H. Altrichter u.a. (Hrsg.): Der KSZE-Prozess

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Titel
Der KSZE-Prozess. Vom Kalten Krieg zu einem neuen Europa 1975 bis 1990


Herausgeber
Altrichter, Helmut; Wentker, Hermann
Reihe
Zeitgeschichte im Gespräch 11
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
126 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Kraft, Philosophische Fakultät, Universität Siegen

Der vorliegende Sammelband ist das Produkt eines gemeinsamen Forschungsprojekts des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Paris IV und des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Wie die Herausgeber in ihrer knappen Einleitung schreiben, fragt das Projekt nach den Wirkungen der 1975 unterzeichneten Schlussakte von Helsinki, die mit ihren „Körben“ I bis III neue Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit während des Kalten Kriegs ermöglichte und damit zu einer Modifizierung der internationalen Ordnung beitrug. Der Band fokussiert sowohl auf die Verhandlungs- und Kommunikationsstrategien der Staaten des westlichen Bündnisses (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich) als auch auf diejenigen neutraler Staaten (Österreich, Schweiz); zugleich untersucht er die Veränderungsprozesse, die durch die Schlussakte und die Verhandlungen auf den drei Folgekonferenzen in den Staaten des östlichen Europas in Gang gesetzt wurden (sowohl in der Sowjetunion als auch in den „Satellitenstaaten“).

In den Beiträgen zur Bundesrepublik Deutschland (Matthias Peter) und Frankreich (Veronika Heyde) wird besonders deutlich, wie sehr die Bemühungen um Implementierung der Prinzipien aus der Schlussakte von Helsinki tatsächlich als Prozess mit offenem Ausgang betrachtet werden müssen. Dabei spielte nicht nur die Widersprüchlichkeit der drei Körbe eine Rolle, die einerseits mit ihrem Bezug auf die Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie auf humanitäre Fragen die Sowjetunion in eine permanente Legitimationskrise stürzten, andererseits aber dazu beitrugen, dass durch eine Anerkennung des geopolitischen Status quo deren Position gestärkt wurde. Beide Autoren arbeiten heraus, dass auch die westlichen Verbündeten keine rein wertebezogene menschenrechtliche Argumentation vertraten, sondern zugleich immer deren Konsequenz für die (west)europäische Sicherheitslage im Auge behielten. Für Frankreich bedeutete dies vor allem die Betonung einer eigenständigen Rolle im westlichen Bündnissystem und die konsequente Ablehnung jeglicher Perspektiven einer deutschen Wiedervereinigung. In der Bundesrepublik wurde eine Politik der kleinen Schritte im Bereich humanitärer Fragen verfolgt, von einem offensiven Umgang mit den in Korb I formulierten Menschenrechten und Grundfreiheiten dagegen abgesehen, da man hier eine Destabilisierung der aus Sicht der Zeitgenossen in näherer Zukunft unumstößlichen territorialen Ordnung fürchtete, wie es etwa Helmut Schmidt 1977 pointiert formuliert hatte („Man solle die Menschenrechte nicht nutzen, um Systeme zu destabilisieren“, S. 25).

Gerade angesichts einer vor allem seit dem Regierungsantritt Jimmy Carters dynamischeren US-amerikanische Menschenrechtsrhetorik und -politik hätte man sich hier weitergehende Fragen nach dem jeweiligen historischen Stellenwert des Konzepts der Menschenrechte gewünscht. So wird etwa im Hinblick auf die Sowjetunion immer wieder deren rein instrumentelles Verhältnis zu den Menschenrechten benannt; zu einer grundsätzlichen Historisierung der Menschenrechte, wie sie in jüngster Zeit von der Forschung in Angriff genommen wird1, sollte man sich aber auch im Hinblick auf die westlichen Staaten entschließen. Eine solche Perspektive scheint in denjenigen Beiträgen auf, die sich mit den neutralen Staaten Österreich (Benjamin Gilde) und Schweiz (Philip Rosin) beschäftigen: In beiden Fällen wird deutlich, dass es auch hier keineswegs einen rückhaltlos affirmativen Bezug auf „westliche Werte“ gab, sondern dass diese vor allem vor dem Hintergrund der geopolitischen Lage (Österreich) und der langen Neutralitätstradition (Schweiz) kontextualisiert werden müssen. Diese beiden Aufsätze haben dadurch ein innovatives Potenzial, dass sie aufzeigen, wie heterogen die Welt westlich des Eisernen Vorhangs war und wie sehr das Konstrukt „westlicher Werte“, das in der Rhetorik des Kalten Kriegs Wirkmächtigkeit erlangen konnte, aus der historischen Rückschau einer genauen Analyse unterzogen werden muss.

In den Beiträgen zu den osteuropäischen Reaktionen auf die KSZE-Schlussakte und die Folgekonferenzen werden sowohl die oppositionellen Gruppen als auch die Regierungen in den Blick genommen. Zwei Beiträge behandeln die Sowjetunion. Ernst Wawra beschreibt die Entstehung von Helsinki-Gruppen in den 1970er-Jahren und betont deren kreativen Umgang mit dem durchaus ambivalenten Dokument der Schlussakte, das in den Kreisen der Dissidenten konträr bewertet wurde. Zu Recht verweist er auf die neuartige Konstellation, die die Gleichzeitigkeit internationaler Konferenzdiplomatie und das Wirken oppositioneller Akteure auf nichtstaatlicher Ebene mit sich brachte. Hier könnte man noch genauer nachfragen, welche konkreten Praktiken und Diskurse durch die Existenz einer internationalen Appellationsinstanz befördert wurden und wie sich die Kommunikation im Rahmen eines solchen „multilateralen Forums“ (S. 72) gestaltete – denn die Beiträge zu den westeuropäischen Staaten machen deutlich, dass in Bezug auf das Verhalten gegenüber osteuropäischen Regimen und Gesellschaften kein Konsens bestand. Yuliya von Saal wendet sich der Spätphase des KSZE-Prozesses zu, genauer der Wiener Folgekonferenz von 1986 bis 1989. Sie zeigt auf, wie sehr der KSZE-Prozess das diskursive Feld des Politischen dynamisiert hatte, in dem sich sowohl die Dissidenten als auch die sowjetische Führung bewegten. Es war ein Resonanzraum entstanden, in dem zum Beispiel die Aufarbeitung früherer Menschenrechtsverletzungen als wichtiger Beitrag zur Demokratisierung verstanden wurde. Die durchaus reformbereite Parteiführung wurde durch dieses Faktum permanent mit Legitimationsdefiziten konfrontiert.

Anja Hanisch untersucht die Ausreisebewegung in der DDR, die von Vereinbarungen in Korb III der Schlussakte stimuliert wurde. Die Autorin zeichnet die ambivalente Bewertung des Dokuments in DDR-Regierungskreisen nach, die zwischen der Betonung des Prestigegewinns für die DDR in den internationalen Beziehungen und den Warnungen vor einer Destabilisierung der inneren Sicherheit oszillierte. Gunter Dehnert beschreibt die Bedeutung des KSZE-Prozesses für die polnische Opposition in den Jahren 1975 bis 1989. Er betont die Relevanz der „Idee universeller Menschenrechte“ (S. 94), die im heterogenen Spektrum der polnischen Opposition als gemeinsamer Bezugspunkt diente. Auch hier ist in einem weiteren Schritt zu fragen, inwieweit eine konsequente Historisierung der durchaus unterschiedlichen Konzepte von Menschenrechten zu einem besseren Verständnis des raschen Auseinanderfallens der oppositionellen Massenbewegung nach 1989 beitragen kann. Hinsichtlich der geopolitischen Komponente vermerkt Dehnert eher beiläufig, dass in der Schlussakte die (gewiss nicht nur in Regierungskreisen) positiv bewertete Grenzsicherung mit der „Zementierung von Jalta“ einherging (S. 88f.). Hier hätte man sich – wie an vielen anderen Stellen des Bandes – gewünscht, dass nicht nur regierungsamtliche und oppositionelle Stimmen, sondern auch breitere gesamtgesellschaftliche Resonanzen zu Gehör gebracht worden wären.2 Im anschließenden Beitrag skizziert Benjamin Müller die Haltung der Aktivisten der Charta 77 in der Tschechoslowakei gegenüber den drei Körben der Schlussakte. Er verweist auf die Verknüpfung von Frieden und Menschenrechten (S. 104f.), die sich zum Beispiel deutlich von der polnischen Interpretation der Schlussakte unterschied. Es wäre schön gewesen, wenn die sehr stark auf ihre einzelnen Untersuchungsländer fokussierten Beiträge stärker mögliche Kommunikationshemmnisse sowie auch Kooperationen über Netzwerke thematisiert hätten.

Der Band ist geprägt durch eine eher klassisch diplomatiegeschichtliche Fragehaltung, die offizielle und dissidentische politische Eliten klar ins Zentrum stellt. Diese Perspektive hat zur Folge, dass neben einigen Verschiebungen von Nuancen dem aus der bisherigen Literatur bekannten Bild des KSZE-Prozesses wenig Neues hinzugefügt wird. Dabei erscheint gerade die Frage nach der Bedeutung der „humanitären Dimension der KSZE“, die auch die Herausgeber in ihrer Einleitung betonen (S. 14) und die sich aus den Prinzipien des Korbs III ergab, weiterführend für neue Interpretationsansätze bei der Untersuchung des Niedergangs der (geo)politischen Nachkriegsordnung. Die in mehreren Beiträgen mitschwingende These, dass gerade die schrittweise Durchsetzung humanitärer Erleichterungen das sowjetische Machtsystem unterhöhlt habe, bedarf dringend einer empirischen Absicherung, die wohl nicht ohne eine stärker alltagsgeschichtliche Perspektive zu leisten ist.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010.
2 In letzter Zeit sind dazu gerade am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam einige Arbeiten zu solchen Fragen entstanden – etwa Paulina Gulińska-Jurgiel, Die Presse des Sozialismus ist schlimmer als der Sozialismus. Europa in der Publizistik der Volksrepublik Polen, der ČSSR und der DDR, Bochum 2010, oder Christian Domnitz, Europäische Vorstellungswelten im Ostblock: Eine Topologie von Europanarrationen im Staatssozialismus, in: José Maria Faraldo / Paulina Gulińska-Jurgiel / Christian Domnitz (Hrsg.), Europa im Ostblock. Vorstellungen und Diskurse (1945–1991), Köln 2008, S. 61-82.