S. Lichtenberger u.a. (Hrsg.): Arbeit ist das halbe Leben…

Cover
Titel
Arbeit ist das halbe Leben…. Erzählungen vom Wandel der Arbeitswelten seit 1945


Herausgeber
Lichtenberger, Sabine; Müller, Günter
Reihe
Damit es nicht verlorengeht… 65
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S., 29 SW-Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruth Rosenberger, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn

Das halbe Leben? Mindestens, aber eigentlich noch viel mehr: Arbeit erhält seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihrem anhaltenden Wandel eine wachsende Bedeutung für jeden Einzelnen und beansprucht eine zunehmende Aufmerksamkeit. Nicht nur deshalb verwundert es, dass vielfältige, individuelle Arbeitserfahrungen und -erzählungen bislang kaum dokumentiert worden sind. Im vorliegenden, sowohl für die Forschung als auch für ein breiteres Publikum gedachten Band wird dies sehr verdienstvoll und solide unternommen.

Das Buch erscheint als Band 65 der Reihe „Damit es nicht verlorengeht…“, in der der Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ seit den 1990er-Jahren persönliche Erinnerungen zumeist autobiografischer Provenienz veröffentlicht. Der Verein ist angesiedelt am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien.1 Dort befindet sich auch das entsprechende Textarchiv, in dem lebensgeschichtliche Aufzeichnungen aller Art gesammelt und wissenschaftlich erschlossen werden: Tagebücher, Chroniken, Autobiografien, Familiengeschichten usw. Diese österreichische Einrichtung hat eine ganz ähnliche Entstehungsgeschichte wie das Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität Hagen bzw. das dortige Archiv „Deutsches Gedächtnis“, das aus der Alltagsgeschichte und der Oral-History-Bewegung der 1980er-Jahre hervorgegangen ist.2

Der vorliegende Band konzentriert sich auf Formen der Erwerbsarbeit. Ziel der Herausgeber ist es, moderne Arbeitswelten und die Frage der materiellen Existenzsicherung stärker als bisher in den Blick zu rücken. Denn abseits von Kriegs- und Krisenzeiten herrsche ein eigentümliches „Desinteresse an den elementaren Produktionsverhältnissen und ihren historischen Veränderungen“ (Einführung, S. 11). Im Sommer 2009 veröffentlichte der Verein für lebensgeschichtliche Aufzeichnungen daher in Kooperation mit dem Institut für Gewerkschafts- und A[rbeiter]K[ammer]-Geschichte einen entsprechenden Aufruf, persönliche Erinnerungen schriftlich festzuhalten und einzureichen. Ein Viertel dieser Beiträge (meist gekürzt) ist in dem vorliegenden Buch nun veröffentlicht. Dass sich eher Menschen mit einer erfolgreichen Berufsbiografie an einem solchen Projekt beteiligen, reflektieren die Herausgeber offen; ebenso, dass „eine besondere Neigung zum Schreiben“ nicht selten Voraussetzung war (S. 13). Obwohl es ein erklärtes Ziel der Sammlung ist, gerade Biografien von weniger gebildeten Menschen zu erfassen, wurden offenbar keine Überlegungen angestellt, auch Erzählungen in Form von Audio- und/oder Videobeiträgen aufzunehmen. Dies erstaunt, zumal das Projekt explizit den Anspruch vertritt, sowohl mediale Repräsentationen als auch individuelle Erinnerungen von Arbeit zu berücksichtigen.

Die Zusammenstellung der veröffentlichten Beiträge ist, wie die Herausgeber selbst einräumen, „zweifellos eine selektive und in mehrfacher Hinsicht unvollständige ‚Bestandsaufnahme‘ historischer Arbeitswirklichkeiten“ (S. 13). Aus dem Gesamtbestand von ca. 80 Einreichungen ausgewählt wurden „besonders differenzierte, originelle oder pointierte Einblicke in unterschiedliche berufliche Milieus oder Karrieren“ (ebd.). Die Beispiele zeigen Vertreter traditionsreicher Berufe wie die Schriftsetzer, die sich sehr stark mit ihrer Tätigkeit und der damit verbundenen Kultur identifizieren – entsprechend schwer fällt es ihnen, in Zeiten des Wandels Alternativen zu finden. Andere Protagonisten wiederum orientieren sich in erster Linie an Verdienstmöglichkeiten und sicheren Beschäftigungsverhältnissen. Hier sind weniger vorhersehbare Berufsbiografien nicht unüblich – etwa vom Schneider über das Militär und industrielle Textilarbeit bis zur Anstellung im gehobenen öffentlichen Dienst. Auch Aspekte der Arbeitsbelastung, zum Beispiel wiederkehrende Überforderungssituationen, finden sich als berufsbiografisches Muster in den Beiträgen.

In den veröffentlichten Erzählungen durchgängig berücksichtigt wurden der Geschlechterproporz sowie eine „Streuung über möglichst viele verschiedene Felder nicht-selbständiger Erwerbsarbeit“ (S. 14). Beiträge von Frauen, die vor allem das Verhältnis bzw. den wiederholten Wechsel zwischen Beruf, Haushalt und Kinderbetreuung beleuchten, sind einem Folgeband der Reihe vorbehalten3 und kommen hier daher nicht vor. Die Autorinnen und Autoren der Beiträge sind zwischen 1923 und 1951 geboren; der zeitliche Schwerpunkt liegt zwischen den 1950er- und den 1980er-Jahren. Die meisten Erzählungen sind in Österreich angesiedelt, einige reichen darüber hinaus. Sehr auffällig ist, dass vor allem unter den männlichen Beiträgern viele ehemalige Betriebsräte und Gewerkschafter sind. Ihre Schilderungen bieten auch Einblicke in historische Lebenswelten von Arbeitnehmervertretern, sei es im Hinblick auf persönliches Vorankommen durch gewerkschaftliche Bildungsangebote, sei es hinsichtlich speziell gefärbter sozialistisch-marxistischer Weltsichten. Dass die Arbeitgeberseite und ebenso die Perspektiven leitender Angestellter überhaupt nicht vorkommen, muss als pfadabhängiges Überbleibsel oder als Reminiszenz an die traditionelle Alltagsgeschichte verstanden werden. Das zeithistorisch relevante Spektrum von Arbeit ist zweifellos viel breiter, als der herkömmliche Dualismus von Arbeit und Kapital dies abbilden kann.

Insgesamt enthält das Buch zwanzig Geschichten – neun von Frauen, elf von Männern. Die Länge variiert zwischen fünf und dreißig Seiten. Der Sinn der Ordnung nach Geschlechtern – zuerst die Beiträge von Männern, dann diejenigen der Frauen – hat sich der Rezensentin nicht erschlossen; Parallelen in den einzelnen Erzählungen werden nicht erkennbar. Gut und hilfreich ist hingegen, dass jeder Erzählung ein redaktioneller Abschnitt vorangestellt ist, der über die wichtigsten Daten und Rahmenbedingungen zum Leben der jeweiligen Person informiert. Genauso nützlich ist das Glossar am Ende des Buchs, das historische Begriffe, Institutionen und Abkürzungen erläutert, die in den Schilderungen auftauchen.

Die einzelnen Geschichten umfassen mal kürzere, mal längere Zeiträume. Manche sind emotional, manche eher sachlich beschreibend. Einige wirken fast fremd, weil sie eben historische Zustände vor fundamentalen Veränderungen darstellen. Dies gilt etwa für die Geschichte von Hubert Schmiedbauer, der als „Mitglied einer polygraphischen Dynastie“ (S. 34), als Schriftsetzer und Kommunist, mit dem Aufkommen des Computers den Niedergang der Arbeiterelite am eigenen Leib erfuhr und bis heute „Sprachverfall“ und „Kulturschande“ geißelt (S. 54f.). Manche Erzählungen klingen auf den ersten Blick beinahe lapidar – zum Beispiel die Schilderung von Aloisia Käferböck, die ihr hartes Arbeitsleben ohne Ausbildung als Hausgehilfin sowie später als verheiratete Hausfrau und Mutter in sehr einfachen Verhältnissen verbracht hat. Doch gerade solche Geschichten – völlig ohne Larmoyanz und Pathos, die in Sätzen enden wie „Aber wenn ich nochmal anfangen könnte, würde ich sicher einen guten Beruf erlernen“ (S. 226) – machen diese Erzählungen lesenswert.

Individuelle Schilderungen, wie sie im vorliegenden Buch zusammengestellt sind, bieten auch für ein breiteres Publikum eine Form der multiperspektivischen Geschichtsdarstellung. Hier bekommt man einen Eindruck von der Vielfalt der Möglichkeiten, wie es auch gewesen sein konnte. Als Quellensammlung und als anschaulicher Einblick in die Bestände eines entsprechenden Archivs ist das Buch zugleich ein attraktiver Service für die Forschung. Das Ziel der Reihe „Damit es nicht verlorengeht…“ erfüllt der Band damit vollauf. Unerwähnt bleibt allerdings der quellenkritische Aspekt, dass es sich nahezu durchgängig um retrospektive Erzählungen mit unterschiedlichem Zeitabstand zum Erzählten handelt und fast nie um zeitgenössische Berichte. Etwas mehr an historischer Kontextualisierung der Geschichten, etwas mehr an Analyse oder Bereitschaft zur (Hypo-)These in der Einleitung wäre möglich und noch attraktiver gewesen. In der vorliegenden Form stehen die einzelnen Erzählungen nebeneinander – einen synthetisierenden Mehrwert aus dieser Zusammenstellung zu gewinnen bleibt Sache des (informierten) Lesers.

Anmerkungen:
1 <http://wirtschaftsgeschichte.univie.ac.at/vereine/doku/> (17.03.2013).
2 <http://www.fernuni-hagen.de/geschichteundbiographie/deutschesgedaechtnis/> (17.03.2013).
3 Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Hrsg.), Kinder – Küche – Karriere. Acht Frauen erzählen, Wien 2013 (im Erscheinen).