D. Templin: „Lehrzeit – keine Leerzeit!“

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Titel
„Lehrzeit – keine Leerzeit!“. Die Lehrlingsbewegung in Hamburg 1968–1972


Autor(en)
Templin, David
Reihe
Hamburger Zeitspuren 9
Erschienen
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Frese, Institut für westfälische Regionalgeschichte, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Münster

Im Schatten der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition entwickelte sich in etlichen Städten der Bundesrepublik Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre eine eigene Lehrlingsbewegung, der es zunächst um die Verbesserung der Ausbildungsbedingungen, um das Verbot ausbildungsferner Behandlungen und Schikanen durch Meister, andere Vorgesetzte und Beschäftigte, später auch um bessere Ausbildungsvergütungen und um allgemeinpolitische Themen ging. Diese vergleichsweise kurze Geschichte zwischen Ende 1968 und 1971/72 nimmt nun die ausgezeichnete Studie von David Templin in den Blick, wobei er seinen Fokus auf die Entwicklungen in Hamburg als dem Zentrum der Lehrlingsbewegung richtet und parallel auch Vorgänge in anderen Städten einbezieht. Die Studie fußt auf breitem Quellenmaterial der Gewerkschaften und verschiedener Archive politischer Gruppierungen in Hamburg, ferner auf umfangreichen zeitgenössischen Periodika und sozialwissenschaftlichen Analysen, auf gedruckten Quellen, auf Memoiren und auf der vergleichsweise schmalen historischen und sozialwissenschaftlichen Forschungsliteratur zu diesem Themenfeld.

Nach einigen kurzen Abschnitten zur Berufsausbildung, zur Jugendkultur und zu Entwicklungen in der Gewerkschaftsjugend, der Studentenbewegung und der APO als den „Entstehungsfaktoren der Lehrlingsbewegung“ entfaltet Templin in drei großen Kapiteln die Herausbildung, die kurze Konsolidierung und den raschen Niedergang der Lehrlingsbewegung. In der ersten Phase zwischen Herbst 1968 und Winter 1969 schlossen sich an die frühen Aktionen in Hamburg, unter anderem zur Erstattung von Fahrtkosten zur Berufsschule, seit der Jahreswende 1968/69 Aktivitäten in mehreren Städten an, so beispielsweise in Dortmund, Westberlin, München und Stuttgart. Im Mittelpunkt der Kritik standen vor allem unstrukturierte und miserable Ausbildungsabläufe, die Ausbeutung durch ausbildungsferne Tätigkeiten sowie autoritäre, böswillige und teilweise gewalttätige Behandlungen durch Vorgesetzte und Kollegen. Am Beispiel von Hamburg zeigt Templin, wie die anfänglich noch wenigen kritischen Auszubildenden und jungen Arbeitnehmer durch gewerkschaftsnahe Studierende, die mit organisatorischen und inhaltlichen Ratschlägen halfen und die eine offene Jugendarbeit in den Gewerkschaften anstrebten, weiterhin durch die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), die Jugendorganisation der DKP, und andere linke Gruppen unterstützt und politisiert wurden. Mitunter kamen in dieser Phase Anstöße zu Protesten selbst von Lehrern an Berufsschulen. Dagegen blieben die Gewerkschaften, abgesehen vom Engagement einzelner Personen, noch abseits. Ausbildungsfragen zählten nicht zu den vorrangigen Themen der Gewerkschaftsarbeit. Umgekehrt gehörten auch nur wenige Auszubildende den Gewerkschaften an. Dies änderte sich erst nach den teilweise gewalttätigen Störungen der Gewerkschaftsfeiern zum 1. Mai 1969 in Hamburg. Der DGB reagierte dort nicht mit Eskalation und scharfen Sanktionen, sondern gab seine bisherige Abgrenzung auf und zielte darauf, die Auszubildenden in die Gewerkschaften zu integrieren. Dafür kam der DGB den Forderungen aus dem Umfeld der gewerkschaftsnahen Studierenden nach, richtete einen offenen Jugendtreff als zentralen Diskussionsort ein und wertete mit einem jugendpolitischen Sofortprogramm die Berufsausbildung zu einem zentralen Feld der Gewerkschaftsarbeit auf.

Frühjahr und Sommer 1969 stellten damit nach den Ergebnissen von Templin auch bei der noch jungen Lehrlingsbewegung eine Zäsur dar. Während die Studentenbewegung und die APO aber ihren Zenit überschritten, konsolidierte sich die Lehrlingsbewegung, der sich auch junge Arbeiter und Angestellte anschlossen, im Jahr 1970 bundesweit, ohne jedoch die zahlenmäßige Stärke oder die Wirkungskraft der Studierenden zu erlangen. In Hamburg zählten beispielsweise beim wöchentlichen „Jour Fix“ der Gewerkschaftsjugend als dem wichtigsten Forum der Auszubildenden anfänglich 20 bis 30, im März 1970 60 bis 80 und Ende 1970 etwa 40 Personen zum harten Kern und etwa 200 Personen zum weiteren Umfeld der Lehrlingsbewegung. Von den Beteiligten gehörten allerdings 10 bis 30 Prozent zur Gruppe der gewerkschaftsnahen Studierenden. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer am „Jour Fix“ waren außerdem Mitglied einer Gewerkschaft, davon etwa 50 Prozent bei der IG Metall.

Die Strukturen und die politische Praxis der Lehrlingsbewegung während der Hochphase zwischen Ende 1969 und Mitte 1971 untersucht Templin im zweiten Hauptteil seiner Studie. Er beschreibt eingehend die Diskussionsforen, die politischen Aktivitäten und die kulturellen Ausdrucksformen mit Musik, Kabarett, Happenings und teilweise spektakulären öffentlichen Großveranstaltungen, ferner die Wahrnehmung durch die Gewerkschaftsführungen und durch die bundesweiten Medien, schließlich die Konflikte sowohl mit den Betriebsleitungen als auch mit den Gewerkschaftfunktionären, die mit dieser protestorientierten Politik beispielsweise gegenüber der SPD in Hamburg nur schwer umgehen konnten. Ausführlich behandelt Templin weiterhin die Versuche der Auszubildenden, mit eigenen Betriebs-, Berufsschul- und Stadtteilzeitungen aufzuklären und zu agitieren, und analysiert die betrieblichen Konflikte um Ausbildungsformen sowie die Auseinandersetzungen von Auszubildenden und jungen Arbeitnehmern mit älteren Beschäftigten und Vorgesetzten wegen Kleidung, Haarlänge und Verhalten. Insgesamt zeigt sich für Templin hierbei das „Bild einer auch in den Betrieben aufbegehrenden Jugend“ (S. 128), die jedoch stets ein „minoritäres Phänomen“ blieb, wie die Klagen gewerkschaftlich aktiver Jugendlicher über die Gleichgültigkeit und das Desinteresse von Gleichaltrigen unterstrichen. Vor allem die IG Metall versuchte außerdem über Tarifauseinandersetzungen die Ausbildungsvergütungen und Arbeitszeitregelungen zu verbessern. Dennoch blieb sowohl den Gewerkschaften als auch den Arbeitgebern die „Unruhe unter den Lehrlingen“ (S. 130) suspekt. Dabei waren die Aktivitäten der Auszubildenden in der Regel auf die einzelnen Betriebe oder die jeweilige Stadt beschränkt. Bundesweite Mobilisierungen und Zusammenschlüsse kamen nicht zustande. Allerdings wurde der „Jour Fix“ in Hamburg zum Vorbild für gewerkschaftliche Lehrlingszentren in anderen Städten.

Aber auch innerhalb der Lehrlingsbewegung entwickelten sich um das weitere Vorgehen und um die Inhalte rasch Konflikte zwischen den beteiligten Gruppierungen. Im Kern standen sich die Befürworter der offenen, eher unstrukturierten Diskussions- und Veranstaltungsforen und die Anhänger straffer Organisationen gegenüber. An diesen Auseinandersetzungen insbesondere zwischen den gewerkschaftsnahen Studierenden und der SDAJ zerbrach letztlich der „Jour Fix“ als zentrales Diskussionszentrum im November 1970. Mit dem anschließenden, schnellen Niedergang der Lehrlingsbewegung in Hamburg und bundesweit 1971/72 beschäftigt sich Templin dann im letzten Hauptteil der Studie. Die Spaltung beim „Jour Fix“ verhärtete die Haltung der beteiligten Gruppen. Zudem zeigten sich Nachwuchsprobleme, da die Zahl der neuen Auszubildenden bei den Treffen abnahm. Die SDAJ setzte schließlich ihr Konzept einer straffen Gewerkschaftsarbeit durch und erreichte die Beendigung des Jugendtreffs im September 1971. Parallel sprach sich der DGB gegen die offene Jugendarbeit aus und beschloss 1972, die Lehrlingszentren aufzulösen. Templin lehnt allerdings die zeitgenössische Sicht von Beteiligten und späteren Autoren einschlägiger sozialwissenschaftlicher Studien ab, wonach die Beendigung einzig auf die gemeinsame Zielsetzung von SDAJ und traditioneller Gewerkschaftsbürokratie, bei der verschiedene DKP-Anhänger Funktionen erlangt hatten, zurückzuführen ist. Stattdessen verweist Templin darauf, dass 1972 allgemein die „Zeit der breiten Bewegung“ (S. 142) vorbei gewesen sei. Die Lehrlingsgruppen hatten sich häufig aufgelöst und die Beteiligten waren nach dem Ende der Ausbildungszeit in die Gewerkschaftsarbeit, in andere linke politische Organisationen oder Subkulturen gewechselt. Zudem waren die dauernden internen Konflikte für Neulinge wenig attraktiv. Außerdem machte sich seit Mitte der 1970er-Jahre der Lehrstellenmangel bemerkbar. Die SDAJ und andere Splittergruppen wandten sich einer generationenübergreifenden Betriebspolitik sowie der Gremienarbeit in den Gewerkschaften zu. Offene Jugendarbeit passte nicht in dieses Konzept.

Ungeachtet der politischen Auseinandersetzungen und der nur kurzen Existenz hinterließ die Lehrlingsbewegung aber in den Betrieben und Berufsschulen deutliche Spuren, wie Templin in seinem wohlabgewogenen Fazit hervorhebt. Ausbildungseinrichtungen überarbeiteten zunehmend ihre Konzepte, legten auf eine bessere Qualifikation der Ausbilder Wert und interessierten sich - galt es doch, Unmut früher festzustellen, zu kanalisieren und Proteste im Vorfeld zu verhindern - auch für die Einschätzungen ihrer Auszubildenden, wenngleich die autoritären Umgangsformen noch lange Zeit Bestand hatten. Die Gewerkschaften erzielten wiederum Mitgliederzuwachs bei jüngeren Beschäftigten und beachteten die Anliegen der Auszubildenden stärker als zuvor.

Wie stets bleiben Fragen für weitere Forschungen offen. So wäre neben dem notwendigen stärkeren Vergleich zu anderen Städten beispielsweise noch genauer zu klären, welche Ausbildungsberufe vertreten waren, inwiefern junge Männer und Frauen gemeinsam angesprochen wurden und wie stark diese bei den Aktionen und innerhalb der Gruppen vertreten waren. Interessant wäre auch zu erfahren, warum gerade die sehr unterschiedlichen marxistisch-leninistischen Gruppen solchen Zuspruch in der Lehrlingsbewegung fanden und worin deren faktischer Einfluss bei den Auszubildenden bestand, zumal Gruppen wie die SDAJ sich bis zur inhaltlichen Selbstverleugnung anpassten, um nur integriert zu werden und bei den Aktionen Posten zu erlangen. Wünschenswert ist gewiss auch die noch stärkere Berücksichtigung der betrieblichen Ebene. Welchen Einfluss hatte beispielsweise die Lehrlingsbewegung bei generationellen Umbrüchen in Betriebsvertretungen oder bei Konflikten zwischen jüngeren und älteren Betriebsräten? Waren die Protagonisten der Lehrlingsbewegung später in Betrieben aktiv und welchen Einfluss konnten sie nehmen? Gab es Verbindungen zur Jugendzentrumsbewegung?

Dessen ungeachtet: Insgesamt liegt eine quellenfundierte und überzeugend argumentierende Untersuchung vor, die die zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Studien erweitert und korrigiert und bei den Forschungen zum gesellschaftlichen Wandel in den 1960er- und 1970er-Jahren den Blick auf die Großgruppe der Auszubildenden und auf die Situation in der Berufsausbildung lenkt.

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