebungen und der Ausschaltung von „Volksfeinden“, sondern so hatten sich etwa auch die Richter und Volksbeisitzer bei ihren Urteilen am „sozialistischen Rechtsbewusstsein“ (S. 35) zu orientieren. Wie verheerend sich Besatzungsinstitutionen und deren Politik auf die einheimische Bevölkerung auswirken konnte, zeigt auch Alexa Stiller, die der Frage nachgeht, wie sich die Volkstumspolitik des „Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums“ (RKF) ganz konkret auf den Alltag der betroffenen Personen in den annektierten Ostgebieten auswirkte und welchen Gewalterfahrungen diese ausgesetzt waren. Stiller verweist in diesem Zusammenhang jedoch auch auf die „Dynamik der Gewalt“ (S. 66) innerhalb der Gesellschaft, die von der Volkstumspolitik ausging. So wurden die Volksdeutschen, anfänglich noch Objekte dieser Politik, häufig rasch selbst zu Akteuren der Gewalt.

Die neuen Eliten, die sich als Folge der Besetzung herausbildeten, stehen im Zentrum des zweiten Themenkomplexes. So beschäftigt sich Piotr Kołakowski mit dem NKVD, dessen Maßnahmen sich verstärkt gegen Mitglieder der polnischen Untergrundbewegung richteten. Vom NKVD durchgeführte Verhaftungen und Deportationen führten mitunter dazu, dass der polnische Untergrund bis 1941 fast gänzlich in den östlichen Grenzgebieten zersetzt wurde. Den erzwungenen Elitenwechsel durch die sowjetischen Machthaber beschreibt Marek Wierzbicki. Die an die Stelle der örtlichen Vorkriegseliten durch die Sowjets eingesetzten Personen verfügten in den seltensten Fällen über die nötigen Erfahrungen und Kenntnisse; viel entscheidender für die Zugehörigkeit zur Elite war nun die „persönliche Akzeptanz seitens der sowjetischen Machthaber“ (S. 182). Allerdings weist Wierzbicki darauf hin, dass die Einflussmöglichkeiten seitens der Bevölkerung vor Ort auf die Funktionsweise der sowjetischen politischen Eliten de facto größer war als von Moskau vorgesehen, was zur Folge hatte, dass viele Parteibeschlüsse auf den unteren Ebenen nicht in dem Maße implementiert wurden, wie dies intendiert war. Darüber hinaus wirkte sich das niedrige intellektuelle und moralische Niveau der neuen Eliten mitunter äußerst negativ auf die Ökonomie in den besetzten Ostgebieten aus.

Den Auftakt im dritten Teil des Sammelwerkes bildet der Beitrag von Felix Ackermann, der sich am Fallbeispiel der Stadt Grodno mit Ethnizität als Ordnungskategorie befasst. Die Kriterien der Nationalität bzw. Volkszugehörigkeit dienten sowohl den deutschen wie auch den sowjetischen Besatzern als Orientierung zur Erfassung der Bevölkerung. Ackermann verweist jedoch darauf, dass auch die örtliche Bevölkerung sich zunehmend anhand nationaler Kategorien im Alltag wahrnahm. So kam es ab 1941 unter nationalsozialistischer Herrschaft zu einem „partiellen Aufbrechen von Konfliktlinien etwa zwischen Juden und Polen sowie zwischen Polen und Weißrussen“ (S. 254). Der Thematik der sogenannten Wiedereindeutschungsfähigen widmet sich Isabel Heinemann. Anhand von Egodokumenten rekonstruiert sie die Erfahrungen und Selbstwahrnehmungen von ins Deutsche Reich verschickten Polen, die meist im Spannungsfeld zwischen vermeintlicher Privilegierung und Gewalt standen: Die als „wiedereindeutschungsfähig“ Eingestuften mussten häufig Demütigungen und Beleidigungen seitens Reichsdeutscher über sich ergehen lassen; die Beteuerungen des NS-Regimes, dass sie im Altreich als Deutsche behandelt werden würden, erwiesen sich in den meisten Fällen als nichtig. Heinemann weist in diesem Zusammenhang auch auf die Grenzen bzw. Brüchigkeit des Volksgemeinschafts-Konzepts hin. Adam Sitarek und Michał Trębacz zeichnen in ihrem Aufsatz „Drei Städte. Besatzeralltag in Lodz“ die drei Lebenswelten der deutschen, und vor allem der polnischen und jüdischen Bevölkerung unter NS-Okkupation in der zur Germanisierung bestimmten Stadt Lodz nach. Demgegenüber beschreibt Tarik Cyril Amar den Alltag in Lemberg allerdings mittels eines diachronen Vergleichs beider Besatzungsregime und zeigt so Gemeinsamkeiten, Unterschiede sowie die Wechselwirkungen zwischen dem sowjetischen und dem nationalsozialistischen Besatzungsregime auf.

Der letzte Abschnitt befasst sich schließlich mit „Widerstand und Kampf“ aus unterschiedlichen Perspektiven. Äußerst interessant ist der Beitrag von Daniel Brewing, der die deutsche Partisanenbekämpfung und die daraus resultierende Gewalterfahrung für die zivile Bevölkerung im ländlichen Raum in den Blick nimmt. Durch die Verflechtung der Partisanenbekämpfung zu anderen Politikbereichen und auf Grundlage einer umfassenden Feinddefinition – die nun auch Frauen inkludierte – wurden ab 1942 zur Wiederherstellung der Sicherheit viele kleinere Aktionen gegen die örtliche polnische Bevölkerung geführt, wobei brutal gegen jeden denkbar möglichen Unruhestifter vorgegangen wurde, was schließlich eine „Veralltäglichung von Gewalt im ländlichen Raum“ (S. 519) zur Konsequenz hatte.

Wenngleich immer noch viele weiße Flecken in Bezug auf die beiden Okkupationsregime, deren mörderische Politik und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die einheimische Bevölkerung im besetzten Polen bestehen, gibt der vorliegende Band wichtige Impulse für eine künftige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Forschungsthematik und verdeutlicht nicht zuletzt die Notwendigkeit komparatistischer Ansätze auf diesem Gebiet.

Anmerkungen:
1 Einen Überblick über die ältere polnische Forschung zur NS-Okkupation in Polen liefert: Józef Frieske (Hrsg.), Materiały do bibliografii okupacji hitlerowskiej w Polsce. Piśmiennictwo polskie za lata 1944–1968, Warszawa 1978. Zu den frühen Veröffentlichungen der westlichen Historiographie vgl. insb.: Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939–1945, Stuttgart 1961; Gerhard Eisenblätter, Grundlinien der Politik des Reichs gegenüber dem Generalgouvernement 1939–1945, Phil. Diss., Frankfurt am Main 1969.
2 Den Auftakt innerhalb der bundesdeutschen Forschung bildete: Götz Aly/ Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991. Es folgte eine Vielzahl weiterer Studien, die sich im Besonderen mit dem Zusammenhang zwischen NS-Besatzungspolitik und dem Judenmord in bestimmten Regionen des besetzten Polens befassten. Vgl. hierzu exemplarisch: Dieter Pohl, Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939–1944, Frankfurt am Main 1993. Demgegenüber findet die sowjetische Okkupation innerhalb der westlichen Historiographie bis dato wenig Beachtung; vgl. exemplarisch: Jan Tomasz Gross, Revolution from Abroad. The Soviet Conquest of Poland's Western Ukraine and Western Belorussia, Erw. Neuausgabe, Princeton 2002 [Erstausgabe 1988], deutsch: Und wehe, du hoffst…. Die Sowjetisierung Ostpolens nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939–1941, Freiburg im Breisgau 1988. Polnische Veröffentlichungen zur sowjetischen Okkupation vgl. exemplarisch: Albin Głowacki, Sowieci wobec Polaków na ziemiach wschodnich II Rzeczypospolitej 1939–1941, 2. Aufl., Łódź 1998; Piotr Chmielowiec (Hrsg.), Okupacja sowiecka ziem polskich 1939–1941, Rzeszów 2005; Włodzimierz Bonusiak, Polityka ludnościowa i ekonomiczna ZSRR na okupowanych ziemiach polskich w latach 1939–1941. „Zachodnia Ukraina“ i „Zachodnia Białoruś“, Rzeszów 2006.
3 Markus Roth: Tagungsbericht Gewalt und Alltag im besetzten Polen. 20.11.2009-22.11.2009, Warschau, in: H-Soz-u-Kult, 30.06.2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3188 (15.02.2013).

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