E. Oberloskamp: Fremde neue Welten

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Titel
Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917-1939


Autor(en)
Oberloskamp, Eva
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 84
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Liebold, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz

Die Beschäftigung mit (politischer) Reiseliteratur nimmt in der Ideengeschichte breiten Raum ein – auch in vergleichender Sicht. Am liebsten reisten und reisen deutsche Intellektuelle. Nah und fern suchten sie nach der besseren oder gar idealen Gesellschaft. Indes haben Pauschaltouristen heute, wenn sie einen wachen Verstand besitzen, mehr fremde Orte gesehen als notorische Reisende früherer Epochen. Die zunehmende Zahl komparatistischer Arbeiten erfordert immer feiner ziselierte Begründungen. Eva Oberloskamp belegt in ihrer Studie, dass solches Herangehen eingeübte Perspektiven verändern kann: Quintessenz ist vor allem die deutschen und französischen Linksintellektuellen gemeinsame positive Sicht auf die Sowjetunion unter weitgehendem Ignorieren der teils kläglichen, teils gewalttätigen Realitäten der Stalin-Ära. Wohlgemerkt handelt es sich um eine gemeinsame Szenerie bei sehr unterschiedlichen Hintergründen: In der stark auf bürgerliche Sicherheiten fixierten Dritten Republik gehörten (radikal-)sozialistische Gedanken zum guten Ton, während im Weimarer Deutschland sozialistische Ideen eine fast subkulturelle Note aufweisen.

Die von Oberloskamp ausgewerteten Berichte und ergänzenden Quellen zeigen ganz unrealistische Erwartungen an die Reise, eine schräge Wahrnehmung des realsozialistischen Alltags (so er nicht durch Privilegien für „umworbene Gäste“ ohnehin Charakter eines Sanatoriums-Besuchs hatte, S. 216) und widersprüchliche Bewertungen der Eindrücke nach der Reise – besonders markant lassen sich etwa bei Joseph Roth Diskrepanzen zwischen der publizierten Meinung und den Tagebuchaufzeichnungen nachweisen (wohl auf sowjetischer Zensur der an die Frankfurter Zeitung versandten Berichte beruhend): „Das Licht kommt vielleicht vom Osten, aber Tag ist nur im Westen.“ (Zitat von Roth aus dem Jahr 1926, S. 322) Innerlich hatte Roth längst mit dem Sozialismus gebrochen. Resigniert fasste er zusammen: „Wenn ich ein Buch über Russland schreiben würde, so müsste es die erloschene Revolution darstellen, einen Brand, der ausglüht, glimmende Überreste und sehr viel Feuerwehr.“ (ebd.) Ihm sekundierte Pierre Herbart: „Cette illusion, que les communistes s’entendent d’entretenir, je l’ai trop passionément partagée pour m’étonner que certains de mes camarades continuent à s’en nourrir.“ (Herbart im Jahr 1937, S. 322) Etwas kurz kommt bei Oberloskamp die eigene Situation der Intellektuellen, vor allem im deutsch-französischen Vergleich: Während die Kriegsfolgen (samt Inflation und Weltwirtschaftskrise) das deutsche Bürgertum wirklich in Not brachte, lebte die französische Elite nach wie vor in den weichen Welten, die die Belle Epoque ihr beschert hatte. Umgekehrt ist für die 1930er-Jahre eine krisenbedingt verunsicherte Elite in Frankreich zu konstatieren. Man erfährt nichts über die kategorische Spaltung der deutschen Linken in Untergrund und Emigration. So kommt auch der Systemgegensatz zwischen deutscher Diktatur und französischer Demokratie als Streitobjekt der Intellektuellen kaum vor.

Sehr klar unterscheidet Oberloskamp drei Abschnitte der Zwischenkriegszeit: die Aufbrüche unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg (bis 1922), als die Sowjetunion laufen – und morden – lernte, die „realistische“ Suche nach Alternativen in den Jahren 1922–1933 (paradoxerweise teils in den Jahren der Prosperität) und die Reisen „im Zeichen des Antifaschismus“ bis 1939. Anschaulich schildert die Autorin den konsternierten André Gide, der 1935 den beginnenden Terror in Moskau erlebte und von Stalin selbst erfahren musste, dass es keine Gnade für den linksoppositionellen Victor Serge gab, obwohl Gide den Diktator auf die negativen Folgen für das französische Sowjetbild hingewiesen hatte (Serge wurde 1936 nach Belgien ausgewiesen, S. 120). Nicht anders als heilsam ist zu werten, dass die für eine sozialistische Gesellschaft plädierenden Geistesgrößen vor Augen geführt bekamen, wie Minderheitenrechte in der Diktatur mit Füßen getreten wurden. Doch eines lernten sie nicht: Die selbstbewussten Intellektuellen besaßen in der französischen Demokratie durchaus Einfluss (obwohl sie ihre Schwäche stets beklagten) und bekleideten mitunter hohe politische Posten, unter den sowjetischen Arbeiterräten bestand für sie dagegen kein Spielraum, freies Denken wurde im Keim erstickt. Manche begriffen es schließlich 1989, manche bis heute nicht, welchen Wert die Freiheit liberaler Demokratien darstellt.

Bei der Auswahl der Reiseberichte bringt der Rezensent – bei allen zu Tage geförderten Erkenntnissen Oberloskamps – Kritik an: Zum einen bestehen bereits für jede nationale Seite vielfältige Einzelstudien, so erforschten unter anderem Bernhard Furler, Inka Zahn oder Rachel Mazuy Reisen von Deutschen bzw. Franzosen in die Sowjetunion.1 In diesen drei Studien kommt die These des lavierenden Nicht-Wissen-Wollens bereits gut belegt zum Vorschein. Zudem können Oberloskamps ideologiekritische Schlüsse bei einigen auch von Furler analysierten Werken (etwa Joseph Roth, Reise in Russland, 1927, Franz Carl Weiskopf, Zukunft im Rohbau, 1932, oder Lion Feuchtwanger, Moskau 1937, 1937) nicht mehr überraschen. Ferner fehlt ein Hinweis auf das viel rezipierte Buch von Friedrich Sieburg intitulatur „Die Rote Arktis“ von 1932, in dem sich der Reporter der Frankfurter Zeitung sehr deutlich als linker Autor vernehmen lässt.2 Anhand des schillernden Beispiels von Sieburg hätten sich nicht nur unklare Selbstzuschreibungen zwischen Links und Rechts erklären lassen, sondern auch die positive Sicht auf den nationalistischen Aufbruch der Stalin-Zeit. Auch unter den französischen Intellektuellen der 1930er-Jahre findet nicht selten ein Rechtsruck statt, den Oberloskamp geflissentlich ausblendet.3 Unklar bleibt so auch die Gemeinsamkeit linker und rechter autoritärer Denker – die vehemente Kapitalismuskritik und der selbstmörderische Kampf gegen den für sie lebensnotwendigen Pluralismus. Im nur zwei Seiten umfassenden Kapitel zur Sowjetunion als dem „anderen Amerika“ (alternativer Weg der Modernisierung) hätte sich dieser Hinweis angeboten. So muss sich der Interessierte mit Weiskopfs Diktum begnügen, wonach die Technik in Amerika der Ausbeutung, in der Sowjetunion hingegen der Befreiung des Menschen diene (S. 352).

Für den Leser besteht der größte Reiz des Buches darin, selbst weiterzudenken – in Richtung des noch nicht arrivierten Forschungsansatzes, linksintellektuelle Positionen zum Sowjetsystem vergleichen zu können etwa mit rechtsintellektuellen Ansichten über Faschismus und Nationalsozialismus. Auf diesem Abstraktionsniveau ergibt sich ein ernüchterndes Fazit: Linke wie rechte Intellektuelle üben Systemkritik, kommen aber dann in ihrem „Wunschsystem“ nicht mit der politischen Praxis zurecht. Dies lässt sich an der Distanz vieler „konservativer Revolutionäre“ zum Nationalsozialismus ebenso nachweisen wie der Flucht linker Intellektueller aus der DDR, obwohl viele nach dem Schrecken und Leid des Zweiten Weltkrieges mit durchaus hehren Zielen angetreten sind, um eine neue Gesellschaft aufzubauen. Selbst eingefleischte Linke werden hier den Spruch nicht abweisen können: „Keine Experimente!“ Hüten wir uns vor neuen Welten.

Anmerkungen:
1 Bernhard Furler, Augen-Schein. Deutschsprachige Reportagen über Sowjetrussland 1917–1939, Frankfurt am Main 1987; Inka Zahn, Reise als Begegnung mit dem Anderen? Französische Reisebericht über Moskau in der Zwischenkriegszeit, Bielefeld 2008; Rachel Mazuy, Croire plutôt que voir? Voyages en Russie soviétique (1919–1939), Paris 2002.
2 Friedrich Sieburg, Die Rote Arktis, Malygins empfindsame Reise, Frankfurt am Main 1932; vgl. dazu Gunther Nickel, Reiseliteratur im Nationalsozialismus, in: Frank-Lothar Kroll / Rüdiger von Voss (Hrsg.), Schriftsteller und Widerstand. Facetten der „inneren Emigration“, Göttingen 2012, S. 205-220.
3 Grundlegend hierzu bleibt Gilbert Merlio, Ni gauche, ni droite. Les chassés-croisés idéologiques des intellectuels français et allemands dans l’Entre-deux-guerres, Talence 1995. Für den Begriff eines „großflächigen Lagerwechsels“ plädiert der Rezensent in Sebastian Liebold, Kollaboration des Geistes. Deutsche und französische Rechtsintellektuelle 1933–1940, Berlin 2012, S. 167.

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