K. Kühlem (Hrsg.): Carl Duisberg (1861–1935)

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Titel
Carl Duisberg (1861–1935). Briefe eines Industriellen


Herausgeber
Kühlem, Kordula
Reihe
Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 68
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 766 S.
Preis
€ 118,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Gehlen, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien

Das Interesse an Unternehmern hat in der Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahren spürbar zugenommen. Im Gegensatz zu früheren Ansätzen, die – häufig hagiographisch – den Unternehmer gleichsam als ökonomischen Genius betrachteten oder ihn im Rahmen der Bürgertumsforschung auf seine Funktion als Wirtschaftsbürger reduzierten, nehmen neuere Betrachtungen eine umfassendere Perspektive ein: Sie betten die ökonomischen Rationalität der Akteure in politische und gesellschaftliche Prozesse ein und beschreiben derart ein Wechselspiel zwischen individuellen Handlungen und übergeordneten Umweltbedingungen. Diese Ansätze erlauben es, den Unternehmer als Typus, der bislang vornehmlich die Unternehmensgeschichte interessierte, auch stärker in anderen historischen Forschungszusammenhängen zu berücksichtigen. Die von Kordula Kühlem verantwortete Edition von Briefen des Chemie-Unternehmers Carl Duisberg macht dies erneut deutlich.

In einer konzisen Einleitung schildert Kühlem Duisbergs maßgebliche Karrierestationen, führt in Problemfelder seines Wirkens innerhalb und außerhalb des Unternehmens ein und verknüpft das individuelle Handeln mit wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen, ohne dabei freilich im engeren Sinne biographische oder analytische Ziele zu verfolgen. Carl Duisberg wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf, doch nicht zuletzt der Ehrgeiz seiner Mutter Wilhelmine ermöglichte ihm das Studium der Chemie in Göttingen und Jena. 1883 fand der frisch promovierte Chemiker eine Anstellung bei den Farbenfabriken Elberfeld, vorm. Friedr. Bayer & Co.; dort wurde er von Carl Rumpff protegiert, dem Schwiegersohn des Firmengründers Friedrich Bayer. Rumpff prägte nicht nur den Berufsweg des jungen Chemikers, sondern auch mittelbar sein Privatleben. 1888 heiratete Duisberg Rumpffs Nichte Johanna „Hans“ Seebohm und wurde derart zum Mitglied der Inhaberfamilie des expandierenden Unternehmens. Ins Direktorium wurde er schließlich 1900 berufen, nachdem er zuvor die Reorganisation des Laboratoriums und den Aufbau des neuen Chemiewerks in Leverkusen konzipiert und verantwortet hatte; 1912 stieg Duisberg zum Generaldirektor des Unternehmens auf. Bereits 1904 hatte Duisberg Gedanken zum Zusammenschluss deutscher Chemieunternehmen entwickelt, die zunächst nicht vollständig umgesetzt wurden, aber schließlich 1925 in der Gründung der I.G. Farbenindustrie AG mündeten, deren erster Aufsichtsratsvorsitzender Duisberg wurde.

Im selben Jahr wählte ihn der Reichsverband der deutschen Industrie zu seinem Präsidenten; das Amt hatte er bis 1931 inne. Es krönte gewissermaßen Duisbergs verbandspolitische Laufbahn, die in den Verbänden der chemischen Industrie begonnen hatte, im Hansa-Bund fortgeführt wurde und unter anderem das Engagement in Kriegsgesellschaften während des Ersten Weltkriegs, eine kurzzeitige Mitgliedschaft im Leverkusener Arbeiter- und Soldatenrat sowie Mandate in Reparationskommissionen und dem vorläufigen Reichswirtschaftsrat einschloss. Darüber hinaus widmete sich Carl Duisberg nachdrücklich der Förderung der Wissenschaften und engagierte sich beispielsweise in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, der Helmholtz-Gesellschaft, der Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft und der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Für seine Tätigkeiten wurde er mit zahlreichen Ehrendoktorwürden ausgezeichnet.

Allein das weitgefächerte Spektrum seiner Tätigkeiten in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik macht Duisberg zu einem bedeutenden Zeugen seiner Zeit. Die zahlreichen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Strukturbrüche im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erlebte er nicht nur, sondern gestaltete sie zu einem Gutteil mit: den Übergang von der Monarchie zur Demokratie, veränderte Arbeitsbeziehungen, industrielle Kriegsführung, weltwirtschaftliche Strukturverschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg, Inflation, soziale Konflikte während der Weimarer Zeit und die Weltwirtschaftskrise – um nur die wichtigsten zu nennen.

Duisberg reflektierte diese Entwicklungen sehr genau und legte darüber implizit wie explizit Zeugnis ab. Sein Nachlass im Bayer-Archiv Leverkusen ist umfangreich, allein die zielgerichtet angelegte Autographensammlung, aus der die meisten der edierten Dokumente stammen, umfasst mehr als 20.000 (meist diktierte) Briefe. Wenn nun ‚lediglich‘ 259 Schreiben in die vorliegende Edition aufgenommen wurden, deutet dies allenfalls auf eine dokumentarische (und nachvollziehbare!) ‚Unvollständigkeit‘ hin, nicht aber auf sachliche oder zeitliche Einschränkungen. Die Briefe stammen aus dem Zeitraum von 1882 bis 1935, dem Todesjahr Duisbergs. Sie decken, soweit der Rezensent dies beurteilen kann, das gesamte Schaffensspektrum des Industriellen ab und zeigen den individuellen Duisberg mit seinen Eigenheiten und Präferenzen ebenso wie Duisberg als zeittypischen Repräsentanten des Großbürgertums, der Wissenschaft und der Wirtschaft. Derart verknüpft die Edition gekonnt individuelle Perspektiven mit zeitgenössischen Problemen und ihrer Rezeption.

Beispielsweise schrieb Duisberg am 4. August 1914 an den Chemieprofessor Ludwig Knorr, der Erste Weltkrieg werde „fürchterliche Opfer fordern“, kritisierte besonders die Außenpolitik und Haltung Englands und erläuterte anschließend die (negativen) Folgen der Mobilmachung für das Werk in Leverkusen: unterbrochene Lieferbeziehungen, Arbeitskräftemangel, Auftragsrückgang und vieles mehr. Im persönlichen Teil des Briefes ging er darauf ein, wie seine Kinder die neue Situation wahrnahmen; so verpflichtete sich seine Tochter Hildegard beim Roten Kreuz, nachdem ihr Verlobter Hans Hasso von Veltheim eingezogen worden war. In diesem Schreiben schlug Duisberg demnach den Bogen von großen außenpolitischen Fragen der Zeit über die ökonomische Lage bis hin zu persönlich-familiären Angelegenheiten (S. 186ff.). Dieses Muster findet sich in zahlreichen Briefen, auch in jenem, den Duisberg am 6. Oktober 1930 an seinen in den USA weilenden Sohn Walther schrieb und in dem er auch über den Wahlerfolg der NSDAP vom September 1930 räsonierte. Viele „bürgerliche Elemente, Professoren und Studenten“ hätten sich als Folge der Wirtschaftskrise radikalisiert. Diese werde sich seiner Ansicht aber nach noch verschlimmern; die nötigen Arbeitsplätze könnten nur geschaffen werden, wenn Deutschland zur „Individualwirtschaft“ zurückkehre statt den „Staatssozialismus“ weiterzuverfolgen (S. 638–643).

Es ist hier nicht der Ort, die Vielfalt der Briefinhalte ausführlich darzulegen, doch der Industrielle Duisberg beschränkte sich keineswegs auf rein unternehmerische Sachfragen, sondern seine Darlegungen dürften zahlreichen geschichtswissenschaftlichen Teildisziplinen von Nutzen sein: der Politik- und Diplomatie-, der Wirtschafts- und Unternehmens-, der Sozial- und Kultur- sowie der Wissenschaftsgeschichte. Die sorgfältige Auswahl der Briefe verdient ebenso Lob wie die gesamte Aufmachung der Edition, die alle Ansprüche erfüllt, die an diese Textgattung zu stellen ist. Die Briefe sind mit sachgerechten und weiterführenden Anmerkungen etwa zu historischen Problemen, Personen oder Eigenheiten der Überlieferung versehen und durch ein Personen- und Institutionenregister erschlossen.

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