Butter, Michael; Christ, Birte; Keller, Patrick (Hrsg.): 9/11. Kein Tag, der die Welt veränderte. Paderborn 2011 : Ferdinand Schöningh, ISBN 978-3-506-77097-4 169 S. € 16,90

: Europa und der 11. September 2001. . Wien 2011 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3205786771 281 S. € 29,90

: Diplopie. Bildpolitik des 11. September. Konstanz 2011 : Konstanz University Press – KUP, ISBN 978-3-86253-007-6 136 S., 65 Abb. € 19,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Schild, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Am 11. September 2001 brachten 19 vornehmlich aus Saudi Arabien stammende junge Männer vier amerikanische Verkehrsflugzeuge in ihre Gewalt und lenkten sie in die Türme des World Trade Centers in New York und in das amerikanische Verteidigungsministerium in Washington. Ein viertes Ziel, das Kapitol in Washington, blieb nur verschont, weil die Maschine nach einer Intervention der Passagiere in Pennsylvania abstürzte.

Zeitgenossen haben den Terrorangriff des 11. September 2001 mit dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor vom 7. Dezember 1941 verglichen. Pearl Harbor brachte eine Zeitenwende in der amerikanischen Außenpolitik - fort vom traditionellen Isolationismus hin zur Übernahme globaler Ordnungsfunktionen durch die USA im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg. Welche Spuren haben die Ereignissen vom 11. September aus heutiger Sicht in den USA und in der amerikanischen Politik hinterlassen? Die drei hier vorzustellenden Bücher nähern sich dem Vermächtnis des Terrorangriffs aus drei verschiedenen Richtungen und kommen zu unterschiedlichen Antworten.

Der Sammelband von Margit Reiter und Helga Embacher untersucht die Folgen der Terrorakte vom 11. September für die europäisch-amerikanischen Beziehungen. Auch wenn der Titel des Bandes von „Europa“ spricht, so machen die Beiträge doch deutlich, dass es neben einer unmittelbaren gesamteuropäischen Verurteilung der Terrorangriffe in Deutschland, England, Frankreich, Polen und Österreich jeweils höchst unterschiedliche und länderspezifische Reaktionen auf die Politik der Bush-Administration nach dem 11. September gab. Die Mitherausgeberin Margit Reiter hat ihren Beitrag über Wahrnehmungen und Deutungen des 11. September in Deutschland mit dem von Bundeskanzler Gerhard Schröder noch am Abend des 11. September geprägten Begriff „Uneingeschränkte Solidarität“ überschrieben, den Titel jedoch mit einem Fragezeichen versehen. Wie konnte es dazu kommen, dass sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen weniger als zwei Jahre nach den Anschlägen vom 11. September so drastisch abgekühlt hatten, dass von einem „Tiefpunkt transatlantischer Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Pierre Hassner) gesprochen werden musste? Die Verfasserin wertet deutsche Zeitungen und Zeitschriften der Jahre 2001 bis 2005 aus und kommt zu dem Ergebnis, dass es in Deutschland zunächst eine Solidarisierung mit den USA gegeben habe, die nach einiger Zeit jedoch durch eine alternative Sichtweise auf die Ereignisse überlagert worden sei. Reiter zitiert Medienäußerungen, die Verständnis dafür aufgebracht haben, dass junge moslemische Männer die Supermacht Amerika angegriffen hätten.

Auf der Suche nach den Gründen für Kritik an den USA nennt die Verfasserin die Politik des Landes im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, den amerikanischen Kapitalismus, eine Verachtung des amerikanischen Präsidenten George Bush und die offene Gegnerschaft einer Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit zum Irakkrieg von 2003. Besonders der letzte Grund erscheint als Kristallisationspunkt einer Kritik an der Bush-Administration, die nicht als Antiamerikanismus verstanden werden sollte. Umso mehr überrascht es, dass dieser Aspekt im Text geradezu beiläufig auf wenigen Seiten behandelt wird. Schließlich ist zu fragen, ob die Beziehungen zwischen zwei Staaten ausschließlich aus der Wahrnehmung eines der beteiligten Staaten behandelt werden kann. Hat nicht der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld mit seinen unglücklichen Äußerungen über ein „altes Europa“ den Streit unnötigerweise angefacht, und reagierten Politiker, Medien und die Öffentlichkeit auf solche Provokationen nicht ihrerseits mit Kritik?

Die amerikanische Sichtweise auf den Konflikt mit Europa bietet der Beitrag von Reinhard Heinisch im gleichen Band. Interessanterweise unterscheidet sich dieser Aufsatz von anderen, indem er die Terroranschläge vom 11. September nicht als zentrales Ereignis in den Mittelpunkt stellt, sondern diese als Wegmarke in einem laufenden Prozess der amerikanisch-europäischen Entfremdung seit dem Ende des Kalten Krieges auffasst. Die deutsche und französische Kritik am Irakkrieg waren dementsprechend nicht Folge der Terroranschläge, sondern Ergebnis einer tiefergehenden allmählichen transatlantischen Entfremdung seit den 1980er-Jahren. Diese Entfremdung war eine Krise der gegenseitigen Wahrnehmung, so Heinisch. Die Europäer sahen in der Stärke der USA eine potentielle Bedrohung; die USA beklagten im Gegenzug die Schwäche der Europäer. Der Amtsantritt George W. Bushs und der Machtzuwachs der sogenannten Neokonservativen schienen alle europäischen Befürchtungen zu bestätigen. Der Angriff auf den Irak 2003 erscheint demnach als Folge einer längerfristigen amerikanischen Strategie der Vorherrschaft und hat nichts mit dem Terrorangriff zu tun.

Der Sammelband „9/11: Kein Tag, der die Welt veränderte“ kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Heinisch. Der 11. September war nicht der Beginn einer neuen Epoche der Weltgeschichte, so die Autoren. Stattdessen waren die Anschläge „Katalysatoren“, die längerfristige Entwicklungen verstärkt haben. Der Band versammelt zehn Aufsätze, die sich mit ganz unterschiedlichen Aspekten wie „Umwelt“, „Patriotismus“ und „Recht“ nach dem 11. September befassen.

Im ersten Beitrag zum Thema „Weltmacht“ versucht der Historiker Patrick Keller die Vorstellung zu widerlegen, dass der 11. September einen weltpolitischen Wendepunkt eingeleitet habe. Ein solcher Wendepunkt könnte sich aus drei Überlegungen herleiten, so der Verfasser: Erstens durch das Auftreten des Terrorismus als neuartigem Gegner; zweitens durch die neue Art, in der die USA ihre Ordnungsfunktion ausüben. Während Amerika in den Jahren des Kalten Krieges versucht habe, ein integratives, liberales Ordnungssystem zu schaffen und sich selbst den Regeln dieses Systems unterwarf, trat Washington nach dem 11. September als Macht auf, die diese Ordnung verletzte. Drittens schließlich hätten die USA mit den verlustreichen Kriegen in Afghanistan und Irak selbst das Ende ihrer Hegemonialstellung herbeigeführt. Keller lässt diese Argumente nicht gelten. Der nicht-staatliche Terrorismus sei Teil einer größeren Entwicklung hin zur De-Territorialisierung, zu der auch der Cyberspace und die global vernetzten Finanz- und Wirtschaftsmärkte zählten. Das zweite Argument überzeugt ihn ebenfalls nicht, weil die USA seit jeher über ein breites Arsenal außen- und militärpolitischer Optionen verfügt haben. Der Krieg gegen den Irak stellt entsprechend keine wirkliche Neuerung dar. Das dritte Argument des US-Niederganges in Folge des Irakkrieges verblasst für den Autor, wenn es im Kontext eines längerfristigen relativen Einflussverlustes des Landes gegenüber Staaten wie Brasilien, Indien und China gesehen wird.

Die Beiträge des Bandes zielen darauf ab, die Bedeutung des Terrorangriffs von 2001 auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung der USA zu hinterfragen. Keinem Autor dürfte dies so schwer gefallen sein wie Michael Teichmann, der das Kapitel „Recht“ verfasst hat. Mit der Gründung des „Department of Homeland Security“ und der bis heute andauernden Inhaftierung von Terrorverdächtigen in Guantanamo – denen bewusst der Zugang zum regulären Rechtssystem verweigert wird – sind neue institutionelle Strukturen geschaffen worden, die die Freiheitsrechte des Einzelnen einschränken und die Macht der Strafverfolgungsbehörden stärken. Präsident Obama hatte zu Beginn seiner Amtszeit angekündigt, dass er das Gefangenenlager auf Kuba schließen wolle. Dass dort heute noch immer Insassen beherbergt sind, weil sich der Kongress dem Anliegen des Präsidenten widersetzt hat, zeigt, dass der 11. September noch immer deutliche Spuren im Rechtssystem hinterlässt.

Den Spuren des 11. September geht auch das Buch „Diplopie“ des französischen Photographiehistorikers Clément Chéroux nach. Die Bilder der einstürzenden Wolkenkratzer von New York sind für ihn die zentralen Ikonen des beginnenden 21. Jahrhunderts geworden, die im Herbst 2001 im Fernsehen und in der Printpresse omnipräsent waren. Die Bilder waren für ihn mehr als bloße Illustrationen. Mit der permanenten Wiederholung der immer gleichen Bilder trugen Medien zur Bedeutung des Ereignisses bei. Geschichte „wiederholt sich ganz offensichtlich nicht,“ so der Verfasser, „sie wird vielmehr von den Medien wiederholt“ (S. 89). Wir sehen Ereignisse doppelt – daraus leitet sich der Titel des Buches ab.

Chéroux’ Ausführungen zu den Bildern des 11. September im Fernsehen und in den Printmedien sind eindrucksvoll, doch bleiben einige Fragen ungeklärt. Wer steht hinter der Bildauswahl der Medien? Sind es zufällige Entscheidungen verantwortlicher Redakteure? Verfolgen sie damit ein bestimmtes Ziel? Wird das gleiche Bild von einem Betrachter in New York und Beirut ähnlich gedeutet? In welchem Verhältnis stehen Bilder und Texte in amerikanischen und arabischen Zeitungen? Schließlich ist zu fragen, ob der Verfasser nicht einer zirkulären Logik aufgesessen ist. Er wählt als Untersuchungsgegenstand für die Wirkmacht der Bilder ein medial hochrangiges und millionenfach fotografiertes Ereignis und kommt zu dem Ergebnis, dass es viele Photos gibt, die in allen Zeitungen abgedruckt wurden. Wäre es nicht viel aufschlussreicher, wenn ein abstraktes Ereignis wie die Wirtschafts- und Finanzkrise oder ein Skandal, der unterschiedliche Sichtweisen auf die Protagonisten erlauben würde wie die Anschuldigungen gegen Dominique Strauss-Kahn, auf fotografische Wirkungen hin untersucht würde?

Knapp zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. September wurde der mutmaßliche Drahtzieher Osama bin-Laden in Pakistan von amerikanischen Soldaten aufgespürt und erschossen. Die USA debattieren derzeit offen über Abzugspläne ihrer Soldaten aus Afghanistan und Irak. Diese Ereignisse schließen aller Voraussicht nach die Phase der Weltpolitik ab, die durch den Kampf gegen den islamistischen Terror definiert war. Parallel dazu kommt es zu einer Neubewertung der Ereignisse, die am Beginn der jüngsten Entwicklungen standen. Während die Bedeutung des 11. September vor zehn Jahren außer Frage stand, ringen derzeit zwei konträre Sichtweisen miteinander, die von einer Zeitenwende oder einem Tag, der die Welt doch nicht nachhaltig verändert hat, ausgehen. Die drei hier betrachteten Bücher bieten eine Momentaufnahme dieser Diskussion, die sich fortsetzen wird.

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