M. G. Esch: Parallele Gesellschaften und soziale Räume

Cover
Titel
Parallele Gesellschaften und soziale Räume. Osteuropäische Einwanderer in Paris 1880–1940


Autor(en)
Esch, Michael G.
Reihe
Campus Historische Studien 63
Erschienen
Frankfurt 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
482 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Serrier, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

„Im Allgemeinen sind die Nihilisten arm, fast alle erhalten daher Geld aus Russland; einige haben keine anderen Einkünfte als die der Société de secours mutuel des étudiants russes. Das Leben der Nihilisten ist sehr einfach, sie leben kärglich bei einigen ihrer Landsleute, die sich als Gastwirte in Paris niedergelassen haben, treffen sich abends bei dem einen oder anderen von ihnen und ernähren sich von Tee und Brot“1, so ein Überwachungsbericht der Pariser Präfektur an das französische Innenministerium aus dem Jahre 1887 über politisch beobachtete russische Immigranten im Stadtviertel Val-de-Grâce zwischen dem Studentenviertel Quartier latin und dem Künstlerressort Montparnasse. Als dreißig Jahre später Pariser Polizisten vor dem Hintergrund der restriktiven Gesetze über den Straßenhandel im Juni 1920 die ostjüdische Kleinhändlerin Rose Rosemblum verjagen wollten, bezeichnete diese die Beamten als „vaches“ und „boches“ (französische Schimpfwörter für „Bulle“, resp. „Deutsche“) und bewarf sie mit gefüllten Fischen. Bis zur nächsten Ordnungswidrigkeit verkaufte Rosemblum jedoch weiterhin alltäglich ihre eingelegten Heringe in der rue des Rosiers. Eine ganz andere soziale Migrationswirklichkeit als im Marais widerspiegeln hingegen die Berichte aus dem noblen XVI. arrondissement unweit des Bois de Boulogne etwa zu dem Opium-Selbstmord der Marie Raffalovitch, der eleganten Ehegattin des Direktors der Banque russo-asiatique und Vorsitzenden des Croix rouge russe en France.

Es ist die Fülle an solchen alltagsgeschichtlichen Einblicken in das Leben der osteuropäischen Einwanderer in Paris von den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend der deutschen Okkupation im Jahre 1940, die den besonderen Reiz von Michael G. Eschs Studie ausmacht. Der Verfasser präsentiert einen umfangreichen Querschnitt aus mehr als 31.000 einzelnen Beschreibungen vornehmlich aus polizeilichen Archiven. Wie in seinen früheren Forschungen zur deutschen und polnischen Bevölkerungspolitiken in den Jahren 1939–1950, weiß Esch die Bedeutung der administrativen Kategorien, mit denen Migranten belegt und eingeordnet wurden, sehr differenziert einzuschätzen. Auf der einen Seite sind sie ihm eine zentrale, gleichsam unabdingbare Quelle, auf der anderen decken sie, wenn überhaupt, nur partiell und mit großen Verzerrungen die multiplen, wandelbaren und adaptionsfähigen Migrantenidentitäten, die für eine große Einwanderungsmetropole wie Paris charakteristisch sind.

Ausgangspunkt der Untersuchung sind vier ausgewählte, exemplarische Pariser Stadtviertel: Saint-Gervais im Marais mit seiner dichten ostjüdischen Migration und der überdurchschnittlichen Präsenz des Kleingewerbes, das Arbeiterviertel Clignancourt nördlich von Montmartre und Pigalle, das Val-de-Grâce auf dem linken Seine-Ufer, und die noble Wohngegend um La Muette. So werden neben den Arbeitern/Arbeiterinnen, Handwerkern und Gewerbetreibenden auch studentische Einwanderer sowie Aristokraten und Bourgeois in einem umfassenden Panorama berücksichtigt, auch wenn aus den beiden ersten Polizeirevieren viel mehr Quellen vorliegen, die die alltäglichen Kontakte konfliktueller und nichtkonfliktueller Natur zwischen den osteuropäischen Einwanderern und den Einheimischen festhalten, was die unterschiedlichen Aneignungsformen des öffentlichen Raums zeigt. Saint-Gervais als zentrales Gebiet des Marais wurde nicht selten als „plecl fun paris“ betrachtet, obwohl die meisten ostjüdischen Immigranten nicht aus Schtetln im engeren Sinn, sondern aus Warschau, Bukarest, Odessa kamen und auch nicht in erster Linie – wie manchmal vermutet – Pogromflüchtlinge waren. Esch schildert die quartier-typischen Formen ethnischer Subökonomie, verfolgt die konjunkturellen Schwankungen der Selbstbezeichnungen als russisch oder polnisch vor 1914, zeigt, wie der Druck auf die Loyalitätsbekenntnisse und die identitären Selbstverortungen während des Ersten Weltkrieges wuchs, als die Identifizierung von Juden mit Deutschen aus der Zeit der Dreyfus-Affäre reaktiviert wurde. Aus der Seltenheit polizeinotorischer Konflikte zwischen Mietparteien schließt er auf eine Aneignung des Viertels in doppelter Form, durch eine tiefgehende Integration bei gleichzeitiger Beibehaltung religiös-kultureller Differenz. Trotz vieler Gemeinsamkeiten lassen sich in Clignancourt auch andere Tendenzen des „Einheimisch-Werdens“ nachzeichnen. Der „Cercle des émigrés russes de Montmartre“ hatte zwar seinen Sitz in einer Synagoge und war dennoch eine weltliche, sozialrevolutionäre Organisation. Häufiger Umzug in die angrenzenden banlieues verrät hier den Traum vom Eigenheim, während die Umkehrung der Proportionen zwischen „immigrationsinternen“ und „gemischten“ Konflikten die wachsenden Verflechtungen mit der französischen Umgebung aufweisen. Andererseits spiegelt sich das grundsätzliche Vertrauen in Formen landsmannschaftlicher Solidarität in der nationalen Organisation rumänischer oder russischer Arbeiter wider. Im Val-de-Grâce dagegen vollzieht sich Vergemeinschaftung häufiger in einem „abstrahierten öffentlichen Raum“ dank des bei Studenten, Künstlern und Intellektuellen stärker ausgeprägten Bewusstseins nationaler, konfessioneller, ethnischer und parteilicher Zugehörigkeit, wie die 1920 gegründete Association des ouvriers polonais en France „Pilsudski“ beispielhaft zeigt. Insgesamt kennzeichnet sich das osteuropäische Migrantenleben zwischen Quartier latin und Montparnasse als ein vielfältiges Spektrum, das von sozialrevolutionären Russen über zionistische Ostjuden bis zu monarchistisch gesinnten rumänischen Studenten reicht. In diesen politisierten Milieus kam es nicht selten zu Freundschaften mit französischen Einheimischen. In La Muette, wo sich in den 1880er-Jahren die Witwe des ermordeten Zaren Aleksandrs II., in den 1920ern aber der sozialrevolutionäre Ministerpräsident der Februarrevolution Kerenskij niederließen, dominierten hochqualifizierte Berufe, elitäre Selbstverständlichkeit und paternalistische Protektionsformen, die eine viel diskretere Aneignung des städtischen Raums förderten.

Polizeiquellen weisen insgesamt 712 migrantische und „gemischte“ Organisationen und Einrichtungen in dem untersuchten Zeitraum auf: Freundesgesellschaften, landsmannschaftliche Netzwerke, nach der „Grande Guerre“ und der Russischen Revolution auch vermehrt Veteranenvereine. Während Identifizierungsmotive nach Konfession, Herkunftsregion, Familie, Klasse, Geschlecht, Viertel stets eine Rolle spielen, ist es dem alltagsgeschichtlichen Impetus der Arbeit zu verdanken, dass die üblichen migrationswissenschaftlichen Zuschreibungen zwar genauestens registriert, jedoch stets einer wohltuenden wissenschaftlichen Skepsis unterzogen werden. In Anlehnung an Alf Lüdtkes formulierte Einsichten über die Konstruktion öffentlicher und privater politischer Räume, möchte der Verfasser viel lieber den „Eigen-Sinn“ der Akteure ins Blickfeld rücken. So werden die Integrationswege zwischen Ein- und Auswanderung nicht entlang vordefinierter Immigrantengruppe wie bei den community studies definiert. Unbeirrt von der gegenwärtigen Omnipräsenz des Erinnerungsparadigmas orientiert sich der Autor genauso wenig an dem Platz, den diese oder jene Emigrantengruppe im kollektiven Gedächtnis der Aufnahmeländer zugewiesen bekommen hat. Unter Verweis auf Bourdieus grundlegende Reflexionen zum Verhältnis zwischen „physischem, sozialem und angeeignetem physischen Raum“ stehen bei Esch die komplexen, mehrdeutigen Prozesse des „Einheimisch-Werdens“ in unterschiedlichen sozialen Milieus in dem Mittelpunkt. Die Arbeit „versucht – in Ergänzung der bisher geleisteten Arbeiten – eine möglichst weitgehende Annäherung an die Formen, in der sich die wirklichen Migranten und Migrantinnen […] ihre Umgebung kognitiv und physisch aneigneten“ (S. 10). Eschs quellenkritisch erprobter Blick weiß um die Komplexitätsreduktion des migrantischen Lebens durch die polizeiliche Brille. Das Verdienst der Arbeit liegt in der sowohl unmittelbar faktischen als auch immer kontrapunktischen Verwendung der reichlich zitierten Diensttagebücher, Einbürgerungsdossiers und Überwachungsberichte. Deviante Verhaltensformen, einmal gegen den Strich gelesen, lassen auch immer die Qualität der Interaktionen und das wachsende Selbstverständnis der Integration erkennen.

Anmerkung:
1 Archives Nationales F7 12519, Schreiben der Préfecture de Police an das Ministère de l’Intérieur, 26.06.1887, S. 61.