M. Stolleis (Hrsg.): Herzkammern der Republik

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Titel
Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht


Herausgeber
Stolleis, Michael
Erschienen
München 2011: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
298 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Hoffmann-Riem, Bucerius Law School, Hamburg

Aus Anlass des 60-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts hat Michael Stolleis eine bunte Mischung bekannter Persönlichkeiten unterschiedlicher Disziplinen eingeladen, das Wirken des Gerichts zu analysieren und zu kommentieren. Dadurch soll, wie er einleitend bemerkt, „die Gesellschaft als Resonanzboden des Gerichts zu Wort kommen“ (S. 7).

Damit sollte nicht die Erwartung verbunden werden, diese Experten würden grundsätzlich neue und andere Perspektiven nutzen und Ergebnisse bringen als die üblicherweise bei solchen Anlässen gefragten Verfassungsrechtsexperten. Offenbar ist das Bundesverfassungsgericht so fest im politischen Bewusstsein der deutschen Gesellschaft verankert, dass immer wieder ähnliche Fragen gestellt werden und das Spektrum unterschiedlicher Antworten begrenzt ist. Auffällig ist auch, dass die Autoren häufig die gleichen Beispiele aus der Spruchpraxis heranziehen, nämlich die besonders viel diskutierten Entscheidungen – wie zum „Soldaten sind Mörder“-Zitat, das Lüth-Urteil, der Kruzifix-Beschluss oder die Urteile zum Lissabon-Vertrag und zur Vorratsdatenspeicherung. Dahinter steckt möglicherweise die (meines Erachtens) problematische Annahme, der Zugang zu dieser Gerichtsbarkeit erschließe sich am besten über viel gepriesene oder kritisierte Highlights.

Der Band enthält viel und viel bekanntes Lob des Gerichts. Betont werden sein hohes nationales und internationales Ansehen, seine Vorbildfunktion für viele andere Verfassungsgerichte („Exportschlager“), seine Autorität und machtvolle Stellung im politischen System, sein Beitrag zur Herausbildung des demokratischen Rechtsstaats in Deutschland oder seine Bereitschaft, gesellschaftlichen Wandel wahrzunehmen und in seiner Rechtsprechung zu verarbeiten. Besonders plastisch ist Heribert Prantls Beitrag „Politik? Natürlich ist das Politik!“ mit dem Untertitel: „Ohne Pomp und Pathos: Wie das Bundesverfassungsgericht Macht gewonnen und aus den Grundrechten eine Lebensordnung gemacht hat“ (S. 168–185). Er meint, Verfassungen ohne eine Durchsetzungsinstanz seien nichts wert. Das Bundesverfassungsgericht sei aus der Geschichte der Bundesrepublik nicht hinwegzudenken, ohne dass ihr Erfolg entfiele (S. 171).

Der Band spart aber auch nicht mit Kritik: am Aktionismus des Gerichts und an fehlender richterlicher Zurückhaltung; an der Bereitschaft des Bundesverfassungsgerichts, Fragen zu entscheiden, für die die Politik keine Lösung gefunden hätte; an der Suggestion einer gleichsam geschichtslosen Kontinuität der Verfassungsauslegung (Friedrich-Wilhelm Graf, S. 112); an der Ablösung der Volkssouveränität durch Verfassungssouveränität (Manfred G. Schmidt, S. 206); an der Einmischung in die angestammten Aufgaben des demokratischen Gesetzgebers und das Heranwachsen einer Juristokratie, die die Demokratie untergrabe (Otfried Höffe, S. 135), bzw. eine „expertokratische Brechung des Demokratieprinzips“ (Schmidt, S. 208).

In mehreren Beiträgen wird das Hineinwirken in den Bereich des Politischen, das „Regieren durch Richter“ angeprangert (etwa Höffe und Michael Zürn) und die Sorge um die Zerstörung der Autonomie des Politischen in dem vom Bundesverfassungsgericht weiträumig ausgebauten Rechtsstaat geäußert (Hans-Ulrich Wehler, S. 244). Besonders massiv ist die Kritik von Höffe. Deren Überzeugungskraft wird aber nicht zuletzt deshalb unterminiert, weil sie viele demokratie- und rechtstheoretische Erwägungen anstellt, offensichtlich ohne moderne Diskussionen dazu zu verarbeiten. Besonders naiv muten Höffes Ausführungen zur Missachtung des Gegensatzes von Recht und Politik an: „Ein Politiker muss Politik machen, […] einem Verfassungsrichter ist es […] verwehrt.“ (S. 132) Mehrere Beiträge widersprechen solchen Simplifizierungen. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive definiert etwa Schmidt den Begriff der Politik und betont, das Gericht betreibe „Politik (im Sinne von policy)“ durch mit Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit getroffene Entscheidungen über die Verteilung begehrter materieller oder immaterieller Güter; das Gericht sei eine zentrale Entscheidungsinstanz in nahezu allen Politikfeldern (S. 200f.). Robert Leicht hebt hervor, dass das Gericht unvermeidlich am politischen Verkehr unmittelbar teilhabe, wenn auch mit anderen Mitteln als Parlament und Regierung (S. 152). Ähnlich Prantl: „Wer darüber entscheiden darf, was Politik machen darf und was nicht, der macht Politik – also macht das Gericht Politik; es macht Politik auch dann, wenn es die anderen Gewalten gewähren lässt.“ (S. 178)

Höffe hätte besser den von ihm benutzten Politikbegriff offen legen und fragen sollen, auf welchem Wege und mit welchen Mitteln das Gericht Politik macht: nach Maßgabe der Verfahren, Maßstäbe und Entscheidungsregeln der Politik oder nach denen einer Gerichtsbarkeit? Das aber hätte den Einstieg in die rechtstheoretische Diskussion um den Begriff von Recht und die Methode und den Prozess der Rechtsanwendung sowie um die institutionelle Verfasstheit von Verfassungsgerichtsbarkeit erfordert. Stattdessen zieht Höffe es vor, als „schlichte[r] Philosoph oder einfache[r] Bürger“ ins Grundgesetz zu blicken (S. 131f.) – so als hätte das Grundgesetz schlichte Philosophen oder einfache Bürger zu Verfassungsrichtern bestellt. Die Notwendigkeit von Professionalität und der Einbindung in institutionelle Strukturen sollte auch für Philosophen wie Höffe erkennbar sein.

Dass demokratietheoretisch ausgerichtete Analysen differenzierende Vergleiche ermöglichen, zeigt der Beitrag von Fritz W. Scharpf. Er fragt vor dem Hintergrund der europäischen Integration, ob das Gericht als Hüter demokratischer Selbstgestaltungsfähigkeit der Gesellschaft wirken und die Handlungsfähigkeit der Politik sichern könne. Zum Thema werden Probleme transnationaler Problemverflechtung und insbesondere die wachsende Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg. Scharpf analysiert und vergleicht die Vorgehensweise des deutschen Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs. Hierbei stellt er fest, dass das Verfassungsgericht in umfassender Weise und dauerhaft in die Komplexität und Dynamik der deutschen Verfassungspraxis und in die Tradition und Kultur des Gemeinwesens eingebunden sei. Derartige zugleich beschränkende und legitimierende Rahmenbedingungen aber fehlten dem Europäischen Gerichtshof (S. 194). In der Folge habe die Grundrechtsjudikatur dieses Gerichts die Verfassungsbalance in den Mitgliedsstaaten kontinuierlich vom republikanischen zum liberal-individualistischen Pol hin verschoben (S. 194f.). Das Bundesverfassungsgericht sei aber nicht in der Lage, die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit der deutschen Politik gegen die negativen Kompetenzeffekte der Judikatur des Europäischen Gerichts zu verteidigen.

Die im Titel des Buches angekündigte Metapher von den „Herzkammern“ der Republik ist auf die beiden Senate des Gerichts („[a]uch Herzkammern arbeiten nicht immer störungsfrei“, S. 8) bezogen, wird im Band aber nicht weiter aufgegriffen. Auch unterbleibt eine Analyse der Unterschiedlichkeit der beiden Senate oder der formellen und informellen Wege, deren Judikate aufeinander abzustimmen oder das gerade nicht zu tun.

Hier zeigt sich ein Defizit: Die Arbeit des Gerichts wird anhand ihrer Ergebnisse, den Entscheidungen, beurteilt, nicht aber auch unter Rückgriff auf die Entscheidungsverfahren und die dort übliche Art der Problemanalyse und -lösung. Nicht thematisiert werden etwa die Nutzung externen Sachverstands oder Verfahren der Anhörung, auch nicht die Rolle der Berichterstatter und die Bedeutung ihrer Voten. Auch die Aufgabenverteilung zwischen Kammern und Senat und deren unterschiedliche, durchaus ergebnisrelevante Verfahren werden nicht zum Thema.

Nur begrenzt kommt das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und den europäischen Gerichten in den Blick. Gefragt wird etwa nicht, wieweit die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts auch von anderen nationalen Verfassungsgerichten beeinflusst wird. Die umgekehrte Einflussrichtung allerdings wird in den Beiträgen zur Entstehung und Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen und Ungarn thematisiert. Dass es auch andere Konzepte von Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, dass aber ein Trend in Richtung auf das Aufgabenverständnis des Bundesverfassungsgerichts zu bestehen scheint, zeigen die beiden Beiträge zum Vergleich der deutschen und französischen Rechtskultur und zur Entwicklung des Conseil Constitutionnel (Etienne François und Olivier Jouanjan).

Die Idee, eine Art Festschrift von Außenstehenden schreiben zu lassen, war originell. Neue oder gar überraschende Einsichten hat dieser Ansatz allerdings nicht gebracht. Dennoch: Wer sich über die Wirkungsmöglichkeiten des Gerichts und über Lob und Tadel seiner Aufgabenerfüllung informieren will und wer Anregungen für eigenes Nachdenken durch die Lektüre von Beiträgen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Ergebnissen sucht, dem sei der Band anempfohlen.

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