H.-P. Müller: Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft

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Titel
Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft im Wettbewerb mit dem DGB. Geschichte der DAG 1947-2001


Autor(en)
Müller, Hans-Peter
Erschienen
Baden-Baden 2011: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
924 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Rehling, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz

Nach dem Abklingen eines regelrechten Booms in den 1970er- und 1980er-Jahren ist es in den letzten zwei Jahrzehnten um die Arbeitsbeziehungen und die Gewerkschaften in der Geschichtswissenschaft still geworden. Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichtsschreibung hat sich nach dem Bürgertum verstärkt Gewerkschafter- und Politikerbiographien sowie Unternehmer- bzw. Unternehmensgeschichten zugewandt. Wenn die Verbände in den Blick genommen wurden, dann konzentrierte sich die Analyse vor allem auf die Frühgeschichte der Bundesrepublik, um sie auf Amerikanisierungs- oder Westernisierungsprozesse zu befragen.1

Daher sind bisher nur wenige geschichtswissenschaftliche Studien über die Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik oder die Geschichte der entsprechenden Verbände vorhanden. Diese Diagnose ist umso bedauerlicher, als in den Wirtschaftsgeschichten der Bundesrepublik immer wieder der prägende Einfluss der Sozialpartnerschaft sowie der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände betont wurde. Unter dem Eindruck der Debatte um einen "Strukturbruch" in den 1970er-Jahren und der Auseinandersetzung mit den Krisen und Erfolgen eines vermeintlichen "Modell Deutschland" in einer globalen Wirtschaft zeichnet sich in den letzten Jahren zart eine neue Blüte der Themen Arbeitsbeziehungen und Verbandsgeschichte ab. Gleich mehrere Forschungsprojekte sind auf dem Weg, in denen das Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in einzelnen Unternehmen betrachtet, vor allem aber Branchenzusammenhänge analysiert und international verglichen werden. Außerdem richtet sich der Blick verstärkt auf die Verbände und ihren politischen Einfluss.2

Die vorliegende Studie zur Geschichte der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) ist in diesen Kontext nur bedingt einzuordnen. Hans-Peter Müller ist kein Historiker, sondern nach eigenem Bekunden "empirischer Sozialforscher", den es reizte, im "komplett erhaltenen schriftlichen Vermächtnis eines ganzen Verbandes ohne Beschränkungen und Sperrvermerke und dazu in gleichsam noch 'warmer' Geschichte zu forschen" (S. 5). Er verortet sich dementsprechend kaum in der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Diskussion, sondern schließt vor allem an die sozialwissenschaftliche Forschung zu den industriellen Beziehungen und zum Korporatismus an. Trotzdem trägt er mit seiner klassischen Strukturgeschichte der DAG von ihren Anfängen 1947/48 bis zu ihrem Aufgehen in ver.di 2001 zweifellos auch aus geschichtswissenschaftlicher Sicht dazu bei, einige Lücken zu schließen.

In den Mittelpunkt seiner Analyse stellt Müller das Verhältnis der DAG zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und die Frage, inwiefern es berechtigt war, die Angestelltengewerkschaft als "Standesorganisation" zu klassifizieren. Dazu werden der Beitrag der DAG zur Ausgestaltung des bundesdeutschen Sozialstaates und ihre Rolle in den Selbstverwaltungsorganen des Sozialversicherungssystems analysiert. Der Aufbau der Studie in fünf Abschnitten folgt deshalb einerseits der Chronologie der in diesem Kontext relevanten sozial-, gesellschafts- und arbeitsmarktpolitischen Gesetzesinitiativen, soll aber auch den Zäsuren in der Verbandsstruktur und -politik Rechnung tragen.

Im ersten Abschnitt analysiert Müller den "Sonderweg der Angestellten" im Bereich der Sozialversicherung. Aus seiner Sicht hat der Kampf gegen die Einheitsversicherung und für die Beibehaltung der Angestelltenversicherung sowie die Schaffung eines gegliederten Sozialversicherungssystems der Etablierung einer vom DGB unabhängigen Angestelltengewerkschaft Vorschub geleistet. Insbesondere in den Sozialwahlen habe sich die mobilisierende Qualität dieser Fragen niedergeschlagen. Die DAG, deren Mitgliederentwicklung im Angestelltensegment hinter dem DGB zurückblieb und der es in Tarifauseinandersetzungen immer wieder an Schlagkraft fehlte, konnte vor allem hier Erfolge verbuchen. Gleichzeitig richtete sich das Engagement der DAG auf die Bildungsarbeit. Beides sollte dazu dienen, den Status der Angestellten als eigenständige Sozialformation zu stärken. So sollten Privilegien legitimiert und ihr Abbau ebenso wie Statusverluste abgewehrt werden. Obwohl er diese Dimension der Angestelltenpolitik der DAG anerkennt, möchte Müller sie nicht nur als berufsständische Besitzstandswahrung begriffen wissen. Er wird nicht müde, den modernen Charakter der Politikziele der Angestelltengewerkschaft zu betonen. So sei die Angestelltenrente, die sich am erreichten Lebensstandard orientiert habe, ein "ungemein moderne[s] Konzept" gewesen. Ihre paritätische Finanzierung habe einen "sozialstaatlichen Modernisierungssprung symbolisiert, der das deutsche Sozialversicherungswesen zum Modellfall" gemacht habe (S. 34f.). Die Bildungsarbeit der DAG sei ein "Wegweiser eines modernen beruflichen Fortbildungswesens" (S. 151) geworden und verkörpere eine "wegweisende, systemstabilisierende und unverkennbar reformistisch-gewerkschaftliche und nicht etwa berufsständische" Orientierung (S. 151).

Diese aus der Ex-Post-Perspektive getroffene Diagnose vom ausgesprochen modernen Charakter der Angestelltengewerkschaft, der im Vergleich zum DGB nicht selten die "realistischere" Situationsanalyse attestiert wird, erzeugt eine dauerhafte, nicht aufgelöste Dissonanz zu den aus dieser Perspektive nicht so modernen Aspekten der Angestelltenpolitik. So bleibt in den folgenden Teilen der Kampf um die "soziale Eigengeltung der Angestellten" bei allen "modernen" Vorstößen ein beherrschendes Motiv. Bei der "strategischen Positionierung als Spitzenverband", mit der sich der zweite Abschnitt befasst, wurde der Anspruch auf Gleichberechtigung mit dem DGB von der DAG vor allem dadurch legitimiert, dass auf den unterschätzten, von Nivellierung bedrohten Wert der Angestellten als mittlere Wert- und Funktionselite rekurriert und ihre integrierende Qualität für die bundesrepublikanische Gesellschaft betont wurde. Dafür wurden zunächst durchaus auch sozialrassistische und eugenische Argumente bemüht.

Auch in den "Neuordnungsvorstellungen der Angestellten" nach dem Zweiten Weltkrieg und den "Auswirkungen des industriegesellschaftlichen Wandels" auf die DAG, die im dritten und vierten Teil untersucht werden, blieb das Postulat elementar, dass es sich bei den Angestellten um eine eigenständige soziale Formation handele, die nicht geeignet sei, in der Kategorie des Arbeitnehmers aufzugehen. Es prägte die Position der DAG in der Mitbestimmungsfrage und bei der Forderung nach Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Es beschäftigte aber auch die soziologische Forschung der frühen Bundesrepublik in ihrer Deutung der industriegesellschaftlichen Entwicklung, so dass es für die DAG eine organisatorische Überlebensfrage blieb, sich zu dieser Frage auch wissenschaftlich fundiert zu positionieren. Als sie in der Automationsdebatte in diesem Punkt die Themenhegemonie an den DGB verlor, läutete das – so Müller – das Ende ihrer organisatorischen Eigenständigkeit ein, das 2001 durch die Gründung von ver.di besiegelt wurde.

Die Differenzierung zwischen "traditionellen" und "rückwärtsgewandten" versus "modernen" und "zukunftsorientierten" Elementen in der Politik der DAG überzeugt angesichts dieses andauernden Kampfes um die Anerkennung der Angestellten als soziale Formation, der begleitet wurde von dem Bemühen, sich als moderner Gewerkschaftsverband zu positionieren, also nicht ganz. Sie läuft vielmehr Gefahr zu überdecken, wie eng Kontinuitäten und Neuorientierungen durch Wahrnehmungen, Erfahrungen und Interpretationen, aber auch Lernprozesse der Akteure aufeinander bezogen und miteinander verwoben waren. Der Umgang mit den ehemaligen Mitgliedern des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands sowie ehemaligen NSDAP-Mitgliedern einerseits und der gefürchtete, aber ausbleibende "Durchbruch" der nationalkonservativen Fraktion in der DAG andererseits hätten sich aus einer solchen Perspektive wahrscheinlich ebenso erklären lassen wie das Fortleben beruflicher Orientierungen auch in den industrieverbandlich organisierten Gewerkschaften, das sich gegen eine Abgrenzung berufsständisch-traditionaler von gewerkschaftlich-moderner Politik sperrt. Auch die an verschiedenen Stellen diagnostizierten korporativen bzw. neokorporativen Orientierungen der DAG hätten durch einen in dieser Form erweiterten Interpretationsrahmen an Spezifik gewinnen können. Darüber hinaus ist es mit Blick auf die Sozialstruktur der DAG überraschend, dass die Gender-Perspektive eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielt. Sie hätte mit Blick auf die Witwenversorgung als konstitutives Element angestellter Bürgerlichkeit, aber auch auf den vergleichsweise hohen Frauenanteil in der Gewerkschaft insgesamt sowie in ihren Führungspositionen und auf prägende Persönlichkeiten wie Gerda Hesse wahrscheinlich noch weitergehendes Erkenntnispotential gehabt.

Insgesamt lässt sich aber festhalten, dass Hans-Peter Müller in seiner umfangreichen Studie dringend erforderliche empirische Grundlagenarbeit geleistet hat. Quellenbasiert bietet er in einem Längsschnitt tiefe Einblicke in die Arbeit der bundesrepublikanischen Gewerkschaften, ihr Verhältnis zueinander und ihre Strategien in unterschiedlichen Politikfeldern. Bleibt zu hoffen, dass seine Analyse weiterführende, historische Forschungen zu den Arbeitsbeziehungen und den sie prägenden Verbänden anregen wird.

Anmerkungen:
1 Volker Berghahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1985; Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003.
2 Volker Ebert, Korporatismus zwischen Bonn und Brüssel. Die Beteiligung deutscher Unternehmensverbände an der Güterverkehrspolitik (1957-1972), Stuttgart 2010; Werner Bührer, Die Spitzenverbände der westdeutschen Industrie und die europäische Integration seit 1945. Motive, Konzepte, Politik, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2008, H.2, S. 53-72; Stefan Remeke, Gewerkschaften und Sozialgesetzgebung. DGB und Arbeitnehmerschutz in der Reformphase der sozialliberalen Koalition, Essen 2005.

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