G. R. Überschär (Hg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht

Titel
Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943-1952


Herausgeber
Ueberschär, Gerd R.
Reihe
Fischer Geschichte, Die Zeit des Nationalsozialismus
Erschienen
Frankfurt am Main 1999: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
319 S. m. Fotos u. Dok.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Eltzschig

"Eine empfindliche Lücke in der Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg" werde durch das Buch geschlossen, heißt es im Klappentext zum vorliegenden Sammelband, und tatsächlich sind "die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten" trotz ihrer immensen Bedeutung als zeitgeschichtliche und rechtsgeschichtliche Ereignisse ebenso wie als Quellen zur NS-Geschichte ein stark vernachlässigtes Terrain. Die Erwartungen, die Klappentext und Untertitel wecken, erfüllt der vorliegende Band allerdings nicht. Zunächst sind nicht "die alliierten Prozesse" das Thema des Buches. So werden die vielen hundert französischen und englischen Verfahren nur mit einigen Halbsätzen bedacht. Das Buch widmet sich hingegen vor allem den Nürnberger Prozessen, nämlich dem Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher sowie im zweiten Abschnitt den US-amerikanischen sogenannten Nachfolgeprozessen. Ergänzend dazu werden im dritten Teil das Internationale Tribunal für den Fernen Osten, die Dachauer Prozesse und die sowjetischen Prozesse gegen deutsche Kriegsgefangene thematisiert. Doch auch die Nürnberger Prozesse, die hier in ihrer Gesamtheit zum erstenmal systematisch dargestellt werden, können die Autoren in ihren knappen Aufsätzen beileibe nicht erschöpfend abhandeln. So erweist sich das Buch zwar als nützliche und kompakte Einstiegsliteratur, zumal eine sinnvolle Auswahlbibliographie und ein knapper Dokumententeil den Band komplettieren. Die bestehenden Forschungslücken zu schließen, dazu bedarf es jedoch weiterer Anstrengungen.

Der einleitende Aufsatz von Lothar Kettenacker zur "Behandlung der Kriegsverbrecher als anglo-amerikanisches Rechtsproblem" beschreibt den verschlungenen Pfad nach Nürnberg. Deutlich wird allerdings, daß weniger "Rechtsprobleme" als politische Aspekte diesen Weg beeinflußten. Während zunächst standrechtliche Verfahren geplant wurden, setzte sich erst spät das Konzept eines rechtsstaatlichen Prozesses durch, weil man fürchtete, Vergeltungsmaßnahmen würden die Stabilität der Besatzungsherrschaft gefährden. Auch Peter Steinbach beschreibt in seinem Überblicksbeitrag zum Hauptkriegsverbrecherprozeß die Vorgeschichte. Er betont, daß die Forderung nach einer Verurteilung nationalsozialistischer Kriegsverbrecher auch vom deutschen Widerstand erhoben worden war. Dieser Umstand, aber auch die Form des Verfahrens, wie auch die einzigartige Ungeheuerlichkeit der behandelten Verbrechen machten alle "Siegerjustiz"-Vorwürfe hinfällig. In Steinbachs Aufsatz kommt die weit über rechtliche Aspekte hinausgehende Bedeutung des Prozesses zum Ausdruck. Die Unmengen eindeutigen Belastungsmaterials beeinflußten nicht nur den Zeitgeist in Nachkriegsdeutschland. Das Prozeßmaterial ist zudem ein wichtiger Fundus für die zeitgeschichtliche Forschung. Zu diesen analytischen Aufsätzen gesellen sich zwei weitere, die eher atmosphärische Einblicke in den Hauptkriegsverbrecherprozeß aus der Sicht von Beteiligten gewähren. Rosemarie Papadopoulos-Killius läßt drei ÜbersetzerInnen zu Wort kommen und Thomas Fitzel schildert exemplarisch an der französischen Auschwitz-Überlebenden Marie ClaudeVaillant-Couturier die Schwierigkeiten und Bewältigungsformen von BelastungszeugInnen, die vor der Aufgabe standen, das unbeschreibliche Grauen der Verbrechen, deren Opfer sie geworden waren, darzustellen.

Der anschließende Block über die Nachfolgeprozesse ist das eigentliche Herzstück des Buches. Hier standen die zweite Garnitur des NS-Staates, aber auch kleinere Chargen vor Gericht. Diese Prozesse, die schon zeitgenössisch stark im Schatten des Hauptkriegsverbrecherprozesses standen, gerieten in den 50er Jahren vollends aus dem Blick. Auch die historische Forschung hat das Material dieser Prozesse bislang stark vernachlässigt. Den Autoren des Sammelbandes ist das nicht anzulasten. Doch auch ihre Artikel beruhen nur zu geringen Teilen auf eigener Forschung. Nur wenige Autoren haben sich an die originale Überlieferung des Prozeßmaterials herangewagt. In der Regel arbeiten die Autoren mit auszugsweisen Dokumentationen, vor allem der von der US-Regierung veröffentlichten "Grünen Serie" und in der DDR erschienenen Kompilationen. Die Aufsätze haben, wie in solchen Bänden üblich, ein unterschiedliches Niveau. Alle Artikel stellen jedoch zumindest die wichtigsten Basisinformationen zu den Nachfolgeprozessen zusammen, nennen Angeklagte und Gerichtspersonal, die Anklagepunkte und die Urteile und haben dadurch einen Handbuchwert. Zum Teil vermißt man aber vertiefende Literaturhinweise. Auch Angaben zur Quellenlage sind nur in Ausnahmefällen vorhanden. Geschmälert wird der Wert der deskriptiveren Artikel noch, wenn sich Fehler einschleichen, wie im ersten Aufsatz von Wolfgang U. Eckart zum Ärzteprozeß, der sich bei der Strafmaßzuteilung von zwei Angeklagten irrt (Hermann Becker-Freyseng und Herta Oberheuser wurden nur zu zwanzig Jahren Haft, nicht zu lebenslänglich verurteilt) und auch nur eine unvollständige Aufstellung der behandelten Verbrechen angibt.

Die einzelnen Beiträge können im Rahmen dieser Rezension nicht ausführlich erörtert, sollen hier aber kurz angerissen werden. Eckarts Darstellung zum Ärzteprozeß folgt durch Friedhelm Kröll eine erste Betrachtung des wenig beachteten Milch-Prozesses, des einzigen Folgeprozesses mit nur einem Angeklagten. Die bedeutende Rolle des Multifunktionärs Erhard Milch war im Hauptkriegsverbrecherprozeß offenbar geworden, wo er als Entlastungszeuge für Göring aufgetreten war. Der anschließende Aufsatz von Rudolf Wassermann zum Juristenprozeß ist vor allem rechtlichen Erörterungen gewidmet. Wir erfahren einiges über spätere gescheiterte Versuche der Bearbeitung von Justizverbrechen. Die Inhalte des Prozesses selbst geraten darüber sehr in den Hintergrund. Als einer der wenigen bedient sich Johannes Tuchel für seine kenntnisreiche Darstellung des Prozesses gegen Angehörige des Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamtes der Originalquellen. Im Prozeß wurde deutlich, daß der Hauptangeklagte Oswald Pohl dem nach dem Reichssicherheitshauptamt wichtigsten Amt der SS vorstand. Der Flut von Beweisen zum Trotz, die die Anklage zu Verbrechen in den Konzentrationslagern vorbringen konnte, beharrte Pohl auf seiner Unschuld. Als einer der letzten wurde er 1951 in Landsberg hingerichtet.

Mit dem Prozeß gegen Friedrich Flick und andere, der von Klaus Drobisch untersucht wird, begann die Zeit der milden Urteile infolge des Kalten Krieges. Flick, zu sieben Jahren verurteilt, führte die Geschäfte aus der Haft weiter. 1951 wurde er, wie die meisten anderen Nürnberger Verurteilten, durch John J. Mc Cloy begnadigt. Andere Industrieprozesse wurden gegen Spitzenkräfte der IG Farben (dargestellt von Bernd Boll) und der Firma Krupp (wiederum Friedhelm Kröll) geführt. Themen waren auch hier u.a. die Raubzüge der Konzerne und die Ausbeutung von "Sklavenarbeit", so auch im IG Farben-Werk Auschwitz-Monowitz. Die Urteile gegen Industrievertreter waren allgemein sehr niedrig. Es hätte "ein Hühnerdieb damit zufrieden sein können", äußerste sich der Chefankläger aus dem IG Farben-Prozeß Josiah DuBois, auf dessen veröffentlichte Erinnerungen sich Bernd Boll in seiner informativen Analyse stützen kann. Der konstatierte Zusammenhang zur veränderten weltpolitischen Lage ist zweifellos richtig. Nicht einmal die Manager des Krupp-Konzerns, der wie kein anderer für die enge Verbindung von Rüstungswirtschaft und Politik im NS-Staat stand, wurden wegen Verbrechen gegen den Frieden oder Vorbereitung eines Angriffskrieges verurteilt. Hier beginnen im Grunde erst spannende Forschungsfragen danach, wie sich diese Zeitumstände konkret auf die Prozesse und die Urteilsfindung ausgewirkt haben.

Im Gegensatz zu den Industriellen konnten die Verurteilten im "Einsatzgruppen-Prozeß", den Rolf Ogorreck und Volker Rieß untersuchen, nicht auf Milde hoffen. Der Hauptangeklagte Otto Ohlendorf hatte die Weltöffentlichkeit schon mit seinem Auftritt im Hauptkriegsverbrecherprozeß geschockt, wo er unumwunden zugegeben hatte, daß unter seiner Führung 90000 Menschen ermordet worden waren. Ein nahezu unbekannter Prozeß wurde gegen Angehörige des SS-Rasse- und Siedlungs-Hauptamts und anderer volkstumspolitischer Dienststellen durchgeführt. Detlev Scheffler macht in seiner Skizze des Prozesses deutlich, daß hier vor allem die Entführung ausländischer Kinder zur Debatte stand, während die Bedeutung einzelner Angeklagten als Vordenker des Generalplans Ost vom Gericht verkannt wurde. Zwei Prozesse galten ausschließlich Wehrmachtsangehörigen: Im sogenannten OKW-Prozeß (tatsächlich gehörten nur drei Angeklagte zum OKW), den Wolfram Wette zusammenfaßt, ging es darum, den Freispruch für "Generalstab und OKW", der im Hauptkriegsverbrecherprozeß lediglich aus formalen Gründen erfolgt war, durch eine nachfolgende Verhandlung zu relativieren. Nun wurden elf Generäle wegen Kriegsverbrechen und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" ins Gefängnis geschickt. Außerdem standen im Verfahren gegen die Südostgeneräle, den Beate Ihme-Tuchel analysiert, Befehlshaber vor Gericht, die für die berüchtigte Geiselmordpolitik auf dem Balkan verantwortlich waren. Das Gericht hatte sich mit der Schwierigkeit auseinanderzusetzen, daß das Instrument der Repressalie einerseits als kriegerische Konvention durchaus anerkannt war, die exzessive und rassistische Praxis der Wehrmacht aber jede gewohnheitsrechtliche Dimension sprengte. Erst in der Genfer Konvention von 1949 wurden Geiselnahmen dann grundsätzlich verboten.

Der mit Abstand größte und sicherlich einer der interessantesten Nachfolgeprozesse war der "Wilhelmstraßenprozeß", in dem ein breites Spektrum Angeklagter versammelt war. Vor allem standen ehemalige Mitglieder des Auswärtigen Amtes vor Gericht, aber etwa auch die ehemaligen Reichsminister Darré, Schwerin von Krosigk und Lammers, die führenden SS-Männer Gotttlob Berger und Walter Schellenberg oder der für Raubgoldtransaktionen zuständige Vizepräsident der Reichsbank Emil Puhl und der Direktor der Dresdner Bank Karl Rasche. Als Zeuge trat beispielsweise Hans Globke auf, der versuchte seinen angeklagten Mitstreiter Wilhelm Stuckart, vormals Staatssekretär im Innenministerium und Co-Autor Globkes beim Kommentar der Nürnberger Gesetze, zu entlasten. Ein wichtiges Beweisdokument war das Protokoll der Wannsee-Konferenz, deren einzige überlieferte Fassung bei den Akten des Auswärtigen Amtes erbeutet worden war. Die konzentrierte Darstellung dieses Mammutprozesses von Rainer A. Blasius gehört zu den besten Aufsätzen in diesem Band. Eindrucksvoll liest sich wie in der westdeutschen Politik und Gesellschaft breite Kampagnen zur Rehabilitierung der AA-Mitarbeiter, allen voran des ehemaligen Staatssekretärs Ernst v. Weizsäcker, einsetzten. Doch gerade dieser vielschichtige Prozeß ist auf den gut zehn Seiten, die jedem Nachfolgeprozeß gewidmet sind, nicht genügend zu bearbeiten. Über die Verfahren gegen Berger, Lammers oder Puhl erfahren wir beispielsweise so gut wie nichts.

Im Dritten Block werden dann weitere Prozesse von Dachau bis Tokyo in den Blick genommen. Hier wäre sicherlich auch der Ort gewesen, um die britischen oder französischen Nachkriegsprozesse unterzubringen (von den polnischen, niederländischen, dänischen usw. Verfahren ganz zu schweigen). Das Internationale Tribunal für den Fernen Osten, das Pendant zum Hauptkriegsverbrecherprozeß, wird für den vorliegenden Band von Robert B. Herde zum erstenmal in deutscher Sprache beschrieben. Interessant wäre sicherlich auch ein Blick auf das Verfahren gegen den japanischen General Tomoyuki Yamashita gewesen, dessen Todesurteil wegen der Vernachlässigung von Aufsichtspflichten in den Nachfolgeprozessen von Nürnberg als Präzedenzfall herangezogen wurde.

Ute Stiepani muß die 489 Dachauer Prozesse zwangsläufig summarisch abhandeln. Die besondere Bedeutung dieser Prozesse habe darin gelegen, daß sie dem exkulpierenden Argument, in Nürnberg seien "die Kriegsverbrecher" abgeurteilt worden und die breite Masse habe mit diesen Verbrechen nicht viel zu tun gehabt, entgegengewirkt hätten. Gerd R. Ueberschär betrachtet "die sowjetischen Prozesse gegen deutsche Kriegsgefangene" - nicht gegen Zivilisten. Insgesamt wurden 37000 Kriegsgefangene verurteilt. Auch in seinem Beitrag können in erster Linie nur die juristischen Aspekte und die politischen Hintergründe gewürdigt werden. Die Prozesse hielten rechtsstaatlichen Normen nicht stand. Die Inhalte der Verhandlungen, zu denen etwa die bekannteren Prozesse von Minsk und Charkow gehören, die Verbrechen deutscher Soldaten im Osten also, gehen in seiner Darstellung unter. Ein Ausblicksbeitrag schließt den Sammelband ab: Heribert Ostendorf untersucht "die Bedeutung der Nürnberger Prozesse für die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen".

Die hohen Ansprüche, die an die Nürnberger Prozesse gelegt wurden, nämlich nicht nur vergangenes Unrecht ahnden, sondern auch zukünftiges Recht zu formulieren, konnten diese nur bedingt erfüllen. Es dauerte dann 50 Jahre, bis wieder ein internationales Strafgericht zusammentrat, als 1995 die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien zur Debatte standen. Die Gründe für dieses lange Warten sind jedoch nur zu einem geringen Teil in den spezifischen Rechtsproblemen der Nürnberger Tribunale zu suchen. Juristische Angriffsflächen boten die Prozesse zweifellos, etwa die unglückliche Konstruktion der "conspiracy" oder das umstrittene rückwirkende Einführen von Straftatsbeständen. Diese vermeintlichen Defizite erleichterten denjenigen politischen Kräften, die an einer Diskreditierung der Prozesse und Rehabilitierung der "Kriegsverurteilten" interessiert waren, ihr Geschäft. Doch sind die Gründe, warum die Weiterentwicklung und Institutionalisierung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit nach Nürnberg nicht gelangen, vornehmlich in extrajuristischen Problemlagen zu finden. Damit sind vor allem die restaurativen Bemühungen in Nachkriegsdeutschland angesprochen, aber z.B. auch strategische Überlegungen in den USA und die Abwehr der Nationalstaaten dagegen, rechtliche Kompetenzen an überstaatliche Einrichtungen abzugeben. Das komplizierte Verhältnis von Recht und Macht wäre aber nicht nur an der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Nürnberger Prozesse zu untersuchen, sondern bildet insgesamt einen wichtigen interpretativen Zugang für das Verständnis der alliierten Nachkriegsprozesse. In Gerd Ueberschärs Sammelband werden viele wichtige Fragen angesprochen. Er stillt jedoch nicht den Hunger, den er weckt, sondern macht Appetit auf mehr.

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