Titel
Spektrum - Den svenska drömmen [Spektrum. Der schwedische Traum]. Tidskrift och förlag i 1930-talets kultur [Zeitschrift und Verlag in der Kultur der 1930er Jahre]


Autor(en)
Svedjedal, Johan
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S
Preis
SEK 199,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Kuchenbuch, Institut für Geschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen

Die frühen 1930er-Jahre sind wichtige Jahre der schwedischen Geschichte: 1930 findet die viel diskutierte modernistische Architektur- und Kunstgewerbeausstellung "Stockholmsutställningen" statt, 1931 eskaliert im nordschwedischen Ådalen ein Arbeitskonflikt bis zur Tötung streikender Arbeiter durch das Militär, ein Jahr später geht das Wirtschaftsimperium des Zündholzmagnaten Ivar Kreuger in Konkurs. All diese Ereignisse tragen zum Wahlerfolg der Sozialdemokraten 1932 bei, die sich nun dem Bau des "Volksheims" widmen – jenem Integrations- und Wohlfahrtsprojekt, das auch die deutsche Historiografie vermehrt diskutiert, und zwar ausgehend von einem Erkenntnisinteresse, das auf Modernitätsvarianten in verschiedenen Ländern gerichtet ist, ohne dabei grenzüberschreitende Transfers und Beobachtungsverhältnisse außer Acht zu lassen 1. Hierzu leistet der Literaturwissenschaftler Johan Svedjedal mit seiner Darstellung der Geschichte der Literatur- und Kulturzeitschrift "Spektrum" einen interessanten Beitrag. Man könnte fragen, was eine Studie über ein Periodikum, das nur zwischen 1931 und 1935, in kleiner Stückzahl und noch dazu in nur einem knappen Dutzend Ausgaben erschienen ist, mit Blick auf derartig umfassende Ansätze leisten kann. Schnell offenbart sich bei Lektüre des Buchs aber, dass wir es hier mit der Darstellung eines wichtigen Durchsetzungsmoments der Moderne in Schweden zu tun haben, die zudem transnationale Netzwerke berücksichtigt.

"Spektrum" wurde von einem Kreis rund um die Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker Karin Boye (1900-1941), Gunnar Ekelöf (1907-1968), Erik Mesterson (1903-2004) und Josef Riwkin (1909-1965) ins Leben gerufen. Die Gruppe kannte sich teils vom Studium her, teils aus der Stockholmer Sektion der sozialistischen Organisation Clarté. Die Akteure vereinte ein dezidiert antibürgerlicher und antikapitalistischer Habitus, dieser wiederum koppelte sich an einen Rationalismus, der von der Psychoanalyse und vom antimetaphysischen "Wertnihilismus" des Philosophen Axel Hägerström geprägt war. "Spektrum" verfolgte ein politisch-kulturelles Aufklärungsprojekt, das gleichermaßen auf die Schaffung einer neuen Ästhetik wie eines vernünftigeren, freieren und zugleich solidarischeren Menschen abzielte. So fand sich in der Zeitschrift Lyrik neben Aufsätzen zur Psychoanalyse oder Sexualforschung; schwedische Nachwuchsdichter erschienen neben Autoren wie Erich Fromm, Wilhelm Reich und Anna Freud und Übersetzungen und Besprechungen von Texten T.S. Eliots, Rimbauds oder des französischen Surrealismus. Die Zeitschrift sollte von Beginn an auch die Karrieren Boyes und mehr noch Ekelöfs fördern, dessen Gedichtsammlung "Sent på jorden" ("Spät auf Erden") 1932 als erstes Buch im kurz nach der Zeitschrift gegründeten Spektrum-Verlag erschien, der zudem Romane etwa André Gides und Sachbücher etwa zum modernen Tanz oder zur Sowjetökonomie publizierte. "Spektrum" schreckte nicht vor gezielten Angriffen auf "reaktionäre" Figuren des schwedischen Kulturlebens zurück; die Zeitschrift zeichnete sich aber nicht nur durch ihre Inhalte, sondern auch durch ihre Gestaltung aus – durch Anna Riwkin-Bricks unkonventionelle Fotografien und ein seriphenloses Schriftbild. "Spektrum" bot überdies jungen politischen Reformern eine Plattform, so dem Nationalökonomen Gunnar Myrdal, der hier frühe Überlegungen zu einer "prophylaktischen Sozialpolitik" präsentierte. Eng verbunden mit der Redaktion waren funktionalistische Architekten wie Sven Markelius und Uno Åhrén – "Spektrum" widmete sogar ein Sonderheft dem Thema "Architektur und Gesellschaft", aus dem sich ein eigenständiges Periodikum entwickelte.

Svedjedal geht es aber nicht nur um den Nachweis solcher Vermittlungs- und Vernetzungserfolge. Seine überwiegend chronologisch angelegte Studie ist zugleich eine – teils auf bisher nicht verwendetem Archivmaterial beruhende – Kollektivbiografie der involvierten Akteure. Literaturwissenschaftler mögen textimmanente Interpretationen vermissen; die Stärke des Buchs liegt aber in diesem kontextualisierenden Ansatz. So befasst sich Svedjedal mit der Professionalisierung Riwkins beim Versuch, "Spektrum" in der schwedischen Verlagslandschaft zu positionieren, und beschreibt genau die kleine, aber stark meinungsbildende Szene von Kulturzeitschriften im Stockholm der 1930er-Jahre. Riwkin entwickelte richtungweisende Verlagsstrategien, er war ein Pionier des preisgünstigen Taschenbuchs; dennoch litten Zeitschrift und Verlag chronisch unter Geldnot, was die Redakteure sogar halbseidene Geschäfte betreiben ließ – beispielsweise war man am Valutaschmuggel aus Deutschland beteiligt. Aus dem hochtrabenden utopischen Projekt der ersten Jahre wurde nach und nach ein durch Reklame finanziertes Unternehmen, was in gewissem Widerspruch zur sozialistischen Grundhaltung der Herausgeber stand. Das Ideal der Redakteure vom "neuen Menschen" hatte stark auf ihren Alltag abgefärbt: Sie arbeiteten und wohnten zeitweise als Kollektiv zusammen, was immer wieder zu Konflikten führte, aber auch zu Dreiecksbeziehungen, die durch den entschieden offenen Habitus der Akteure in erotischen Fragen noch verkompliziert wurden.

Svedjedal identifiziert den "schwedischen Traum" – den er immerhin in den Titel des Buchs stellt – recht eng mit einem Befreiungsprojekt, das vom Versprechen der Psychoanalyse geprägt war. Nun ist der Titel sicher auch Verlagspolitik, er bedient eine in Schweden verbreitete Nostalgie den progressiven Tendenzen der Zwischenkriegszeit gegenüber. Allerdings hätte man sich beim Stichwort "schwedischer Traum" dann doch eine stärkere Bezugnahme auf größere Zusammenhänge der Zeit gewünscht, insbesondere auf die erwähnte Regierungsübernahme der Sozialdemokraten. Svedjedal geht beispielsweise nicht auf die Rolle ein, die in den schwedischen Wohlfahrtsdebatten die Pädagogik spielte – etwa im Sinne eines Social Engineering, das darauf setzte, die Bevölkerung zu einem rationalen, gemeinschaftsdienlichen Verhalten zu erziehen – und das, obwohl 1932 ein ganzes Heft von "Spektrum" dem Thema gewidmet war. Auch bleibt er eine Antwort auf die Frage schuldig, warum die Zeitschrift aller Erneuerungsrhetorik zum Trotz eine im Vergleich mit französischen und deutschen Vorbildern geringe politische (und ästhetische) Radikalität aufwies. Dies mag Folge der frühen Desillusionierung über den Kommunismus gewesen sein – Boye hatte die Sowjetunion schon 1929 bereist –, passt aber auch zur reform- und konsensorientierten schwedischen Sozialdemokratie dieser Jahre. Wie "schwedisch" der Traum von "Spektrum" ist, könnte man andersherum aber auch angesichts der Tatsache diskutieren, dass in den anderen skandinavischen Ländern vergleichbare "Kulturradikalismen" existierten, über die Svedjedal wenig sagt. Zudem fällt auf, dass fast alle Akteure grenzüberschreitende Biografien aufweisen: Boye hielt sich über weite Strecken ihrer Arbeit für "Spektrum" in Berlin auf; Riwkin war in Weißrussland geboren und teils in Deutschland aufgewachsen, er verließ Schweden 1939 dauerhaft. Mit Blick auf Repräsentativitätsfragen passt zudem Ekelöf nicht recht ins Bild, der sich im Laufe der 1930er-Jahre vom schwedischen Wohlfahrtsstaat distanzierte und 1945 sogar den Begriff "folkhemsk" (etwa: "volksheimsschrecklich") für ihn prägte.

Generell ließe sich bemängeln, das Svedjedal – von einem Exkurs zu Bourdieus Kapitalbegriff abgesehen – die methodische Herausforderung nicht diskutiert, vor der eine Studie steht, die zumindest den Eindruck erweckt, sie wolle am Beispiel eines kleines Personennetzwerks Besonderheiten einer ganzen Nationalgeschichte darstellen. Auf der anderen Seite liefert er eine flüssig zu lesende, dichte Beschreibung, die sich nur manchmal etwas zu stark an Einzelheiten aufhält – auch die an sich sinnvolle Auflockerung des Fließtextes durch farblich abgesetzte biografische und Begriffserläuterungen hätte mehr redaktionelle Arbeit vertragen. Allerdings ist das Buch von Annika Lyths sehr liebevoll gestaltet, wobei sich das Design an die Formgebung der 1930er-Jahre anlehnt. Abgedruckt sind Faksimiles von Briefen, Annoncen aus "Spektrum", viele Fotografien der Beteiligten; im Einband finden sich zudem farbige Abbildungen der Titelblätter aller Publikationen des Spektrum-Verlags. Angesichts solcher leserfreundlicher Dreingaben ist es schade, dass Svedjedal auf eine gute Nachvollziehbarkeit seiner Belege verzichtet: Der Satz enthält keine Endnotenzeichen, die Anmerkungen sind nach Seitenzahlen organisiert, und das macht die wissenschaftliche Arbeit mit dem Text mühselig. Zuletzt – das ist allerdings als Kompliment zu verstehen – sei angemerkt, dass eine englische Zusammenfassung sicher zur Verbreitung dieses gründlich recherchierten und thematisch wichtigen Buches hätte beitragen können.

Anmerkung:
1 Vgl. den Tagungsbericht Gemeinschaftsdenken in Europa 1900-1938. Ursprünge des schwedischen "Volksheims" im Vergleich. 11.11.2011-12.11.2011, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 17.01.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4000> (23.02.2012).

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