C. Kampmann u.a. (Hrsg.): Neue Modelle im Alten Europa

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Titel
Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit


Herausgeber
Kampmann, Christoph; Krause, Katharina; Krems, Eva-Bettina; Tischer, Anuschka
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hillard von Thiessen, Historisches Seminar, Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg

Die Frühe Neuzeit wird gern als „ambivalente“ Epoche charakterisiert, die sich durch besonders ausgeprägte Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen ausgezeichnet habe, durch das Nebeneinander von Traditionellem und Innovativem, Fremdem und Vertrautem. Auffallend ist, dass in der Frühen Neuzeit auf der einen Seite das Alte und Bewährte grundsätzlich höher geschätzt wurde als das Neue, aber andererseits in diesem an sich innovationsfeindlichen Klima Neuerungen auf vielen Gebieten möglich waren.

Auch die Herausgeber/innen des zu besprechenden Bandes gehen grundsätzlich von einer Traditionsorientierung frühneuzeitlicher Akteure aus, was auch der Aufsatz von Wolf-Friedrich Schäufele zu den begrifflichen Konnotationen von „alt“ und „neu“ in der Frühen Neuzeit bestätigt. Wenn aber die Frühe Neuzeit dennoch als innovationsfähige Übergangsepoche zur Moderne verstanden wird, stellt sich die Frage, „in welchen Situationen und unter welchen Rahmenbedingungen welche Formen, Durchsetzungs- und Legitimationsstrategien nötig waren, Neuartigem durch Modellsetzung zum Erfolg zu verhelfen bzw. was ein Scheitern von Neuerungen verursachen konnte“ (S. 11). Um die Legitimation und Wirkung von Innovationen zu untersuchen, entwickeln die Herausgeber/innen das Konzept des „Neuen Modells“. Unter diesem Begriff verstehen sie Entwürfe und Initiativen, die auf konkret benennbare Urheber – zumeist Obrigkeiten oder in ihrem Auftrag handelnde Personen – zurückzuführen sind und die bewusst etwas Neues schaffen sollten und entsprechend wahrgenommen wurden. Im Idealfall wirkten sie vorbildhaft und generierten neue Traditionen.

Der Band setzt sich zusammen aus Beiträgen von Historiker/innen und Kunsthistoriker/innen, die nach den Wirkungen der „Neuen Modelle“ fragen, sich dafür interessieren, ob und inwieweit diese vorbildhaft wirkten, wann sie als Provokationen wahrgenommen wurden und unter welchen Bedingungen sie scheiterten. Eine gewisse Engführung stellt dabei dar, dass nur obrigkeitliche Initiativen, aber keine Innovationen „von unten“ thematisiert werden. Dennoch: Die große Leistung des Bandes besteht darin, dass er die alte Frage nach dem Verhältnis von Tradition und Innovation in der Frühen Neuzeit neu stellt. Das Konzept des „Neuen Modells“ verleiht ihm, bei großer thematischer Bandbreite, eine gewisse Geschlossenheit. Dass einzelne Autor/innen weniger als andere auf das Konzept eingehen, versteht sich für einen Sammelband mit 16 Aufsätzen von selbst. Bedauerlich ist nur, dass ausgerechnet der einzige Beitrag, der die Aufklärung explizit thematisiert und sich damit dem Umschlag vom traditionsverhafteten Anciennitätsparadigma zur innovationsbegierigen Aufklärung hätte widmen können, Ada Raevs Beitrag zur Konzeption St. Petersburgs, keinen Bezug zum methodischen Konzept des Bandes herstellt.

In den Aufsätzen geht es um politische Ordnungen, Herrscher- und Machtrollen, militärische Innovationen und „Neue Modelle“ in Architektur, (Garten-)Kunst und Stadtgestaltung. Außerdem befasst sich Wilhelm Ernst Winterberger mit der Frage, ob die 1527 gegründete Marburger Universität als „Neues Modell“ gelten könne, was er mit Einschränkungen verneint. In Marburg sei kein grundstürzend neuer Typ einer protestantischen Universität entstanden, doch habe diese Gründung dem Modell einer der Staatsbildung dienlichen landesherrlichen Hochschule den endgültigen Durchbruch im Reich beschert.

Thematisch breit gefächert sind die kunsthistorischen Beiträge. Sie fragen danach, ob neue künstlerische Konzepte und Techniken als „Neue Modelle“ gelten können. So analysiert Thomas Schauerte die Überwältigungsästhetik des „Riesenholzschnitts“ im frühen 16. Jahrhundert, und Katharina Krause untersucht die Anlage von Boulevards im Paris Ludwigs XIV., die erst mit einer Verspätung von mehr als einem Jahrhundert in den Ringstraßenprojekten anderer europäischen Metropolen Nachahmer fand. Mit neuen Architekturmodellen, die aber kaum neue Traditionen begründeten, beschäftigen sich Matthias Müller und Ulrich Schütte, Ersterer am Beispiel von Studienräumen im Wettiner Schlossbau im 16. Jahrhundert und Letzterer in einem Beitrag über die um 1540 errichtete, nach italienischen Vorbildern gestaltete Stadtresidenz in Landshut. Diese war zwar gerade aufgrund ihres Innovationsgrades als Ausdruck von Herrschaftslegitimation ungeeignet, kann aber als Kompensation für die nachgeordnete dynastische Stellung des Bauherrn, Herzog Ludwigs X., verstanden werden. Dass der Mangel an politisch-dynastischen Perspektiven Freiräume für Innovationen schuf, lässt sich auch an den von Stanislas Leszczynski veranlassten Baumaßnahmen in Nancy erkennen. Ohne Chance, eine Dynastie zu begründen, blieb ihm nach Eva-Bettina Krems nur, sich mittels eines innovativen Stadtgestaltungsprojekts ein Denkmal zu setzen. Iris Lauterbach befasst sich mit neuen Konzepten zur Gartengestaltung im Frankreich des frühen 18. Jahrhunderts. Das Ideal der natürlichen Schlichtheit, die anstelle der bis dahin strengen affectation königlicher Gärten trat, erwies sich tatsächlich als international stilbildend, weist aber auch auf einen blinden Fleck des Konzepts des „Neuen Modells“ hin: Gerade in der Übernahme von Prinzipien englischer Gartengestaltung lässt sich das Wirken von Kulturtransfer erkennen. Viele der im Band vorgestellten Modelle sind vor allem Ergebnisse von Transferleistungen, was deutlicher hätte thematisiert werden können.

Die Beiträge zu den politischen „Neuen Modellen“ lassen erkennen, dass es bis ins 17. Jahrhundert sehr heikel war, auf diesem Feld offen Innovationen anzustreben, und dass dies oft auch gar nicht den Intentionen der Akteure entsprach. Das gilt etwa für die von Anuschka Tischer behandelte Reichsreform von 1495. Auch James Harrington war bemüht, seinen unter Cromwell erstellten republikanischen Verfassungsentwurf so traditionsorientiert wie möglich darzustellen, wie Ulrich Niggemann betont. Etwas überstrapaziert wird das Konzept in Kerstin Weiands Beitrag zur Erinnerung an Elisabeth I. unter den frühen Stuarts. Die New Model Army ist in den Augen von Jürgen Luh eher ein Produkt der Rezeption der Oranischen Heeresreform (und damit das Ergebnis von Transferleistungen), wenn man einmal von der Einführung einheitlicher farbiger Uniformen absieht.

So fragt sich der Leser, ob es in der Frühen Neuzeit denn überhaupt „Neue Modelle“, für welche diese Bezeichnung im Sinne der Herausgeber/innen ohne Einschränkung zutrifft, gegeben hat, und welchen Erkenntniswert das Konzept hat. Es sind vor allem drei Aufsätze in diesem Band, die hierzu eine Antwort bieten. Zum einen legt Lothar Schilling den Maßstab des „Neuen Modells“ an den Absolutismus an. Sein Befund ist ein negativer und präzisiert verschiedene Aspekte der Absolutismusdebatte. Statt offener Traditionsbrüche durch absolute Herrscher seien Maßnahmen zur Stärkung königlicher Macht mit der necessitas begründet worden, was zwar mitunter tatsächlich zu neuen Strukturen führte, aber nicht als intendiertes „Neues Modell“ gelten könne. An den Befund, dass der Hinweis auf neue politische Herausforderungen der Legitimierung von Innovationen dienlich gewesen sei, knüpft Christoph Kampmann in seinem engagiert geschriebenen Beitrag an. Er rekonstruiert, wie es der kaiserlichen Regierung 1688/89 gelang, angesichts der französischen Bedrohung ein neues sicherheitspolitisches Modell zu legitimieren und durchzusetzen. Auch wenn damit auf Dauer keine neue politische Ordnung begründet wurde – man also wieder einen Abstrich am Konzept des „Neuen Modells“ machen muss – so zeigt der Beitrag doch klar, unter welchen Umständen eine auf Traditionalität gepolte politische Kultur bereit war, Innovation zu akzeptieren. Abschließend erfüllt der Beitrag von Hans-Jürgen Bömelburg zu den Teilungen Polen-Litauens das Desiderat, die neuen politischen Handlungsbedingungen des 18. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen. Sie ermöglichten tatsächlich, gezielt eine Neuordnung des Staatensystems herbeizuführen, und bildeten ein Modell für die politischen Flurbereinigungen um 1800.

Es stellt sich heraus: Vollumfänglich „Neue Modelle“ im Sinne der Herausgeber/innen, die tatsächlich als Innovationen angelegt waren, Neues schufen und langfristig modellhaft wirkten, sind vor dem 18. Jahrhundert kaum zu finden oder entfalteten ihre innovative Wirkung erst mit starker Verzögerung. Doch spricht dieser Negativbefund nicht gegen den Band, der mittels eines anregenden Modells das Verhältnis von Traditionalität und Innovationspotenzial in der Frühmoderne diskutiert. Damit leistet er einen weiterführenden Beitrag zum Ausloten der politischen Kultur der Frühen Neuzeit. Eine Verknüpfung des Konzepts mit der Transfer- und Verflechtungsforschung, die nach der Herkunft und Rezeption von „Neuen Modellen“ fragt, lässt sich als Desiderat für weitere Forschungen formulieren.

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