K. Schloegel: Berlin - Ostbahnhof Europas

Titel
Berlin - Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert


Autor(en)
Schloegel, Karl
Erschienen
Berlin 1998: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
368 S., 173 Abb.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Fakultät für Geschichtswissenschaften und Philosophie, Universität Bielefeld

Nicht nur diejenigen, die im Herbst 1995 an der grossangelegten Ausstellung "Berlin-Moskau" im Berliner Martin-Gropius-Bau ihre Freude hatten, wird die Lektuere von Karl Schloegels "Berlin Ostbahnhof Europas" fesseln, das ebenfalls die deutsch-russische Symbiose der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts behandelt. Karl Schloegel, Professor an der Frankfurter Viadrina, ist bereits seit geraumer Zeit als Herausgeber wissenschaftlicher Veroeffentlichungen zum russischen Exil in Deutschland hervorgetreten. Ausserdem hat er mit Darstellungen zur Geschichte Moskaus und St. Petersburgs in diesem Jahrhundert von sich reden gemacht.1

In dem hier besprochenen Werk hat Schloegel den stadtgeschichtlichen Ansatz mit der Geschichte des russischen Exils verknuepft. Als naheliegendes Resultat entstand ein Buch ueber Berlin. Im Gegensatz zu Schloegels Studie ueber St. Petersburg nach der Jahrhundertwende, die sich eher an Kenner der russischen Materie wandte, eignet sich "Berlin Ostbahnhof Europas" hervorragend zum Einstieg fuer Leser, die (noch) keine Experten in russischer Geschichte sind. In mehr als einem Dutzend lose verknuepfter Kapitel breitet Schloegel seinen Gegenstand aus: Er erzaehlt von Reisenden, Fluechtlingen und Emigranten, von Diplomaten, Agenten und Militaers, von Historikern, Schriftstellern und Politkern, die sich in der Zeit von der Oktoberrevolution bis zum Hitler-Stalin Pakt zwischen (Sowjet-)Russland und Berlin bewegten. Ein Hauch von Wehmut ueber die untergegangene Welt des russischen Exils - vom Autor als "kulturelle Supernova" bezeichnet - durchzieht die gesamte Darstellung, in der Schloegel an zahlreichen Beispielen die Interdependenz von "grosser Politik" und persoenlichen Schicksalen in diesem Jahrhundert aufzeigt. Schloegel erhellt, wie er einleitend dem Leser mitteilt, jene Epoche vor "Barbarossa", in der "kulturelle Naehe" zwischen Deutschen und Russen noch selbstverstaendlich war.

Zunaechst einige Bemerkungen zum Inhalt des Buches:

"Berlin Ostbahnhof Europas" besteht aus 15 voneinander unabhaengigen und doch aus dem gleichen Gesamtkontext stammenden Geschichten, die jeweils ein Kapitel bilden. Im Auftaktkapitel beschreibt Schloegel, das Bahnhofsthema aus dem Titel seines Buches aufgreifend, die topographischen Hintergruende der deutsch-russischen Symbiose. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf das Reisen, den nie versiegenden Verkehr zwischen Ost und West und insbesondere auf die zentrale Funktion der Eisenbahn in der modernen Welt, die in Krieg und Frieden die Verbindung zwischen Berlin und Osteuropa fuer die unterschiedlichsten Reisenden zuverlaessig herstellte. Schloegel entdeckt in den Kursbuechern der Deutschen Bahn das verlaesslichste "Barometer" fuer den Stand der bilateralen Beziehungen und ihm gelingt es, anhand der Quelle "Reichs-Kursbuch" anschaulich die politischen Verwerfungen in Ostmitteleuropa zwischen Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Konsolidierung der Staatenwelt der Pariser Vorortvertraege zu rekonstruieren und schliesslich den Bogen zur erneuten Militarisierung des Transports und zu seiner Instrumentalisierung im nationalsozialistischen Genozid im Zweiten Weltkrieg zu schlagen.

Detailliert berichtet Schloegel auch von den Veraenderungen des Grenzregimes im 20. Jahrhundert. Die kommode Grenzstation im ostpreussischen Eydtkuhnen, wo man bis 1914 ins Russische Reich einreiste, wird hier zum Ausgangspunkt einer quellengesaettigten Reflexion ueber die Bedeutung von Grenzen im Alltag und in den Koepfen der Menschen, die diese Schleusen zwischen den Staaten und Kulturen zu verschiedenen Zeiten und verschiedenen Zwecken passierten. Eindrucksvoll wird dargestellt, wie aus der Grenze zwischen zwei monarchischen Reichen nach 1917 die Demarkationslinie zwischen den Welten zweier gegensaetzlicher politischer Systeme wurde. Die Wanderer zwischen dem jungen Sowjetrussland und der Weimarer Republik mit ihrer Hauptstadt Berlin bilden in den folgenden Episoden die Akteure von Schloegels Erzaehlung. Zu diesen Akteuren gehoert beispielsweise Harry Graf Kessler, Dandy und Diplomat, dessen Tagebuecher einen ersten Einblick in die hoehere Gesellschaft Berlins vor 1933 geben, in der Russen verschiedenster Couleur wie selbstverstaendlich ihren Platz hatten. Und schon befindet sich der Leser mitten in der untergegangenen Welt der deutsch-russischen Symbiose, die Schloegel scheibchenweise und aus verschiedenen Perspektiven nachzuzeichnen versucht. Es war der Kosmos der Gagarins, Bagrations und Golizyns, von Nabukov und Jessenin, der gefluechteten aristokratischen und akademischen Eliten des alten Russland, die hier die Wege der offiziell akkreditierten Vertreter des neuen Russland, wie Joffe und Radek, Tschitscherin und Krestinski, kreuzten. Auf deutscher Seite war es keineswegs nur die extreme Linke, die an den stuermischen russischen Entwicklungen intensiven Anteil nahm.

Bei Schloegel erfaehrt man, dass Ernst Juenger auf den Empfaengen der sowjetischen Vertretung zu Ehren des Jahrestages der Oktoberrevolution weilte, und man lernt Neues ueber die politischen Verstrickungen und das tragische Schicksal des Nestors der deutschen Russlandkunde, Professor Otto Hoetzsch. Man erhaelt einen neuen Blick auf den nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion, wenn in einem anderen Kapitel dargestellt wird, dass grosse Teile des Operationsgebietes fuer manche Wehrmachtsoffiziere eben keine terra incognita darstellten, weil sie hier in den zwanziger Jahren regelmaessig mit ihren Kollegen von der Roten Armee gemeinsame Manoever abgehalten hatten.

Einen weiteren Schwerpunkt des Buches bildet die von Karl Schloegel als "Landschaft des Verrats" bezeichnete (Halb-)Welt der Agenten, Diplomaten und sonstigen konspirativen Kraefte, die sich im Dschungel der Ideologien begegneten und bekaempften. Interessant ist der Blick hinter die Kulissen der sowjetischen Botschaft Unter den Linden, im Herzen der politischen Macht des damaligen Berlin. Schloegel zeigt, dass die "Politische Vertretung der UdSSR", wie die eigenwillige Selbstbezeichnung lautete, mehr war als eine gewoehnliche diplomatische Repraesentanz. Das prunkvolle Haus inmitten des Zentrums preussisch-deutscher Macht, das als "Kurlaendisches Palais" selbst Teil der Berliner Geschichte war, wurde Spiegelbild und Schaufenster neuer sowjetischer Verhaeltnisse. Die Empfaenge zu den Revolutionsfeiertagen waren Teil des gesellschaftlichen Lebens in Berlin, ebenso wie die GPU-Agenten in den Hinterzimmern des Palais, von denen Schloegel berichtet. Dem Autor gelingt es, in den Kapiteln ueber die sowjetische Botschaft und ueber das "Global Village Komintern" die enge Verbindung zwischen dem sowjetischen Staat und seinen Diplomaten und den verschiedensten deutschen Persoenlichkeiten exemplarisch aufzuzeigen: Sowohl die linientreuen Kommunisten der KPD als auch die traditionellen deutschen Eliten hielten Kontakt zu den sowjetischen Stellen. Anhand der zahlreichen von Schloegel recherchierten Adressen, die das Ende einiger Kapitel bilden, entsteht fuer den ortskundigen Leser eine faszinierende Topographie sowohl des sowjetischen als auch des exilrussischen Berlins.

Diese Ausfuehrungen koennen selbstverstaendlich nur einen bescheidenen Einblick in die Materialfuelle von "Berlin Ostbahnhof Europas" geben. Wo liegen nun, jenseits der inhaltlichen Aspekte, die Meriten und die Defizite des Buches?

Anerkennung verdient, dass es Karl Schloegel gelungen ist, eine historische Studie zu verfassen, die auch fuer eine Leserschaft von Interesse ist, die nicht im engeren Sinne zur historischen Zunft gehoert. Schloegel wandelt in "Berlin Ostbahnhof Europas" auf dem, gerade von deutschen Autoren nur selten beschrittenen, schmalen Pfad zwischen Wissenschaft und Journalismus. Dabei schafft es Schloegel, einen leserfreundlichen Stil mit dem analytischen Blick des professionellen Historikers zu verbinden. Er erzaehlt Anekdoten, ohne sich dabei im Anekdotischen zu verlieren. Das ausgebreitete Wissen ist enzyklopaedisch, jedoch, das liegt wohl in der Struktur des Buches begruendet, wenig systematisch aufbereitet. Wer schnell etwas Zusammenfassendes ueber die russische Presse oder die Bewegung "Smena Wech", ueber die fruehe sowjetische Diplomatie oder die Literatur des russischen Exils erfahren moechte, der sollte lieber an anderer Stelle, etwa in den vom Autor selbst herausgegebenen Sammelbaenden, nachschlagen. In "Berlin Ostbahnhof Europas" erhaelt man eher atmosphaerische Eindruecke, zu denen auch die abgedruckten zeitgenoessischen Photographien und Illustrationen beitragen. Kritisch bleibt anzumerken, dass Schloegel es mit der Nostalgisierung der Sitten und der Kultur des russischen Berlin gelegentlich weit treibt. Er beklagt - zu Recht - die Kulturlosigkeit und Brutalitaet der zur Macht aufgestiegenen Bolschewiki und Nationalsozialisten der dreissiger Jahre, die zu den Totengraebern der deutsch-russischen Symbiose wurden. Die buergerliche "alte Welt", bei Schloegel eine Gesellschaft der Gesitteten und Gebildeten, erscheint dagegen gelegentlich wie durch den Weichzeichner idealisiert.

Erfreulich ist, dass sich trotz der essayistischen Aufmachung des Buches ein ausfuehrlicher bibliographischer Apparat an den darstellenden Teil anschliesst. Es lohnt sich, Schloegels Zugaenge zu seinem Thema nachzuschlagen. Man kann feststellen, dass der Autor sich eben nicht nur auf prozessproduzierte Quellen und wissenschaftliche Veroeffentlichungen stuetzt, sondern dass er Tagebuecher, Memoiren und andere Selbstzeugnisse in den Rang gehoben hat, in den sie - entgegen der Meinung einiger unverbesserlicher - selbstverstaendlich gehoeren: den einer historische Quelle. Es ist die publizistische und belletristische Hinterlassenschaft des russischen Exils in Berlin, die Schloegel genutzt hat. So manches vergessene, pittoreske oder abseitige Werk gehoert zum Grundstock seiner Darstellung. Aus der Verwendung dieser Selbstzeugnisse erklaert sich dann auch die hohe atmosphaerische Dichte, die das Buch erreicht. Gleichwohl finden sich im Anhang auch Hinweise, die den Einstieg in die wissenschaftliche Debatte zu den jeweils angerissenen Themen ermoeglichen.

Abschliessend bleibt zu loben, dass Karl Schloegel zu einem schillernden Thema ein erhellendes Buch geschrieben hat. "Berlin Ostbahnhof Europas" zeigt, dass es nicht jener wissenschaftlichen Systematik bedarf, die dem Lesevergnuegen wenig zutraeglich ist, um eine gelungene zeithistorisches Studie von bleibender Bedeutung zu verfassen. Insbesondere Kenner der Berliner und der russischen Geschichte duerften bei der Lektuere auf ihre Kosten kommen und feststellen: "Nirgends hat sich der Knoten der deutsch-russischen Beziehungen so dramatisch zusammengezogen wie in Berlin. Alle deutschen Wege nach Russland fuehrten in diesem Jahrhundert ueber Berlin, und alle russischen Wege nach Europa gingen ueber Berlin."(S. 8)

Anmerkungen:

1 Karl Schloegel (Hg.): Der grosse Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren, Muenchen 1994; Ders. (Hg.): Russische Emigration in Deutschland 1918-1941. Leben im europaeischen Buergerkrieg, Berlin 1995; Ders. u.a. (Hg.): Chronik russischen Lebens in Deutschland 1918-1941, Berlin 1998; Ders.: Jenseits des Grossen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909-1921, Berlin 1988; Ders.: Moskau lesen, Berlin 1984.

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