M. Cattaruzza: Sozialisten an der Adria

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Titel
Sozialisten an der Adria. Plurinationale Arbeiterbewegung in der Habsburgermonarchie


Autor(en)
Cattaruzza, Marina
Reihe
Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 24
Erschienen
Anzahl Seiten
180 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Rutar, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg / Imre Kertész Kolleg, Jena

Die Übersetzung von Marina Cattaruzzas in zwei Auflagen (1998, 2001) erschienenem Buch „Socialismo adriatico. La socialdemocrazia di lingua italiana nei territori costieri della Monarchia asburgica: 1888–1915“ war überfällig. Als Band 24 der Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient ist der deutschen Variante, dreizehn Jahre nach dem italienischen Original, gebührliche Aufmerksamkeit sicher. Von der Autorin waren zum Thema bislang nur Teilaspekte in deutscher Sprache zugänglich.1

Der Band verwirklichte ein ehrgeiziges Projekt: Marina Cattaruzzas Forschungen zu den „Sozialisten an der Adria“ in der Zeit der Habsburgermonarchie umfassen geographisch die Stadt Triest und ihr Hinterland, das Görzer Gebiet, Istrien und Dalmatien, also Regionen, die heute zu den drei Staaten Italien, Slowenien und Kroatien, gehören. Entsprechend kompliziert gestalten sich die Quellenlage und deren Hebung. Die Anfänge der Sozialdemokratie in Triest und der Sozialismus in Istrien und Dalmatien bis zum Ersten Weltkrieg erfahren hier erstmals eine Gesamtschau. Cattaruzza schließt die südslawische Sektion der Partei in Triest ein und wertet auch hier bislang unberücksichtigte Quellen aus. Auch dreizehn Jahre später bleibt dies beispielhaft: Die Forschung zu diesem Grenzraum, insbesondere die lokale, bewegt sich nach wie vor überwiegend in den einzelnen nationalstaatlichen Rahmen.

Die Studie enthält acht Kapitel, von denen das letzte – wie auch die Einleitung – für die deutsche Übersetzung neu verfasst wurde. Die übrigen sieben Kapitel wurden hier und da „punktuell“ (S. 8), in recht eklektisch anmutender Weise durch neuere Literatur ergänzt. Die ersten drei Kapitel beschreiben die Anfänge der Arbeiterbewegung im österreichischen Küstenland, die sozialdemokratische Bewegung und die Gründung der Parteien. Das vierte Kapitel ist der südslawischen Parteisektion gewidmet. Das fünfte Kapitel fokussiert auf den Sozialismus in Istrien, das sechste auf die italienischsprachige Partei in Triest, und das siebte schließlich nimmt den wichtigen Teilaspekt des Umgangs mit der nationalen Frage unter die Lupe. Die Schlussfolgerungen im achten Kapitel bündeln die Ergebnisse und betten sie in die Forschung zur deutsch-österreichischen Sozialdemokratie ein, kaum aber in jene zu den anderen peripheren Regionen der Monarchie. Forschungen dazu existieren immerhin in ähnlich kursorischer Weise wie die zur hier untersuchten Grenzregion.

In der späten Habsburgerzeit bildete das Küstenland zwar verwaltungstechnisch eine Einheit, die historischen Entwicklungen in den verschiedenen Gebieten waren aber sehr unterschiedlich verlaufen. Tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten traten innerhalb der Sozialdemokratie bezüglich der nationalen Frage zutage. Während in Istrien die Überlegenheit der italienischen Nationalität gegenüber der kroatischen noch fast wie ein Naturgesetz schien – die internationalistische Programmatik der Partei traf hier auf Mentalitäten, die interessante und manchmal merkwürdige Mischformen sozialistisch-nationalistischen Denkens hervorbrachten –, unternahmen die Triester Sozialisten die größte Anstrengung, jedes Element nationaler Spezifizität zu eliminieren. In der Tat repräsentierten die Triester innerhalb der gesamten österreichischen Sozialdemokratie das kohärenteste Beispiel des Internationalismus – und stellen schon deshalb einen lohnenswerten Forschungsgegenstand dar.

Das italienische, das slowenische und das sozialdemokratische Triest konkurrierten um die symbolische Kontrolle des städtischen Raumes, und die Sozialisten waren dabei die weniger aggressiven Akteure. Die Triester Arbeiterbewegung war von einer Parteiorganisation nach deutsch-österreichischem Modell geprägt, die aber auf eine national gespaltene Gesellschaft traf und auf eine Arbeiterklasse mit nur mäßig ausgeprägtem Interesse, den Erwartungen an organisatorisches Verhalten und verinnerlichte Werte zu entsprechen. Während sie im Vergleich zum Beispiel zu Italien, wo die Bildung der Arbeiter viel schlechter und die Sozialdemokratie kleinbürgerlich geprägt war, dennoch hervorragend da stand, erschien sie nach deutsch-österreichischen Maßstäben instabil und chaotisch.

Cattaruzza geht allerdings – dies ist fast der einzige festzustellende inhaltliche Mangel – nicht explizit auf die Tatsache ein, dass die Slowenen in Triest eine eigene sozialdemokratische Organisation gründeten, was immerhin eine bemerkenswerte Parallele in den Organisationsstrukturen der Slowenen zu den Italienern aufzeigt: Beide agierten im Küstenland in einer eigenen Sektion, die sich gegen die anderen Sektionen der jeweiligen nationalen Gruppe in Österreich – im Trentino bzw. in Ljubljana – abgrenzten und die lokale Identität betonten.

Die Autorin bettet die „Sozialisten an der Adria“ in überzeugender Weise in österreichische und europäische Kontexte ein. Der breite Erziehungsanspruch der österreichischen Sozialdemokratie, die Sozialisation der Arbeiterschichten, scheiterte in Triest, und in den Quellen ist die Existenz eines Stereotyps des südländischen Arbeiters zu erkennen, der mehr zur Rebellion tendiere als zur Organisation, unfähig, sich den Formen von Disziplin und Selbstkontrolle, die die deutsch-österreichischen und zuvörderst die reichsdeutschen Genossen vorlebten, anzupassen. Dieses Urteil teilten paradoxerweise Polizeifunktionäre, Sozialdemokraten und Arbeitgeber. Cattaruzza identifiziert den Ursprung dieser Stereotypisierung: Die Masse der Triester Lohnarbeiter formierte sich in einem äußerst kurzen Zeitraum und kam zeitgleich mit dem Aufstieg der Arbeiterparteien in Österreich überhaupt erst in die Stadt. Ethnisch und in Bezug auf die Herkunftsorte war sie sehr heterogen. Im boomenden Triest überwogen instabile und unqualifizierte Arbeitsplätze, und auch das Organisationsniveau der Arbeitgeberseite war niedrig. Es blieb kaum die Zeit für eine Konsolidierung des sozialdemokratischen Milieus, geschweige denn einer solide organisierten Arbeiterbewegung. Der immer massiver ausgetragene nationale Konflikt zwischen Italienern und Slowenen trug ebenfalls dazu bei, dass die internationalistische Sozialdemokratie sich in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg kaum mehr über den entstandenen „harten Kern“ an Aktivisten hinaus entwickelte.

Im Vorwort der italienischen Ausgabe bezeichnete Cattaruzza ihr Werk als Abschluss eines mehrjährigen Forschungsweges, der die bürgerlichen und proletarischen Kontexte der Triester Gesellschaft zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert rekonstruieren wollte und den komplexen Realitäten des Küstenlandes eine angemessene Verortung jenseits einseitiger Verzerrungen, nationaler und lokaler Paradigmen und ideologischer Vereinfachungen verschaffen sollte (S. 10). Dies ist ihr überzeugend gelungen.

Seither hat sie sich in der Tat anderen Forschungsfeldern zugewandt, ist der italienischen Ostgrenze aber trotzdem treu geblieben.2 Exemplarisch sind ihre Forschungsinteressen in einem der Autorin von ihren Schülerinnen und Schülern gewidmeten Band gebündelt, welcher gleichfalls manche Studie erstmals in deutscher Übersetzung enthält.3

Beim Vergleich der italienischen und der deutschen Ausgabe fallen einige Kleinigkeiten auf, die dennoch programmatisch wirken, da sie die Studie aus ihrer ursprünglich doch starken lokalen Verankerung herauslösen: Zum einen enthält der deutsche Titel das Adjektiv „plurinational“, welches von jeher mit der Habsburgermonarchie an sich verbunden wird. Im italienischen Original hieß es hingegen „die Sozialdemokratie italienischer Sprache im Küstenland“. Im Original erschien es bedeutsam, die Einbeziehung auch nicht-italienischen Quellenmaterials hervorzuheben. In der deutschen Ausgabe hingegen ist beispielsweise der Dank an den Triester Historiker Sandi Volk für die Übersetzung slowenischer Dokumente der Kürzung anheim gefallen.

Nun liegt also in deutscher Sprache vor, was vor dreizehn Jahren die Integration der südwestlichen Peripherie des Habsburgerreiches in die Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bedeutete. Ziel der Übersetzung sei es, so die Autorin im Vorwort, nicht zuletzt, „die Geschichte des ‚Küstenlandes‘ stärker in die Geschichte Zisleithaniens zu integrieren und neue Forschungen zu diesem komplexen und faszinierenden Gebiet anzuregen“ (S. 7). Genau dies aber ist im letzten Jahrzehnt bereits geschehen, und Marina Cattaruzzas Verdienst hierbei ist beträchtlich. Es ist bedauernswert, dass sie zwar hie und da auf allgemeinere neuere Forschungen zum weiteren Themenkomplex verweist, die auf lokaler wie auch internationaler Ebene seither entstandenen Studien zum habsburgischen Küstenland aber – etwa die von Vanni d’Alessio, Aleksej Kalc, Borut Klabjan, Eduard Winkler oder Rolf Wörsdörfer – und speziell zur plurinationalen Sozialdemokratie – etwa die der Rezensentin – nicht rezipiert. Nicht nur hätte dies die deutsche Ausgabe zeitgemäßer erscheinen lassen, es hätte auch einen schönen Kreisschluss bedeutet: Das italienische Original hat in signifikantem Maße bereits geleistet, was die Autorin nun der deutschen Übersetzung ihrer wichtigen Studie wünscht. Und insgesamt hat sie Recht: Eine Erneuerung der Geschichte der Arbeit, der Arbeiter und ihrer politischen Bewegungen stünde in der Tat an.

Anmerkungen:
1 Vgl. Marina Cattaruzza, Italienische Sozialisten in Österreich, in: Angelo Ara / Eberhard Kolb (Hrsg.), Grenzregionen im Zeitalter der Nationalismen. Elsass-Lothringen/Trient-Triest, 1870–1914, Berlin 1998, S. 227–256; dies., Die sozialistische Bewegung in den italienischsprachigen Teilen Österreich-Ungarns, in: Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung 21 (1998), S. 207–224; dies., „Organisierter Konflikt“ und „Direkte Aktion“. Zwei Formen des Arbeitskampfes am Beispiel der Werftarbeiterstreiks in Hamburg und Triest (1880–1914), in: Archiv für Sozialgeschichte 20 (1980), S. 325–355.
2 Ihre Studie: L’Italia e il confine orientale: 1866–2006, Bologna 2007, erschien 2011 in der 4. Auflage.
3 Sacha Zala (Hrsg.), Die Moderne und ihre Krisen. Studien von Marina Cattaruzza zur europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festgabe zu ihrem 60. Geburtstag, hrsg. in Verbindung mit Sabine Rutar und Oliver J. Schmitt unter Mitarbeit von Franziska Ruchti, Göttingen 2012.

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