R. Beck: Ein Hexenprozess 1715–1723

Cover
Titel
Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Ein Hexenprozess 1715–1723


Autor(en)
Beck, Rainer
Erschienen
München 2011: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
1008 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Bendlage, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

In zahlreichen deutschen Städten mehren sich seit einigen Jahren die Bemühungen, den während der Hexenprozesse angeklagten Menschen, zumeist Frauen, aber auch viele Kinder und Männer, Denkmäler zu setzen und sie zu rehabilitieren. Jüngstes Beispiel ist die Stadt Bamberg, in der Anfang des 17. Jahrhunderts fast 1.000 Menschen ihr Leben lassen mussten. Die Stadt Freising, bekannt für einen der letzten Hexenprozesse in Deutschland, hat bisher kein solches Denkmal. Mit seiner tausendseitigen Studie über diesen Hexenprozess zwischen den Jahren 1715 und 1723 hat der Konstanzer Historiker Rainer Beck, der ‚Meister‘ der dichten Beschreibung, den Freisinger Opfern, „die man im Zuge dieses Verfahrens in den Selbstmord trieb oder exekutierte“ (S. 21), jedoch ein gleichermaßen beeindruckendes wie bedrückendes literarisches Denkmal gesetzt. Die Freisinger Quellen – etwa 330 umfangreiche Vernehmungsprotokolle – blieben lange unbearbeitet, weil die Prozesse, so der Autor, nicht in die ‚klassischen‘ Muster eines Hexenprozesses mit seinen mehrheitlich weiblichen Opfern einzuordnen sind, denn die Verfahren richteten sich hauptsächlich gegen Kinder, gegen spielende und herumstreunende Kinder.

Gleich die ersten Sätze nehmen den Leser mit in fremde Lebenswelten, ohne, wie es in Einleitungen wissenschaftlicher Darstellungen üblich ist, komplexe Fragestellungen und Forschungskontroversen auszubreiten. Der Autor beschreibt in einer ihn auszeichnenden klaren Sprache zwischen Distanz und Nähe seine erste Begegnung mit den Quellen, die schließlich in eine zehnjährige Forschungsarbeit mündete, deren Komplexität hier allenfalls angedeutet werden kann. Rainer Beck argumentiert jedoch auf der Höhe der historischen Forschung, setzt sich mit kommunikationstheoretischen Erklärungsmodellen auseinander und leuchtet das Geschehen unter soziokulturellen, biographischen, psychologischen und nicht zuletzt theologischen Aspekten aus, ohne die Akteure aus dem Blick zu verlieren und ohne voreilig moderne Vorstellungen auf vormoderne Gesellschaften zu übertragen. Er geht der einfachen Frage nach, wie eine Gesellschaft am Vorabend der Aufklärung dazu kam, spielende und phantasierende Kinder und Jugendliche vornehmlich aus ärmeren Familien oder bettelnde Waisen einzusperren und hinzurichten. Er zeigt, wie Hexereiverfahren in zeitgenössische Zusammenhänge integriert waren, welche Kommunikationsstrukturen sich in ihrem Inneren beobachten lassen und welche Praktiken und Erfahrungen unter dem Vorzeichen der Hexerei tatsächlich verhandelt wurden. Die Verhörprotokolle geben überraschende Einblicke in die Phantasiewelten von Kindern, die durchdrungen waren von angsteinflößenden Zauber- und Fabelwesen, und die zugleich verstörend sind, weil sich die Beschuldigten auffällig und bereitwillig selbst gefährdeten. Was auf den ersten Blick wie eine willkürliche Justiz gegenüber unliebsamen Bettelkindern, Waisen und Gelegenheitsarbeitern erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein systematisches Verfahren, das nicht unwesentlich von Selbst- und Fremdbezichtigungen der Kinder beschleunigt schließlich seine grausame Dynamik entfalteten konnte, eingebettet in eine komplexe konfessionell und ständisch gegliederten Gesellschaft, „die ihre spezifischen kulturellen und sozialen Merkmale aufwies und – durch die Präsenz des geistlichen Hofstaats – sich etwas religiöser gab als es in konfessionellen Kulturen ohnehin der Fall war“ (S. 33).

Die Monographie behandelt zwei Phasen der Freisinger Verfolgungen mit über hundert Verdächtigen und insgesamt 28 Verhaftungen: Die erste Phase beginnt mit dem ersten Prozess zwischen 1715 und 1717, die zweite Prozesswelle mit der Wiederaufnahme der Verhöre zwischen 1721 und 1723, die deutlich weitere Kreise zog. Seinen Anfang nahm das Theater des Schreckens im Herbst 1715 mit einem Kinderspiel auf einer Wiese vor den Toren Freisings und der Behauptung einiger Beteiligter, ein gewisser ‚Trudenfanger‘ – der elfjährige Betteljunge Andre, der sich auf den Straßen und im Umland herumtrieb – habe Mäuse gezaubert, ein Hexereidelikt, dass seit dem 17. Jahrhundert vermehrt Kindern zugeschrieben wurde (S. 63). Am Ende des ersten Aktes stand ein Hexereibekenntnis, das mit einem banalen und ganz unhexerischen Akt der Veräppelung religiöser Praktiken begonnen hatte und schließlich in ein diabolisches Geschehen umgedeutet wurde. Die erste traurige Bilanz nach fast zwei Jahre dauernden Verhören: Der Hauptverdächtige hatte sich nach langen Verhören und Folter in seiner Verzweiflung das Leben genommen; ein Kind verendete an den Folgen der Gefangenschaft und der Härte der Verhöre in seiner Zelle; drei weitere Kinder, allesamt Betteljungen zwischen 12 und 14 Jahren, wurden hingerichtet, an einem ganz gewöhnlichen Markttag mit einigem Getriebe, wie der Autor lakonisch bemerkt und so sehr eindrücklich auf das uns heute befremdlich erscheinende Nebeneinander von alltäglichen Verrichtungen und dem Grauen der Hochgerichtsbarkeit verweist. Es gab durchaus gewalttätigere Prozesse, und es lässt sich ein gewisser Legalismus im Prozessverlauf erkennen, den man in Freisingen beachtete – um aber letzten Endes, so der Autor, trotzdem einen miserablen Prozess zu führen. Die Richter und Ankläger zeigten eine ausgeprägte Bereitschaft, kindliche Gerüchte und Aktionen, die auch für Zeitgenossen noch im Rahmen gewöhnlicher Alltagsinterpretamente verhandelbar waren, in eine spekulative Wirklichkeit zu transportieren und unter Anwendung diskreditierender, dämonologischer Konstrukte zu deuten und die kindlichen Akteure zu strafen.

Während in der ersten Phase die Aussagen der Beschuldigten noch gewisse kindliche Züge aufwiesen, zeichnete sich der zweite Prozess durch zunehmende Härte und immer schwerwiegendere Beschuldigungen gegenüber den Kindern aus. Jetzt ging es um klassische Hexereidelikte wie den Pakt mit dem Teufel, den Verkehr mit dem Bösen, den Hexentanz, den Wetter- und Schadenszauber sowie die Hostienschändung. Ausgelöst wurde dieser Prozess durch gescheiterte ‚Resozialisierungsmaßnahmen‘ zweier Jugendlicher, die man nach dem ersten Prozess in die Obhut von Pflegefamilien und zur religiösen Unterweisung in die Verantwortung der ansässigen Franziskaner gegeben hatte. Überhaupt nahmen die Geistlichen in der zweiten Phase einen zunehmenden Einfluss auf das Verfahren. Bis zum Jahre 1722 fielen noch einmal zehn Kinder und Jugendliche – diesmal auch Kinder aus der Stadt – dem Verfolgungseifer der Freisinger Obrigkeit zum Opfer, die sich einem ganz realen Netzwerk und einer verschworenen Gemeinschaft des ‚Bösen‘ auf der Spur wähnte, für die besonders Kinder anfällig gewesen sein sollen.

In geschlossenen und ausführlichen Exkursen über Druden und Alraunen, über die Besonderheiten des Inquisitionsprozesses, der eben nicht nur eine Spezialität der Kirche war, aber auch über Peergroups, ‚topische‘ Erzählnarrative und die Bedeutung frühneuzeitlicher Engel, Teufel, die Lüge, die Sünde, das Lachen und die Hostienverehrung sowie über das barocke Theater und zeitgenössische Erziehungslehren entfaltet der Autor nicht nur die Alltagswelten herumziehender Kinder, sondern auch den Deutungshorizont ihrer Ängste und Hoffnungen, aber auch die Praxis der frühneuzeitlichen Justiz und den Strafvollzug. Die „Suggestibilität“ der Richter und ihre unscharfen Kriterien sind ein zentrales Kennzeichen der Befragungen und Verhöre sowie die fehlende Reflexionsleistung wie etwa das Ausblenden der ständigen Angst der Beschuldigten. Das Gericht operierte im Rahmen der Legalität unabhängig davon, ob es der Wahrheitsfindung diente. In Freising durchzog ein grenzwertiger Umgang mit dem Gesetz und damit auch ein hausgemachtes Problem das Verfahren: Die Unzulänglichkeit der Richter, ihre Desorientierung und Dysfunktionalität und schließlich das Fehlen jeglicher Selbstreflexivität: die Unterlassung, so Beck resümierend, ist der soziologische Ort, der das berüchtigte Amalgam von Banalität und Bosheit hervorbrachte, „das Menschen, deren man sich bemächtigt, zu Objekten der eigenen Willkür degeneriert“ (S. 865). Rainer Beck benennt die Opfer dieser ‚Unterlassungen‘, aber er beschreibt sie auch als handelnde Subjekte, die im Kontext ihrer Erfahrungswelten zwischen Hoffnung und Verzweiflung ihre Handlungsoptionen nutzten. Die lange Dauer der Verfahren, die Widerrufe der Kinder und die Selbstmorde im Turm zermürbten die Beteiligten. Das ganze Ausmaß der Verzweiflung und der Ausweglosigkeit dokumentiert ein Brief, den ein Junge mit Hilfe seines Beichtvaters vor seiner Hinrichtung aufsetzte und den Beck in Gänze wiedergibt. Ihn zu kürzen erschien ihm „unangemessen“ (S. 744).

Das Ende der Prozesse kam zögerlich, als sich der Kreis der Verdächtigten zunehmend auf Kinder von heimischen Handwerkern auszudehnen und der Konsens innerhalb der städtischen Führungsschichten zu bröckeln begann. Die beklagten Kinder wehrten sich und verweigerten die Geständnisse, der bischöfliche Hofrat sah plötzlich Verfahrensmängel und hegte Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen. Mit der Beendigung des Verfahrens machte sich jedoch weder die Einsicht in die Fehlerhaftigkeit der Anschuldigungen noch Empörung oder Solidarität mit den Betroffenen breit, denn, so Beck, „bekanntlich orientierten sich gesellschaftliche Krisen begleitende Ein- oder Ausschlussverfahren und Stigmatisierungsprosse nicht oder nicht zwingend an Prinzipien menschlicher Verantwortung, sozialer Gerechtigkeit und der Verfolgung der Wahrheit“ (S. 890). Die entlassenen Kinder wurden, um Gerede in der Stadt zu unterbinden und den gottesfürchtigen Bewohnern den Anblick der geschundenen Kinder zu ersparen, aus der Stadt gewiesen. In Freisingen hatte man jetzt überdies wichtigeres zu tun: Das tausendjährige Bistumsjubiläum im Jahre 1724 war vorzubereiten. Die Kinderhexenprozesse fanden dabei keine offizielle Erwähnung, die Festprediger betonten hingegen die Liebe des Bischofs für seine Gemeinde, der sein Bistum ‚gerettet‘ und den Körper der Stadt vom Bösen gereinigt habe.

Das beeindruckende Werk von Rainer Beck ist ohne Frage eine Herausforderung für den Leser und erfordert einige Geduld. Doch die Mühe wird belohnt, weil man lernen kann, wie vergangenes Handeln durch Einbettung in den historischen Kontext und den zeitgenössischen Horizont für uns heute plausibel und nachvollziehbar wird. Wie die Studie in das zunehmend größer werdende Feld der Hexenforschung einzuordnen ist, bleibt abzuwarten. Die immer wieder beklagte Widersprüchlichkeit und zuweilen Beliebigkeit der Erklärungen für die Ursachen der Verfolgungen interessieren Beck nur am Rande, weshalb der wissenschaftliche Apparat übersichtlich gehalten ist. Ihm geht es primär um die Lebenswirklichkeiten und Alltagserfahrungen in einer katholischen Bischofs- und Residenzstadt am Vorabend der Aufklärung und die Frage, wie sich diese Gesellschaft der Gültigkeit ihrer jeweiligen Konstrukte und imaginären Realitäten versicherte. Mit der Erinnerung an die verfolgten Kinder hält uns der Autor zugleich einen Spiegel vor, denn die fatale Dynamik von Ein- und Ausschlussverfahren und die ‚Imagination des Bösen‘ sind nicht nur ein Kennzeichen vormoderner Gesellschaften.

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