Ch. Müller: US-Truppen und Sowjetarmee in Deutschland

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Titel
US-Truppen und Sowjetarmee in Deutschland. Erfahrungen, Beziehungen, Konflikte im Vergleich


Autor(en)
Müller, Christian Th.
Reihe
Krieg in der Geschichte 70
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
397 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Satjukow, Institut für Geschichte, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Im Jahr 1945 zogen alliierte Truppenverbände als Sieger in Deutschland ein. Für viele Besatzungssoldaten stellten die eroberten Räume in diesen ersten Jahren „Niemandes Land“ dar: Sie handelten in dem Verständnis, dass jedwede Örtlichkeit, Stadt und Land, Haus und Hof ohne weiteres frei für sie verfügbar seien. Jedwede Rechte daran waren durch die unleugbare Kriegsschuld der Deutschen obsolet geworden. Diese Annahme führte vor Ort zu unhaltbaren Zuständen, von belastbaren Kompromissformen des Zusammenlebens konnte unter diesen Auspizien keine Rede sein. Im Jahr 1947 kam es daher zu einer „Reformbewegung“; nunmehr bot man den Einheimischen einen ersten territorialen Kompromiss an. Der Rückzug der Streitkräfte hinter Zäune verhieß eine räumliche Entzerrung und Entflechtung. Fortan gab es Areale, Stadtviertel und ganze „Militärstädtchen“, die den Angehörigen der Armee vorbehalten waren. Damit war der permanenten und massenhaften Verletzung persönlicher und intimer Sphären der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Ende gesetzt. Die neuen „Mauern“ um die Garnisonen herum markierten erste halbwegs verlässliche Grenzen zwischen Besatzern und Besetzten. Von nun an waren beiden Seiten Räume zugewiesen und Territorien definiert, die es im weiteren Prozess ermöglichten, tragfähige und tragbare Mittelwege zu finden. Systematisiert man den aktuellen Forschungsstand, so widerspiegelt die Geschichte der alliierten Besatzungsherrschaft einen fortdauernden Prozess politischer, juristischer und alltagskultureller Kodifizierungen von für das Zusammenleben unabdingbaren Kompromissformeln und Kompromissformen.

Christian Th. Müller hat mit seiner am Hamburger Institut für Sozialforschung entstandenen Habilitationsschrift einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung dieser Jahrzehnte andauernden Aushandlungsprozesse geleistet. Er hat die Besatzungsrealitäten aus der Perspektive deutscher Akteure in der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone rekonstruiert. Mit diesem Vergleich betritt er Neuland: Bislang existieren über die mittlerweile recht gut erforschte unmittelbare Nachkriegszeit hinaus nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen1; komparatistische Arbeiten lassen sich überhaupt nicht finden. Der Verfasser vollzieht in seinem Buch einen Dreischritt: Zunächst untersucht er die Bilder der Deutschen über die „Fremden“ – was dachten die einstigen nationalsozialistischen „Volksgenossen“ über die „Amerikaner“ und die „Russen“? In einem zweiten Schritt werden die politischen, juristischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wirklichkeiten des Besatzungsalltags beleuchtet, um diese im letzten Akt anhand von zwei Fallbeispielen – Bamberg und Jüterbog – gleichsam mit „Leben zu erfüllen“.

Der Untersuchung vorangestellt sind ausführliche Schilderungen von Besatzungen im Laufe der deutschen Geschichte sowie verschiedene Begriffsbestimmungen. Es wird deutlich, dass es sich bei der alliierten Okkupation keinesfalls um ein historisch einzigartiges Phänomen handelte und dass man gut daran tut, die Ereignisse nach Kriegsende 1945 in größere geschichtliche Zusammenhänge einzuordnen.

Im ersten Hauptteil der Arbeit diskutiert Müller „Russenbilder“ und „Amerikanerbilder“ der Deutschen. Dabei führt er Ähnlichkeiten vor, aber auch signifikante Unterschiede. So entwickelten sich antirussische und antisowjetische Stereotypen spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts; freilich erfuhren sie durch die nationalsozialistische Kriegspropaganda eine mörderische Dynamik. In Bezug auf Amerika bildeten die Deutschen spätestens seit den 1920er-Jahren ebenfalls kulturkritische Haltungen aus, doch gipfelten diese zu keinem Zeitpunkt in Vernichtungsphantasien. Hier hätte man womöglich noch präziser zwischen den Verfechtern solcher Stereotypen unterscheiden können. So wissen wir mittlerweile, dass bei unterschiedlichen sozialen Gruppen und vor allem auch Generationen immense Unterschiede in Bezug auf Identitäts- und Alteritätsdiskurse zu verzeichnen sind.

Diesen einführenden Bemerkungen zu den sehr unterschiedlichen Erwartungshaltungen der Deutschen am Ende des Krieges gegenüber Amerikanern und Russen folgt eine dichte Beschreibung der Besatzungsrealitäten in beiden Zonen. Das Buch lässt keinen Zweifel daran, dass die Besatzungs- und ab 1955 die Stationierungstruppen über die Zeiten hinweg in letzter Konsequenz in Deutschland das Sagen hatten, wenngleich die Umsetzung der militärischen Weisungsbefugnisse – auf Basis der Zusatzvereinbarungen des NATO-Truppenstatuts von 1959 sowie des Stationierungsvertrags von 1957 – in unterschiedlicher Weise ausgeübt wurde. Bei den amerikanischen Militärs blieben Interventionen bis auf wenige Einzelfälle bedingt mögliche, aber zumeist nicht genutzte Optionen. Die sowjetischen Besatzer hingegen ließen über Jahrzehnte hinweg keinen Zweifel, dass sie als Siegermächte über besondere Privilegien verfügten und auch gewillt waren, diese bedingungslos einzufordern.

Der Verfasser teilt die fast ein halbes Jahrhundert andauernde Besatzungszeit in unterschiedliche Perioden ein, wobei er zumeist äußere Anlässe als Zäsur für interne Stationierungsrealitäten in Anschlag bringt. Dies gelingt ihm nicht immer überzeugend, zumal er die eingeführten Phaseneinteilungen im Fortgang der Arbeit kaum noch aufnimmt. Der Leser wähnt sich bisweilen in einem Kontinuum, in dem Dynamiken und Brüche keine Rolle spielen.

Beiden Stationierungstruppen war die Tatsache gemeinsam, dass sie als Militärgemeinden immer auch Parallelgesellschaften bildeten. Sie verfügten über eigene Infrastrukturen und durchbrachen die Demarkationslinien zu den Deutschen selten. Im vom Autor vorgeführten Nahblick lassen sich freilich interessante Beobachtungen machen: Die Amerikaner hatten im Alltag prinzipiell die Möglichkeit, in engen Kontakt mit ihren deutschen Nachbarn zu kommen, was sie allerdings nur selten taten. Den „Russen“ indes war es mehr oder weniger verboten, allzu enge Fühlung zu den Deutschen aufzunehmen. Das Erstaunliche ist, dass sie dieses bis zum Abzug 1994 geltende Fraternisierungsverbot ignorierten und vielfältige Kontakte zu den Einheimischen suchten.

Am dichtesten gelingt Müller die Schilderung dieser Beziehungsgeflechte in seinen Fallschilderungen. Dabei lässt sich freilich ein gewisses Ungleichgewicht ausmachen: In Bamberg lebten etwa 70.000 Einwohner mit etwa 7.000 US-Soldaten auf ein und demselben Territorium, in Jüterbog kamen auf 14.000 Einwohner über 20.000 Soldaten. Diese eklatant unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse mussten zwangsläufig zu differierenden Besatzungsrealitäten führen, was den Vergleich nicht unproblematisch erscheinen lässt. Zudem wurde mit Jüterbog ein Standort gewählt, der für die DDR wohl einmalig war – nirgendwo sonst erlebte die Bevölkerung eine solch dichte Militärpräsenz. Der Verfasser weiß sich zu helfen, indem er seine Ergebnisse immer wieder an die in der Forschung bereits verfügbaren Beschreibungen rückbindet. Sichtbar werden so zahlreiche Alltagskontakte zwischen Besatzern und Besetzten, wobei die Handlungsfelder mannigfaltig waren: von Handel, Arbeitsbeziehungen, Freundschaften und Liebesverbindungen bis zu Störungen der Nachbarschaft durch Straftaten. Die reiche Schilderung der Kontakte aus deutscher Sicht wäre allerdings noch aussagekräftiger gewesen, hätte man die Perspektiven der „anderen Seite“, die Wahrnehmungen und Erinnerungen der Besatzungssoldaten in die Analyse einbezogen. Gerade dieser Dialog hätte manches verfestigte Erinnerungsnarrativ in Frage gestellt.

Es zählt zu den Verdiensten dieser Arbeit, dass sie die für die Nachkriegsgesellschaft ausnehmend wichtigen Besatzungsrealitäten im Vergleich zweier Besatzungszonen in den Blick bekommt. Dabei lässt sich Müller nicht von tradierten und einengenden Vorannahmen leiten – etwa dergestalt, dass „die Amerikaner“ stets als Freunde und gute Nachbarn in Deutschland gelebt hätten, „die Russen“ indes stets als Störenfriede und Potentaten des Alltags. Christian Th. Müllers Forscherneugier begnügt sich nicht mit solchen Stereotypen. Er hat die Archive mit offenem Blick durchforstet, und es gelingt ihm ein facettenreiches Kaleidoskop vom Besatzungsalltag, das nicht selten durch unerwartete Perspektiven verblüfft. Freilich lässt diese Arbeit auch Wege über sich selbst hinaus aufscheinen: Sie bleibt insofern statisch, als sie ausschließlich Quellen deutscher Provenienzen zum Vergleich heranzieht – die Gegenbilder und Gegenüberlieferungen der beiden Besatzungsmächte bleiben leider außen vor. Daher fordert das Buch geradezu auf, künftig über eine bloße Vergleichsgeschichte hinaus zu einer Transfergeschichte der Besatzungen in Deutschland zu gelangen.

Anmerkung:
1 Thomas Leuerer, Die Stationierung amerikanischer Streitkräfte in Deutschland. Militärgemeinden der U.S. Army in Deutschland seit 1945 als ziviles Element der Stationierungspolitik der Vereinigten Staaten, Würzburg 1997; Ilko-Sascha Kowalczuk / Stefan Wolle, Roter Stern über Deutschland, Berlin 2001; Silke Satjukow, Besatzer. „Die Russen“ in Deutschland 1945–1994, Göttingen 2008.

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