M. S. Birdal: The Holy Roman Empire and the Ottomans

Cover
Titel
The Holy Roman Empire and the Ottomans. From Global Imperial Power to Absolutist States


Autor(en)
Birdal, Mehmet Sinan
Erschienen
London 2011: I.B. Tauris
Anzahl Seiten
211 S.
Preis
£ 51.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ivan Parvev, Historische Fakultät, St. Kliment Ohridski Universität Sofia

Mehmet Sinan Birdal, der seine an der University of Southern California verteidigte Doktorarbeit nun in Buchform publiziert hat, verdeutlicht schon im ersten Satz des Vorworts, wie er zu seinem Forschungsthema gekommen ist: „This book was born out of my dissatisfaction as a young PhD student with the ahistoricism of international relations theory“ (S. XI). Da diese Feststellung durchaus berechtigt ist und insbesondere für die Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und den europäischen Mächten des 16.-17. Jahrhunderts zutrifft, ist man als Leser durchaus gespannt, wie Birdal diese Forschungslücke auffüllen will. Der Verfasser ist übrigens kein Historiker, sonst hätte er wohl die Schlacht von Nikopolis 1396 nicht zum „Crusade of Necropolis (!)“ mutieren lassen (S. 2). Das muss aber keineswegs bedeuten, dass dem Autor der Ansatz, die Forschung zu International Relations (IR) im positiven Sinne zu historisieren, verwehrt werden sollte.

Bereits nach der Lektüre der ersten Seiten wird klar, welchen Weg der Verfasser beschreiten möchte. Wer die Erwartung gehegt haben sollte, dass Birdal sich vor allem in die Details der habsburgisch-osmanischen Beziehungen vertieft, um über die spannenden Faktenketten eine Brücke zu den theoretischen Überlegungen der IR-Forschergemeinde zu schlagen, wird sicherlich enttäuscht werden. Denn statt diesen meines Erachtens logischen Weg zu gehen1, wählt der Autor eine andere Variante: nämlich die Gesellschaft des Osmanischen Reichs im 16. Jahrhundert mit den sozialen Strukturen des Heiligen Römischen Reichs zu vergleichen. Um diesen Vergleich noch plastischer zu gestalten, glaubt Birdal drei einführende Abschnitte einfügen zu müssen: From Empires to Absolutist States: Political Change in Early Modern Europe (S. 23-43); Institutions and World-Views (S. 44-58); Legal Evolutions and State Formation: A Comparison of Roman Law and Islamic Law (S. 59-85). Wenn man bedenkt, dass der Umfang des Buches ohne Fußnoten 155 Seiten beträgt, entfallen auf den eigentlichen Vergleich zwischen den Reichen Karls V. und Süleymans I. etwa 70 Seiten, also weniger als die Hälfte des Manuskripts.

Der Überblick über die verschiedenen Entwicklungsvarianten von Staat und Gesellschaft im frühneuzeitlichen Europa sowie die Skizzierung neuerer Forschungsansätze, die der Verfasser ohne Zweifel gut kennt, hat einen Informationswert, der insbesondere für Studierende interessant sein dürfte. Ob die besagten Passagen für den Vergleich der sozialen Strukturen des Heiligen Römischen und des Osmanischen Reichs nützlich sind, kann allerdings bezweifelt werden. Die Suche nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen dem römischen und dem islamischen Recht hingegen ist für diesen Zweck eher geeignet, fühlten sich doch Karl V. und Süleyman I. dem jeweiligen Rechtsverständnis stark verpflichtet. Die zwei letzten Abschnitte des Buches behandeln nacheinander die Staatsbildung in den beiden Reichen (S. 86-116, 117-148). Am Ende findet man eine sechsseitige Schlussbetrachtung, die den Vergleich noch einmal zusammenfasst.

Bei der Verteidigung von studentischen Diplomarbeiten pflegte ein Professor den betreffenden Studierenden immer wieder dieselbe Frage zu stellen: „Können Sie uns kurz skizzieren, was wir nach der Lektüre ihrer Arbeit neues erfahren haben, was wir vorher nicht wussten oder ahnten?“ Anders formuliert: Er wollte sich erkundigen, wo der wissenschaftliche Beitrag der Arbeit zu verorten ist. In einer Buchbesprechung ist eine solche Frage ebenso berechtigt, nur muss man sie anhand des Textes selber beantworten. Für die historische Aufarbeitung der Beziehungen zwischen dem Heiligen Römischen und dem Osmanischen Reich enthält das Buch keine neuen Fakten, was Birdal aber auch nicht bezweckt hat. Es finden sich jedoch einige Behauptungen, die auf jeden Fall einer Klärung bedürfen – etwa, dass es 1774 einen österreichischen Vorschlag gegeben habe, „to include the Ottoman state in the European society of states“ (S. 138). Welcher österreichische Vorschlag zur Einbeziehung des Osmanischen Reichs in das europäische Staatensystem gemeint ist, welche Formulierung Kaunitz, Joseph II. oder Maria Theresia benutzten – das bleibt dem Leser vorenthalten.

Der Verfasser sieht sich zwar nicht als Forscher, der den Faktensteinbruch der habsburgisch-osmanischen Beziehungen durch tieferes Bohren weiter freilegen möchte. Er hat aber keine Bedenken, neue Interpretationen aus der osmanischen und der muslimischen Geschichte in ihrer Beziehung zum Europa der Frühen Neuzeit zu formulieren. Hier seien einige genannt:
- Indem er sich auf die Studie von John Kautsky2 bezieht, glaubt er, sowohl im Heiligen Römischen als auch im Osmanischen Reich „aristocratic empires“ sehen zu können (S. 26, 57).
- Er bezweifelt, dass das sehr verbreitete Argument, Kirche und Staat seien im Islam wegen theologischer Anschauungen nicht getrennt, stichhaltig ist (S. 66).
- Gestützt auf die Arbeit von Marshall Hodgson3 stellt er die These auf, dass die soziale Organisation weder im Islam noch im christlichen Abendland direkt aus der Religion abgeleitet werden könne (S. 69).
- Birdal bestreitet im Anschluss an Wael Hallaq4 die Auffassung westlicher Forscher, dass im 11. Jahrhundert das sogenannte „closing the gates of ‘ijtihad’ (legal reasoning)“ eingetreten sei. Überhaupt gebe es in der Entwicklung der Jurisprudenz zwischen dem christlichen Abendland und dem Nahen Osten große Ähnlichkeiten (S. 77).
- Der Verfasser vertritt die These, dass der Großteil des öffentlichen Rechts im Osmanischen Reich außerhalb der Scharia gestanden habe (S. 83).
- Birdal ist überzeugt, dass der Weltherrschaftsanspruch des Osmanischen Reichs nicht über die Religion erklärt werden könne. Diese Annahme sei das Ergebnis einer unkritischen Lektüre von Quellen westeuropäischer und osmanischer Provenienz (S. 132).

Es ist nicht nötig, auf die oben angeführten Thesen einzeln einzugehen, zumal einige von ihnen historisch unhaltbar formuliert sind – zum Beispiel die Vorstellung, dass das Osmanische Reich als „aristocratic empire“ betrachtet werden könne, also sich in dieser Beziehung nicht vom Heiligen Römischen Reich unterschieden habe. Wo Birdal das osmanische Pendant zu den Fürsten und Kurfürsten, dem Hochadel des Alten Reichs, zu sehen glaubt, bleibt ein Rätsel. Ebenso verwundert es, wenn der Autor das ohne Zweifel muslimische Osmanische Reich des 16.-17. Jahrhundert rückblickend zu säkularisieren versucht oder den islamischen Rechtstraditionen und der islamischen Rechtspraxis ihre religiöse Basis entzieht, um sie auf der Ebene des Rationalismus mit den abendländischen juristischen Traditionen gleichziehen zu lassen. Die unterschwellige Botschaft, dass die sozialen Strukturen des Osmanischen Reichs sich eigentlich nicht von denen des Heiligen Römischen Reichs unterschieden, würde ein/e Historiker/in bzw. Osmanist/in sicherlich nicht formulieren.

Das Bedürfnis, alles in der Geschichte ohne Vorurteile und vorgefasste Meinung zu sehen (und zu erklären), ist an sich etwas Positives. Wenn man aber das konkret Historische verdrängt bzw. die Differenzen ausblendet, um unbedingt auf Gemeinsamkeiten zu verweisen, könnte solch ein Streben nach Revisionismus eines Tages dazu führen, dass jemand auf die Idee kommt, „Ferienlager“ mit „Arbeitslager“ zu vergleichen. Ähnlichkeiten gäbe es da sicherlich – etwa dass in beiden Fällen der Ein- und Ausgang kontrolliert wird. Nach diesem Muster wären auch Kannibalen und Veganer positiv vergleichbar, haben sie doch als Vertreter des Homo sapiens einen Kopf, zwei Hände, zwei Beine und den gleichen Verdauungstrakt. Verfolgte man einen solchen Forschungsansatz kritiklos, wäre man nicht imstande, die Unterschiede zwischen Demokratie und Totalitarismus oder zwischen dem Russland der Zaren und Sowjetrussland richtig zu erkennen. Dadurch würde aber die Geschichtsforschung ihren Objektivitätsanspruch sicherlich verspielen.

Andererseits, um auf Birdals Vergleichsanalyse zurückzukommen, ist es immer wieder interessant zu sehen, wie sich Forscher die Mühe machen, nach vermeintlichen Gemeinsamkeiten zwischen Phänomenen zu suchen, wenn es doch sehr viel einfacher wäre, die Unterschiede aufzuzählen, die auf Anhieb zu verorten sind. Im Übrigen ist die Idee, das Osmanische Reich mit einem anderen Reich in Europa zu vergleichen, zwar gar nicht so abwegig. Allerdings erscheint mir die Wahl des Heiligen Römischen Reichs als Achse des Vergleichs nicht ganz gelungen. Birdal wäre besser beraten gewesen, den osmanischen Staat und seine sozialen Strukturen etwa mit dem Staatssystem und dem sozialen Gefüge Russlands zu vergleichen. In diesem Fall hätte man zwei Apfelsorten verglichen und nicht Äpfel mit Birnen. „The ahistoricism of international relations theory“, den der Verfasser beklagt und der ihn zu seinem Thema geführt hat, wird wohl auch in Zukunft ein Problem der IR-Forschung bleiben.

Anmerkungen:
1 Vgl. allgemein zu den Beziehungen der Osmanen zu den europäischen Mächten Ivan Parvev, „Krieg der Welten“ oder „Balance of Power“. Europa und die Osmanen, 1300-1856, in: Irene Dingel / Matthias Schnettger (Hrsg.), Auf dem Weg nach Europa. Deutungen, Visionen, Wirklichkeiten, Göttingen 2010, S. 131-146.
2 John H. Kautsky, The Politics of Aristocratic Empires, New Brunswick 1997 (1. Ausgabe 1982).
3 Marshall G. S. Hodgson, The Venture of Islam: Conscience and History in a World Civilization, vol. 2: The Expansion of Islam in the Middle Periods, Chicago 1977.
4 Wael B. Hallaq, Was the Gate of Ijtihad Closed? (1984), in: ders., Law and Legal Theory in Classical and Medieval Islam, Aldershot 1995, Kap. 5, S. 33f.