U. Löffler: Lissabons Fall - Europas Schrecken

Titel
Lissabons Fall - Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Löffler, Ulrich
Reihe
Arbeiten zur Kirchengeschichte 70
Erschienen
Berlin 1999: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIII + 721 S.
Preis
€ 118,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Eifert, Fachbereich Geschichtswissenschaften, Freie Universitaet Berlin

Das anzuzeigende Buch ist aus einer theologie- und kirchengeschichtlichen Dissertation hervorgegangen. Seine Lektüre ist für HistorikerInnen interessant, weil Löffler diejenigen Deutungen des Lissabonner Erdbebens in den Blick nimmt, die von zeitgenössischen bürgerlichen Protestanten in Zeitschriften rezipiert und angeboten wurden. Löffler will die Wirkung des Erdbebens nicht nur auf die Philosophie und die Theologie, sondern auch auf die durch die Aufklärung bestimmte Frömmigkeit herausarbeiten. Damit verspricht er, unser bisher stark auf die Philosophie konzentriertes Wissen über die Wahrnehmung und Deutung des grossen Erdbebens von 1755 zu bereichern.

Seine Aufgabe, "das Profil jener Deutungen genauer ins Auge zu fassen, die im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts das Erdbeben von Lissabon thematisierten bzw. interpretierten" (1), geht Löffler in den folgenden Schritten an: Zuerst gibt er eine sehr detaillierte Übersicht über die Forschungslage (7-83). Hierbei geht er besonders der seiner Ansicht theologiegeschichtlich relevanten Frage nach, ob die jeweiligen Arbeiten die These von der Erschütterung des Optimismus durch das Erdbeben begründeten, stabilisierten oder kritisierten. Im zweiten Kapitel schildert der Verfasser "den Verlauf und die unmittelbaren Folgen der Katastrophe selbst" sowie die "akute Katastrophenbewältigung" (115-180). Das dritte und umfangreichste Kapitel ist den Deutungen des Erdbebens gewidmet (181-514), wobei Löffler unterscheidet zwischen Deutungen, die in Gelegenheitsschriften und Zeitungen angeboten wurden, der "poetischen Katastrophendeutung" und schliesslich Deutungen, die in Predigten gegeben wurden. Das vierte Kapitel thematisiert die Katastrophentopik im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts und den Raum, den das Lissabonner Erdbeben darin zugewiesen erhielt (515-615). Das Buch endet mit einem Anhang, der die Buchmesskataloge der Jahre Michaelis 1755 bis Michaelis 1759 mit ihren Eintragungen zu den beiden Themen Erdbeben von Lissabon und Siebenjähriger Krieg enthält (631-647). Hieran fügt sich ein beeindruckendes Verzeichnis der Quellen (649-685) und der Literatur (686-711) an.

Ein Blick in die voluminöse Sammlung der Quellen zeigt, daß diese breitester Herkunft sind und literarische Texte von Voltaire und Herder beispielsweise ebenso enthalten wie philosophische Abhandlungen von Seneca, Leibniz oder Kant. Die Analyse der Erdbebendeutungen im deutschsprachigen Protestantismus hätte, so will mir scheinen, auf eine derartig breite Quellengrundlage wohl verzichten können, wenn denn der Begriff des deutschsprachigen Protestantismus etwas eingegrenzt worden wäre. Kant hierunter zu subsumieren ist weder selbstverständlich noch im Erkenntnisgewinn überzeugend (341-374). Unbehagen bereitet zudem der unreflektierte Gebrauch des Begriffs Katastrophe, der kein Quellenbegriff ist, sondern eine Interpretation transportiert. Die Entscheidung, diesen Begriff zum Ansatz der eigenen Forschungen zu wählen, wie es auch die historische Katastrophenforschung tut, führt dazu, mit impliziten eigenen Bewertungen des Geschehens an die Analyse zeitgenössischer Wahrnehmungen und Deutungen heranzugehen - ein methodisch schwieriges Vorgehen.

Die Deutungen des Erdbebens, die im deutschsprachigen Protestantismus publiziert wurden, zeichnen sich, so argumentiert Löffler, durch eine breite Vielfalt aus. Theologen und Nichttheologen aller Richtungen des Protestantismus äussern sich in Zeitungsartikeln, Miszellen, juristischen Abhandlungen, in Polemiken, Gedichten, Predigten (84-95 zur Gattungsvielfalt). In ihren Schriften stellen sie informierende, naturwissenschaftliche, theologisch qualifizierende und ethische Deutungssegmente vor, die in unterschiedliche Beziehung züinander gesetzt werden. Im Zentrum der Auseinandersetzung sieht Löffler die Frage nach naturwissenschaftlichem Kausalverständnis bzw. theologischen Erklärungen für die Katastrophe. Dem physikotheologischen Denken räumt er hierbei eine Mittlerstellung ein, denn dieses werte naturkundliche Beobachtungen und naturwissenschaftliche Erklärungen des Erdbebens als theologisch sinnvolle Wahrnehmungen und sehe sie als Beleg für die Herrlichkeit Gottes an.

Diesen Integrationsbemühungen der Physikotheologen stellt Löffler einerseits diejenigen Positionen gegenüber, die alle naturwissenschaftlichen Bemühungen ablehnen. Die radikalsten Vertreter dieser Meinung suchen das Erdbeben in Anlehnung an die Apokalypse zu interpretieren. Solche Deutungen weist Löffler unter anderem am Beispiel des literarischen Streites über die Singularität des Lissabonner Erdbebens, der 1756 in den Berlinischen Nachrichten ausgetragen wurde, nach.(207-14) Vorherrschend sei jedoch, so resümiert Löffler seine Analyse der Predigten, die Ansicht, das Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer verbiete jede Annahme naturwissenschaftlich erklärbarer Kausalitäten und das Erdbeben sei als Gottesgericht, als Aufruf zur Buße zu verstehen. Variierend zum Bußaufruf interpretieren die Zeitgenossen das Erdbeben auch als Aufruf, mit den Opfern zu fühlen.

Auf die Doppelbödigkeit vieler Buß- und Mitleidsappelle reagiert der pietistisch geprägte Verwaltungsreformer Friedrich Carl von Moser in den von ihm herausgegebenen "Wöchentlichen Franckfurtischen Abhandlungen". Moser beginnt seine Fundamentalkritik mit der Karikatur, in Folge von Notverkäufen sei der Edelsteinmarkt zusammengebrochen, und greift die Heuchelei bürgerlicher Wohlanständigkeit und Frömmigkeit an. Löffler zieht Mosers Abhandlung heran, um zu zeigen, daß 'Optimismuskritik' sich nicht auf die Philosophie von Leibniz oder Wolff konzentriert habe, sondern auch gegen die 'Freigeisterei' gerichtet gewesen sei: "Die als Weisheit mit der Fackel in der Hand emblematisch umschriebene Aufklärung und die aufkeimende Prosperität eines letztlich tumben Besitzbürgertums fallen nicht zuletzt wegen ihrer behäbigen und selbstgefälligen Gottvergessenheit unter dasselbe Verdikt".(296f.)

Ebenfalls als Vertreter des deutschsprachigen Protestantismus erhält Immanül Kant am anderen Ende des Spektrums einen Platz zugewiesen. Löffler argumentiert, Kant sei zur Zeit seiner Erdbebenschriften ein naturwissenschaftlich arbeitender Philosoph gewesen und eben die philosophischen Aussagen seien von Belang, denn "theologisch qualifizierte Aspekte" liessen sich in diesen Schriften kaum finden.(356) Wichtig ist für Löffler, daß Kant in der Autonomie der Naturgesetze den eigentlichen Ausweis für die Schöpfermacht Gottes erkennt. (358, 374) Auf dieser Grundlage Kants Erdbebenschriften als protestantisches Deutungsangebot zu bewerten, leuchtet mir nicht ein.

Löfflers sehr detaillierte Untersuchung stellt klar, daß eine simple Zuordnung der Erdbebeninterpretationen des deutschsprachigen Protestantismus entweder in das Lager der aufgeklärten Naturwissenschaft oder in das Lager der Theologie unzulänglich ist, da dieses Verfahren die vermittelnde Position der Physikotheologen ignoriere. Schon gar nicht lasse sich das pauschale Urteil über eine generelle "Strafpredigt der Geistlichkeit" aufrecht erhalten.(435) Löffler arbeitet weiter heraus, daß sich die Erdbebenthematik mit Beginn des Siebenjährigen Krieges relativ schnell in eine generelle Katastrophenthematik wandelte, denn der Krieg bildet nun für den deutschsprachigen Protestantismus die zu deutende Katastrophe. Das physikotheologische, an der Güte Gottes und der Schönheit der Schöpfung ansetzende Denken wird, wie Löffler am Beispiel Gellerts verdeutlicht, auch jetzt beibehalten, jedoch der Mensch als derjenige, der Gott aus der Natur erkennen sollte, ins Zentrum der Überlegungen gerückt. Mit Johann Samuel Preus Erdbebentheologie (Sismotheologie) von 1772 zeigt sich die Integration von Naturerkenntnis und theologischer Deutung an ihrem Endpunkt, denn die rasch wachsende naturwissenschaftliche Deutungskompetenz ist nicht länger zu vereinnahmen.

Mit seinen Differenzierungen, die er für die Erdbebendeutungen des Protestantismus im 18. Jahrhundert vorlegt, bereichert Löffler unser Bild von der Wahrnehmung und Deutung des Lissabonner Erdbebens im deutschen Sprachraum. Ein klein wenig mehr begriffliche Klarheit und eine etwas straffere Argumentation hätten dem Buch gut getan.

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