S. Samida (Hrsg.): Inszenierte Wissenschaft

Cover
Titel
Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert


Herausgeber
Samida, Stefanie
Reihe
Histoire 21
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ellinor Schweighöfer, Justus-Liebig-Universität Gießen

Der vorliegende Sammelband geht auf die von der Herausgeberin Stefanie Samida organisierte Tübinger Tagung „Inszenierte Wissenschaft. Vermittlung und Rezeption von Wissen im 19. Jahrhundert“ im Februar 2011 zurück. Er knüpft an zwei Forschungsstränge an: die vor allem in der Geschichtswissenschaft zu verortende Forschung zur Popularisierung der Wissenschaft1 und kulturwissenschaftliche, vor allem durch Ansätze aus der Sprach- und Literaturwissenschaft sowie auch der Philosophie geprägte, Untersuchungen zur Performativität.2 Die dem Band zu Grunde liegende These ist, dass Wissenschaft im 19. Jahrhundert oft und auf viele verschiedene Weisen inszeniert wurde. Dies sollen die unterschiedlichen Fallstudien des Sammelbandes herausarbeiten, auch unter besonderer Beachtung möglicher Parallelen zwischen den einzelnen Wissenschaftsbereichen und Protagonisten. Die Inszenierenden waren neben Wissenschaftlern auch wissenschaftliche Laien und zeitgenössische Medien (S. 15).

Als ein roter Faden zieht sich die Rolle des Individuums bei der Inszenierung von Wissenschaft durch den Sammelband. Wissenschaftler inszenierten nicht nur Wissenschaft, sondern auch sich selbst und wurden zudem selbst inszeniert, etwa durch zeitgenössische Medien. Dies wird in einem von drei Teilen des Buches, der mit „Akteure“ überschriebenen ist, durch Fallbeispiele verdeutlicht. Manfred K.H. Eggert etwa führt mit Henry Morton Stanleys Afrikaexpeditionen in den Jahren 1871–72 und 1874–1877 ein Paradebeispiel der medial inszenierten Forschungsreise an, zumal sie von Stanley in seiner Funktion als Journalist durchgeführt und von Zeitungen finanziert wurde. Er zeigt auf, wie das Bild, das die Öffentlichkeit von Stanley als Person hatte, von den Medien geschaffen wurde und dieser zugleich die ihm von medialer Seite gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen wusste. Quasi nebenher schafft es Eggert, eines der gewichtigen Themen des 19. Jahrhunderts, den europäischen Kolonialismus, als einen Faktor bei der medialen Inszenierung von Wissenschaft miteinzubeziehen. Stanley sei zum einen eine Persönlichkeit, wie man sie landläufig mit der Verbreitung des europäischen Kolonialismus in Zusammenhang gebracht habe. Die Person Stanleys könne zum anderen als Verknüpfungspunkt zwischen Kolonialismus und Massenmedien aufgefasst werden (S. 290). Ulrich Veit legt mit dem Prähistoriker Gustaf Kossinna (1858–1931) ebenfalls ein Beispiel dar, bei dem eine Person bewusst seinen Bekanntheitsgrad in Wissenschaft und Öffentlichkeit forcierte, und zeigt, dass dies nicht immer von ganz so großem Erfolg gekrönt war wie etwa im Fall Heinrich Schliemanns, den Stefanie Samidas Beitrag behandelt. Dafür lassen sich am Beispiel Kossinna mehrere für das Phänomen der Wissenspopularisierung grundlegende Punkte analysieren: etwa der Übergang von der „Wissenschaftspopularisierung“, der es primär um die Erweiterung des klassischen Bildungskanons um wissenschaftliche Inhalte geht, zur „Wissenschaftsvermittung“, die auf eine allgemein verständliche Vermittlung von Wissenschaft zielt, oder die große Bedeutung von Vereinen als Orte der gemeinschaftlichen Generierung von Wissen durch Laien und Wissenschaftler. Nicht zuletzt betont Veit immer wieder, welche Bedeutung das Verhältnis von ‚Expertenwissen’ und popularisiertem Wissen für das Fach Archäologie heute hat.

Auch Beiträge aus den beiden weiteren Kapiteln „Medien“ und „Praktiken“ widmen sich dem Themenkomplex der Inszenierung von individuellen Personen sowie der performativen Rolle Einzelner. Angela Schwarz beschäftigt sich mit den Reklamebildern, das heißt mit dem für die Vermittlung von Wissenschaftlerbildern im 19. Jahrhundert mutmaßlich verbreitetsten, wenngleich von der Forschung vergleichsweise wenig beachteten, Medium. Sie demonstriert deren Bedeutung für die Wissenschaftspopularisierung, zumal durch die Reklamebilder die Distanz zum ‚intelligenten Sonderling’, als welcher Wissenschaftler oftmals angesehen wurden und werden, abgebaut werden konnte. Marianne Sommer geht mit den Osborn-Knight Restaurationen auf ein Fundament der Paläokunst ein. Sie macht eindrucksvoll deutlich, wie ausschlaggebend dabei die unterschiedlichen Persönlichkeiten von wissenschaftlichem Auftraggeber und Künstler waren. Sommer beleuchtet den komplexen, durch wissenschaftliche Auffassungen, künstlerische Anforderungen und praktische Rahmenbedingungen bedingten Produktionsprozess. Dabei veranschaulicht sie, wie zeitgenössische Weltanschauung die Bilder beeinflusste, die Bilder wiederum die allgemeine Vorstellung in Bezug auf die Vorgeschichte bis heute beeinflussen.

Die Rolle der Bildhaftigkeit in weitestem Sinne als Mittel für oder Ausdruck von inszenierter Wissenschaft zieht sich als ein weiterer roter Faden durch den Sammelband. Zu nennen wären hier noch einmal beispielsweise die Beiträge von Angela Schwarz und Marianne Sommer oder auch der von Christoph Gradmann, der eindrucksvoll am Beispiel der Bakteriologie darlegt, wie Metaphern aus dem politischen bzw. wissenschaftlichen Bereich wechselseitig mit neuer Bedeutung aufgeladen werden können. Gradmann demonstriert dabei, wie viele Nuancen bei der Verwendung wissenschaftlicher Metaphern zum Tragen kommen können, etwa indem er diese aus der Bakteriologie mit denen der Darwinschen Evolutionsbiologie vergleicht oder mit der Verwendung bakteriologischer Termini in der anti-jüdischen Drittereichspropaganda das grausamste Beispiel aufzeigt.

Die politische Dimension bleibt auch in anderen Beiträgen nicht außen vor und macht deutlich, dass es genaugenommen neben den beiden oben genannten Forschungssträngen, die der Band aufgreift, eine weitere Richtung gibt, die er touchiert. In den letzten zwei Jahrzehnten stieg die Zahl der Arbeiten, die den Zusammenhang von Archäologie und Politik zunächst im 20. Jahrhundert, dann auch im 19. Jahrhundert fokussierten.3 Stefanie Samidas Sammelband trägt politischen Motiven als initiierend oder profitierend bei Inszenierungen in der Archäologie und anderen wissenschaftlichen Disziplinen ebenfalls Rechnung, wobei er mögliche andere Motive nie aus dem Blick verliert. Dass fast die Hälfte der 13 Fallbeispiele aus den Themenfeldern Archäologie und Altertumswissenschaften, darüber hinaus noch ein paar weitere aus Paläontologie und Evolutionsbiologie stammen, scheint nur auf den ersten Blick ausschließlich der fachlichen Ausrichtung der Herausgeberin Stefanie Samida geschuldet, einer promovierten Medienwissenschaftlerin, mit einem Abschluss auch in Archäologie und Geschichte sowie seit einiger Zeit am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen beschäftigt. Bewusst wollte Samida im Rahmen einer interdisziplinären Tagung bzw. eines solchen Sammelbandes Vertreter der Geschichtswissenschaft, Wissenschaftsgeschichte, Medizingeschichte, Technikgeschichte und Literaturwissenschaft mit Wissenschaftlern aus den archäologischen Fächern zusammenbringen, zumal ihres Erachtens die Forschungen von Seiten solcher „kleiner Fächer“ zu wissenschaftshistorischen Fragen bei den Vertretern der oben genannten Disziplinen noch auf wenig Aufmerksamkeit gestoßen seien (S. 15). Die gründliche Beachtung der archäologischen Disziplinen macht meines Erachtens auch deshalb Sinn, weil die Archäologie als Ganze einen Raum für Schnittstellen zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften bietet. Diese Ausrichtung ist deshalb auch im Einklang mit dem von Stefanie Samida formulierten Ziel, im Sammelband „insbesondere die Forschungen zur Popularisierung der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften im sogenannten ‚langen’ 19. Jahrhundert unter inhaltlichen Gesichtspunkten zusammen[zu]führen“ (S. 15), zumal die ersten grundlegenden Forschungen zur Popularisierung der Wissenschaft sich auf die Naturwissenschaften konzentrierten und in der Untersuchung der Geisteswissenschaften noch Nachholbedarf besteht.

Der Band behandelt hauptsächlich Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum, mit einem Seitenblick auf den englischsprachigen. Es wäre zu fragen, inwiefern es sich bei den herausgearbeiteten Befunden um nationale Spezifika oder um transnational auftretende Phänomene handelt. Zudem könnte für eine weitergehende Erforschung eine diachrone Untersuchungsebene eingeflochten werden, also ein vergleichender Blick über den hier festgelegten Untersuchungszeitraum hinaus. Das von Stefanie Samida in der Einleitung formulierte Ziel, „eine Basis für weitere fachübergreifende Forschungen [zu] legen“ (S. 16) ist aber hervorragend erfüllt worden. Die einzelnen Beiträge sprechen für sich und liefern Anregungen zur weiteren Forschung, wobei sie sich gleichzeitig sehr gut in die schlüssige Gesamtkonzeption des Sammelbandes fügen und aufschlussreiche Thesen zu dessen Leitthema liefern.

Anmerkungen:
1 Für einen Überblick über diese Forschungsrichtung siehe z.B. Carsten Kretschmann, Einleitung. Wissenspopularisierung – ein altes, neues Forschungsfeld, in: ders. (Hrsg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin 2003, S. 7–21.
2 Frank Bösch, Ereignisse, Performanz und Medien in historischer Perspektive, in: ders. / Patrick Schmidt (Hrsg.), Medialisierte Ereignisse. Performanz, Inszenierung und Medien seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010, S. 7–29, bes. S. 11ff.
3 Vgl. Klaus Junker: Rezension zu: Margarita Díaz-Andreu, A World History of Nineteenth-Century Archaeology. Nationalism, Colonialism, and the Past. Oxford 2007, in: sehepunkte, <http://www.sehepunkte.de/2009/07/14061.html> (01.08.2012).