R. Bayreuther u.a. (Hrsg.): Kritik in der Frühen Neuzeit

Cover
Titel
Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle avant la lettre


Herausgeber
Bayreuther, Rainer; Engelberg, Meinrad von; Rauschenbach, Sina; Treskow, Isabella von
Reihe
Wolfenbütteler Forschungen 125
Erschienen
Wiesbaden 2011: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Holtz, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Der vorliegende Band geht auf ein Arbeitsgespräch zurück, das im Juli 2006 zum Thema „Intellektuelle. Rollenbilder, Interventionsformen, Streitkulturen 1500–1800“ an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel veranstaltet wurde. Er vereint die zwölf Beiträge, die in Wolfenbüttel zur Diskussion gestellt wurden; ein Beitrag von Dorothea von Mücke ergänzt die Thematik. Eingeleitet werden die Aufsätze durch eine Einleitung, in der die Herausgeber/innen wichtige Intellektuellen-Konzepte vorstellen, die sich unter anderem mit Antonio Gramsci, Jacques Le Goff, M. Rainer Lepsius und Pierre Bourdieu verbinden. Ihnen allen ist gemein, dass sie in der Aufklärung die Formierungsphase des Intellektuellen sehen. Problematisch sind die Zuschreibungen: Was kann als typisch für Intellektuelle unterstellt werden, ohne sich retrospektiv von jenen Faktoren leiten zu lassen, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert Intellektuellen zugeschrieben werden? Die offenkundigen Unterschiede zu den politischen Systemen der Frühen Neuzeit und die fehlende Öffentlichkeit als Ort eigenständiger Meinungsbildung lassen die Frage stellen, ob sich das „eingreifende Denken“, das seit der Aufklärung als Charakteristikum intellektuellen Wirkens gilt, auch in „anders strukturierten Gesellschaften“ nachweisen lässt (S. 13). Es wird vorgeschlagen, in der fundamental anderen Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit Druckerzeugnisse – vom gedruckten Wort über Bildkünste bis zum Notentext der Musik – als Kommunikationsmittel zwischen Intellektuellem und Publikum zur Voraussetzung intervenierender Handlungsweisen anzusehen. Daraus ergeben sich zwei zentrale Fragen: zum einen, welche Medien können als „genuin oder potenziell intellektuell“ gelten (S. 15), und zum anderen, wie musste eine soziale Rolle, die jener des modernen Intellektuellen entspricht, in dieser Öffentlichkeit ausgeübt werden (S. 17). Ein kurzer Forschungsüberblick (S. 17–31) über die Intellektuellen-Konzepte in der Frühen Neuzeit schließt sich an. Frappant ist zu sehen, dass der verwendete Intellektuellenbegriff mit den jeweiligen Kulturräumen in Zusammenhang steht, denen die Forscher selbst zugehören. Dies wird anhand von anglo-amerikanischen, französischen und deutschen Forschungstraditionen ausgeführt.

Das untersuchte Forschungsfeld ist zeitlich (vom 14. bis zum Ende 18. Jahrhunderts) und geographisch (von Spanien bis zum preußischen Ordensland) breit gefächert und mitnichten homogen. Gemeinsam ist den meisten Beiträgen, dass exemplarische biographische Fälle im Mittelpunkt der Analyse stehen. Dabei geht es nicht darum, nach einem „verfrühten identischen Abbild des modernen Intellektuellen zu suchen“, sondern Analogien seiner intervenierenden Handlungsweisen aufzuzeigen (S. 31). Die Aufsätze können hier nicht detailliert vorgestellt werden, vielmehr sollen die einzelnen Themen kurz angesprochen werden. Die Bandbreite erstreckt sich von den „Strukturen politischer Kritik in der Musik“ (Rainer Bayreuther), über die Auseinandersetzung von Intellektuellen mit dem Krieg (Dieter Janssen) und die Frage, wann Humanisten Intellektuelle sein können (Albert Schirrmeister) bis zu „Musikern […] zwischen Beruf und Bekenntnis“ (Karsten Mackensen). Sina Rauschenbach verfolgt eine Auseinandersetzung über „Die Indianer und die englische Diskussion über die Wiederzulassung der Juden im 17. Jahrhundert“, die sich von der gelehrten zur intellektuellen Debatte entwickelte. Ina Schabert widmet sich der „Frau als Intellektuelle[r] im England des späten 17. und 18. Jahrhunderts“. Die „Funktionsweise kritischer Intervention im Frankreich des 17. Jahrhunderts“ steht im Zentrum der Überlegungen von Isabella von Treskow. Ludger Schwarte untersucht „Intellektuelle, Experimentalwissenschaft und Öffentlichkeit um 1700“. Am Beispiel von dessen Physica Sacra analysiert Ulrich Johannes Schneider die Rhetorik Johann Jakob Scheuchzers. Dorothea von Mücke fragt nach „Öffentlichkeiten der Aufklärung und intellektuelle[r] Kritik“. Die Entwicklung vom Gelehrten zum philosophe im französischen Aufklärungszeitalter untersucht Hans-Jürgen Lüsebrink. Susanne Lachenicht widmet sich der „intellektuelle[n] Intervention“ französischer Journalisten des späten 18. Jahrhunderts, und Meinrad von Engelberg befasst sich mit den Bildenden Künsten „als Medien intellektueller Intervention“.

Für die Rezeption ungemein hilfreich ist das programmatische Nachwort, in dem die Herausgeber/innen versuchen, aus den Fallstudien generalisierende Aussagen zu gewinnen. Dazu haben sie die Ergebnisse unter sechs Aspekten zusammengefasst. Zum ersten ist Kritik ein zentrales Merkmal des Handelns frühneuzeitlicher Intellektueller. Es hat sich gezeigt, dass sich das „affirmative und normative Wahrheitsverständnis“ des Mittelalters in der Frühen Neuzeit zu einem „innovativen und individuellen Wahrheitsverständnis“ veränderte. Nicht mehr kanonische Wahrheiten waren die Basis der Kritik, sondern das „persönliche Gewicht des Kritikers“; zunehmend verstärkten Öffentlichkeiten die Kritik (S. 282). Zum Zweiten ist deutlich geworden, dass Medien Träger der Kritik sein konnten, aber Kritik auch ohne Worte auskommen konnte, wie die Beiträge über Musik und Bildende Künste belegen. Künstlerischer Rang bzw. Expertenwissen verliehen drittens den Akteuren jene Autorität, die ihnen den Rückhalt für ihre kritischen Interventionen gab. Das bedeutet im Umkehrschluss auch: Anonym publizierte Stellungnahmen konnten keine Autorität beanspruchen. Spezialwissen oder Spezialbegabung waren konstitutiv für intellektuelle Interventionen. Dabei darf der moderne Autonomiebegriff nicht auf den frühmodernen Intellektuellen angewandt werden. Letzterer konnte bestenfalls „Autonomie des Denkens“ beanspruchen, „institutionelle Autonomie“ war wohl kaum gegeben (S. 384). Bei den Journalisten des 18. Jahrhunderts stellte sich hingegen die Autonomiefrage neu, da sich hier erstmals intellektuelles Agieren zu einem Berufsfeld verdichtete.

Der vierte Punkt gilt den Inhalten und Argumenten der Debatten. Hier wird zwischen der Wissensproduktion der Gelehrten, die auf Perfektionierung abstellte, und der Wissensproduktion der Intellektuellen, die auf einen unmittelbaren gesellschaftlichen Nutzen abzielte, unterschieden. Dies gelte auch dann, wenn „intellektuelle Debatten jederzeit in gelehrte rückübersetzt werden konnten“ (S. 386). Dass intellektuelle Debatten in Zeiten der Zensur mehrdeutig oder im Geheimen geführt werden mussten, darf nicht vergessen werden. Fünftens wird festgehalten, dass sich die Öffentlichkeit über die Jahrhunderte hinweg veränderte und das Massenpublikum zu einem immer stärkeren Machtfaktor bei politischen Entscheidungen wurde. Der sechste und abschließende Punkt ist dem Intellektuellen avant la lettre gewidmet. Hier wird nochmals festgehalten, dass es das Ziel des vorliegenden Bandes nicht war, eine homogene Personengruppe oder ein homogenes Handlungsmuster ausfindig zu machen. Bewährt habe sich, auf einen „engen“ Intellektuellenbegriff zurückzugreifen (S. 18ff.) und den „Intellektuellen“ vom „Gelehrten“ und „Gebildeten“ zu unterscheiden. Der Intellektuelle ist an eine spezifische Form des Agierens gebunden, seine Intervention zu einem gesellschaftlich relevanten Thema ist persönlich, öffentlich und überfachlich. Damit wird deutlich, dass es solchermaßen verstandene Intellektuelle vor dem Zeitalter der Aufklärung gegeben hat, wobei das neue Medium des Buchdrucks die kritischen Interventionen entschieden gefordert und das Verhältnis zwischen intervenierendem Intellektuellen, (entstehender) Öffentlichkeit und angesprochenen Entscheidungsträgern essentiell beeinflusst hat. Letztlich hing in der Frühen Neuzeit die Möglichkeit kritischen Denkens und politischer Intervention aber von den Handlungsspielräumen ab, die sich sowohl für den Intellektuellen als auch für die unterschiedlichen Öffentlichkeiten boten.

Abschließend ist festzuhalten: Die anregenden Fallstudien arbeiten Bedingungen und Elemente intellektuellen Handelns prägnant heraus. Die vorgestellten Persönlichkeiten, Rollenmuster und Medien intellektueller Kritik präsentieren in beeindruckender Art und Weise ein intellektuelles Potential, das sich weit vor der Aufklärung Gehör verschaffte. Das Bild, das die Fallstudien vom frühneuzeitlichen Intellektuellen avant da lettre zeichnen, überzeugt rundum und gibt vielfältige Anregungen zu weiteren Forschungen!