Cover
Titel
Bitter Choices. Loyalty and Betrayal in the Russian Conquest of the North Caucasus


Autor(en)
Khodarkovsky, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Walter Sperling, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Wenn es um die Eroberung des Nordkaukasus im 19. Jahrhundert geht, so liegen die Dinge in einer sonst unübersichtlichen Region scheinbar klar auf der Hand. Daran ist nicht zuletzt die postsowjetische Gewalt schuld, die den Kaukasus und auch Russland seit Anfang der 1990er-Jahre heimsucht. Die scheinbar eindeutigen Fronten der Gegenwart lassen sich leicht auch in der Vergangenheit wiederfinden. Die Geschichte wird auf diese Weise zur Vorgeschichte, die dem Hier-und-Jetzt einen historischen Sinn verleiht: Auf der einen Seite stehen die Eroberer, auf der anderen die Verteidiger, hier sind die Generäle des imperialen Russland, die sich von der Vernunft der Gewalt leiten ließen, dort die indigenen Gesellschaften, die erbittert Widerstand leisteten und auch dann nicht aufhörten, von Freiheit und Unabhängigkeit zu träumen, als die Übermacht des russischen und sowjetischen Staates erdrückend schien.

Diese uns so vertraut gewordene Geschichte erzählt der Chicagoer Historiker Michael Khodarkovsky neu. Dabei entwirft er keine Antithese zur Eroberungsgeschichte, wie sie einige Historiker in der späten Sowjetunion im Sinn hatten. Auch eine postkoloniale Geschichte, die Hybridisierungen und Verflechtungen akzentuiert, liegt Michael Khodarkovsky fern.1 Vielmehr will der Autor etwas über die Zerrissenheit der Menschen des Nordkaukasus erfahren, die sich mal aus eigenem Antrieb, mal unter Zwang mit dem russischen Imperium einließen. Auch wenn sie sich in der neuen Welt eingerichtet haben mögen, hätten sie nie vergessen, so der Autor, dass sie auch in einer Kultur zuhause waren, die die europäisierten Eliten des Zarenreiches als das Andere begriffen. Deshalb wechselten sie manchmal die Seiten, übten sich, wie Hadschi Murat – historische Gestalt und Held der gleichnamigen Novelle von Leo Tolstoi – in Verrat. Dieses Schwanken zwischen zwei Kulturen ist es, was Michael Khodarkovskys Forschungsinteresse befeuert hat.

Den roten Faden des Buches bildet der Lebensweg von Semjon Atarschtschikow (1807-1845), einer historischen Nebenfigur. Nach 18 Dienstjahren in der russischen Armee hatte der von kaukasischen Vorfahren abstammende Leutnant Atarschtschikow beschlossen, in das Land seiner Großeltern zu desertieren. Als er seinen Entschluss nach wenigen Monaten überdacht hatte, nahmen ihn seine Vorgesetzten bereitwillig wieder auf. Auch der Zar begnadigte ihn, denn wie sein Vater war er ein Militärdolmetscher. Und auf Vermittler, die sich wie selbstverständlich in der Welt der Russen und der Völker des Kaukasus bewegten, waren die Truppen des Imperiums angewiesen. Es dauerte jedoch nicht lange, da revidierte Atarschtschikow seine Entscheidung erneut, um wenig später unter dem Namen Hajret Muhammed ein Heer von Aufständischen gegen seinen „russischen“ Heimatort anzuführen. Die Geschichte ist filmreif, denn Atarschtschikow wurde selbst Opfer eines Verrats, den ein desertierter „echter“ Kosake beging. Dieser verwundete seinen Anführer tödlich im Schlaf, um sich auf diese Weise seine Rückkehr in die Dienste des Zaren zu erkaufen.

Atarschtschikows Schwanken zwischen dem Imperium und den rebellierenden Bergvölkern, zwischen der christlichen Kultur der Russen und der Welt des Islam, war, wie Michael Khodarkovsky an anderen Beispielen immer wieder klar zu machen vermag, keine Ausnahmeerscheinung. Vielmehr spiegelt das Beispiel ein Phänomen. Es ist repräsentativ nicht zuletzt für den engeren Kreis von Personen kaukasischer Herkunft, die Offiziere, Beamte und Wissenschaftler des Zarenreiches wurden. Anstatt eine Kollektivbiographie dieser Personen anzustreben, nutzt Michael Khodarkovsky den Lebensweg seines Helden als eine Art Vehikel, um die Erfahrungsräume der Einwohner des Nordkaukasus zu erkunden. Atarschtschikows Weg wird auf diese Weise zu einer Metapher, die für die Geschichte der Region insgesamt stehen soll.

Das Buch ist in zehn übersichtliche Kapitel gegliedert. Es beginnt mit einem knappen Überblick über die Region unter der russischen Herrschaft und endet mit dem Tod des Helden. Semjon Atarschtschikow ist als Sohn eines christianisierten und russifizierten Tschetschenen in der Kosakensiedlung Naurskaja zur Welt gekommen. Seine Kindheit verbrachte er jedoch nicht nur auf der russischen Seite des Grenzflusses Terek, sondern auch in Karabudachkent, der Stadt der Kumyken am Rande des Kaspischen Meeres. Nach dem Willen seines Vaters sollte er im Haus eines Feudalherrn von der Kultur schöpfen, die jener selbst vermisste. Und so lernte der kleine Semjon nicht nur die Sprache der Kumyken und Tschetschenen, sondern auch die arabische Schrift und den Koran.

Die Reisen seines Helden nimmt der Autor zum Anlass, um dem Leser die Kulturen des Nordkaukasus vorzustellen. Dabei gelingt es ihm, ein differenziertes Bild einer Region zu zeichnen, die der russisch-europäische Blick auf die „Wilden“ vereinheitlicht und trivialisiert hat. Zweifelsohne lebten viele in den Wäldern und Schluchten des Kaukasus nicht allein von der kargen Land- und Viehwirtschaft. Eine lukrative Einkommensquelle blieb der kriegerische Raub. Die Gewalt hatte in jener staatenlosen Region eine eigene Ökonomie. Die Bergvölker hatten ihren Anteil an dem gewinnbringenden Geschäft mit Menschen, die ins Osmanische Reich und nach Persien weiter verkauft wurden. Doch die Sklaven wurden in Städten gehandelt, die, wie Derbend, auf eine jahrtausendealte Geschichte zurückblickten, die geistige Zentren der Region waren und deren Stadttore, Basare und Bauten die Reisenden beeindruckten.

Als Mitreisende von Michael Khodarkovsky erfahren wir auch von den neuen russischen Forts wie etwa Grosny, den Vorposten und Brückenköpfen der imperialen Expansion. Wir bekommen auch die Strategie der russischen Armee erklärt, die an Bekanntes anknüpfte. Wie die Heere des Persischen und des Osmanischen Reiches zuvor veranstalteten die russischen Truppen Strafexpeditionen in jene Gebiete, die sich gegen die Herrschaft des Zaren auflehnten. Es war ihre systematische Politik der „verbrannten Erde“, die die Stämme und Völker in den Widerstand trieb. Atarschtschikow wird später immer wieder bei solchen Strafexpeditionen als dolmetschender Kosake zugegen sein. Die Massaker, die er immer wieder mitangesehen haben muss, wird er sicherlich nicht so schnell vergessen haben. Vielleicht auch dann nicht, als er in Sankt Petersburg dem Zaren Nikolaus I. seine Reitkunststücke vorführte. Ob und wie er sich an dieser Gewalt beteiligte, auch an der Niederschlagung des polnischen Aufstands, zu der er gemeinsam mit den anderen kaukasischen Gardesoldaten beordert wurde, darüber schweigen sich die Quellen aus.

Überhaupt ist es erstaunlich, wie wenig wir über den Helden des Buches selbst erfahren. Viele biographische Einzelfragen bleiben im Dunkeln. Atarschtschikows Stimme hören wir nur ein einziges Mal, in einem Schreiben, das die russischen „Waffenbrüder“ (S. 150) zum Überlaufen zu bewegen versucht. Doch wie in der Mikrogeschichte üblich, die solche „klassischen“ Autoren wie Natalie Zemon Davis geprägt haben2, geht es Michael Khodarkovsky nicht um eine Biographie, sondern um den Vorstellungs- und Handlungsraum von historischen Menschen. Daher führt er nicht allein Anklage gegen die brutale Gewaltpolitik eines Jermolow, eines Weljaminow oder eines von Sass. Vielmehr weist der Autor auch auf die Alternativen zur Gewalt hin – auf die Vorschläge des Generals Rajewski oder des adygeischen Fürsten Chan-Giraj zur Befriedung des Nordkaukasus. Mit Letzterem hat Semjon Atarschtschikow mehrere Jahre in der Gardeschwadron in Sankt Petersburg verbracht und sich möglicherweise mit ihm darüber ausgetauscht. Doch die Autokratie und ihre Generäle waren ungeduldig. Sie wollten weder auf die integrative Wirkung des „friedlichen“ Handels warten noch kam es für sie in Frage, ihre imperiale Herrschaft auf die bestehenden Institutionen des Islam zu gründen. In Russlands Exerziermoderne der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand die Toleranz nicht hoch im Kurs. Diese Einsicht ist nicht neu. Jedoch gelingt es Michael Khodarkovsky wie keinem Historiker bzw. keiner Historikerin zuvor zu zeigen, welche Konsequenzen sich daraus für einzelne Menschen des Nordkaukasus ergaben. Das Buch hat daher einen festen Platz in meinem Syllabus zur Geschichte des Russischen Imperiums.

Anmerkungen:
1 Bruce Grant, The Captive and the Gift. Cultural Histories of Sovereignity in Russia and the Caucasus, Ithaca/London 2009.
2 Natalie Zemon Davis, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Frankfurt am Main 1989.