J. Rischbieter: Mikro-Ökonomie der Globalisierung

Cover
Titel
Mikro-Ökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870–1914


Autor(en)
Rischbieter, Julia Laura
Reihe
Industrielle Welt 80
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
428 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Barth, Geisteswissenschaftliche Sektion, Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg Hamburg zum wichtigsten europäischen Umschlagplatz für Kaffee auf, und die Gründe für diese Erfolgsgeschichte sind bisher nur wenig untersucht worden. Kaffee wurde im 19. Jahrhundert von einer Luxusware zu einem Massenhandelsgut und einem Getränk, das auch in den europäischen Unterschichten zunehmend populär wurde. Julia Laura Rischbieter möchte keine weitere Studie vorlegen, die ein wichtiges Konsumgut in der methodischen Tradition der „commodity chains“ untersucht, sondern sie will am Beispiel der Hamburger Kaffeehändler eine Mikroebene der Globalisierung vor dem Ersten Weltkrieg darstellen. Dies ist ein lohnendes Ziel, weil sich allein in Hamburg über 750 Firmen mit dem Import von Kaffee beschäftigten und der Kaffeehandel eine überaus komplexe Organisation erforderte, die eine Monographie rechtfertigt. Von der Ernte bis zum Konsum waren mindestens 16 Handels- und Verarbeitungsstufen erforderlich, und Ende des 19. Jahrhunderts stellte Kaffee weltweit eines der wichtigsten Handelsgüter dar.

Ein weiteres Ziel der Arbeit besteht darin, Globalisierung als eine produktzentrierte Interaktionsgeschichte zu beschreiben, wobei Märkte sich gerade nicht durch Automatismen oder durch anonyme Kräfte regeln, sondern sowohl durch variable Netzwerke als auch durch das Handeln von einzelnen Akteuren entstehen und sich verändern. Gerade die hochgradig dynamischen Wechselwirkungen zwischen Konsum, Handel und Anbau stehen im Mittelpunkt des Interesses der Autorin, die einen rein makroökonomischen Blick als zu holzschnittartig ablehnt. Rischbieter untersucht zahlreiche weitere Aspekte des Themas: die Transformation der rapide wachsenden internationalen Kaffeemärkte bis zum frühen 20. Jahrhundert, den lokalen Kaffeehandel in Hamburg unter besonderer Berücksichtigung der Großhändler, die Standortfaktoren im Vergleich zu anderen europäischen Hafenstädten sowie die Entstehung und Bedeutung des Terminhandels. Auch in Bezug auf die Ausbreitung von Schädlingen waren die Kaffeemärkte Ende des 19. Jahrhunderts global integriert.

Ausgezeichnet gelungen sind die Kapitel über Vertriebs- und Verkaufsstrategien und über die Popularisierung und Kommerzialisierung im Bürgertum, wo mit der Kaffeetafel oder dem Kaffeekränzchen neuartige Konsumkulturen entstanden, die bürgerlichen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen angepasst waren. Auch in der Arbeiterschaft wurde Kaffee durch die vor dem Ersten Weltkrieg stark sinkenden Preise schnell populär und spielte im Alltag (zum Beispiel in Werkskantinen) eine stetig wachsende Rolle. Diese Kapitel sind stets auf dem letzten theoretischen Stand und sowohl gut lesbar als auch anschaulich geschrieben. In der Werbung bestand beispielsweise ein sehr breites Repertoire von Motiven, und der „commodity racism“ bzw. die Assoziation von Kaffee mit Exotik oder mit dem Orient, die in der älteren Forschung häufig hervorgehoben worden ist, stellte letztlich wohl eher einen untergeordneten Aspekt dar. In der deutschen Werbung für Bohnenkaffee wurden neben abstrakten oder lokalen Motiven auch Kriegerdenkmäler verwendet, ebenso mussten Kaiser Barbarossa oder Arminius als Werbeträger herhalten. Gelegentlich wurden auch die deutschen Kolonien in der Reklame herangezogen, obwohl der dort angebaute Kaffee mengenmäßig nur eine verschwindend geringe Rolle spielte und zudem von minderer Qualität war.

Ebenfalls innovativ ist die Beschreibung der Selbstregulierungsmechanismen innerhalb der Hamburger Kaufmannschaft. Einmal mehr wird die enorme Bedeutung deutlich, die Vertrauen, mündlich tradierte kaufmännische Verhaltenskodizes und bestimmte soziale Konventionen im alltäglichen Handel hatten. Der Standort Hamburg war auch deshalb attraktiv, weil die freiwillige Schiedsgerichtsbarkeit der Kaufleute bei alltäglichen Streitigkeiten diese „weichen“ Faktoren berücksichtigte. Allerdings vermag Rischbieter auch zu zeigen, dass das gerne tradierte Bild des ehrbaren Kaufmannes, der sich an bestimmte, nicht schriftlich fixierte Verhaltensmuster hielt, durchaus flexibel interpretiert werden konnte bzw. im konkreten Einzelfall auch durch die Mehrheit zu ihrem Vorteil interpretiert wurde.

Ein weiteres lesenswertes Kapitel befasst sich mit der politischen Ebene. Im Zusammenhang mit den Streitigkeiten um eine Reichsfinanzreform wurden 1909 die Kaffeezölle angehoben, was zu erheblichen und langwierigen Streitigkeiten in der Presse führte. Diskutiert wurden die Schuldfrage für die Teuerung und die dadurch hervorgerufenen sozialen Ungleichheiten. Dahinter standen neben den politischen Parteien mit ihren jeweiligen Klientelgruppierungen auch die Gegensätze zwischen dem Importgroßhandel, der grundsätzlich global orientiert war, und dem Groß- und Einzelhandel, der sich primär am Binnenmarkt orientierte. Das Buch ist reichhaltig mit Bildern, Tabellen, Graphiken und Statistiken illustriert, die teilweise weit über den reinen Kaffeeanbau, -handel und -konsum hinausgehen und weiterführende Auskünfte zu Weltmarktverflechtungen geben.

Kritisch sind allerdings zwei Punkte anzumerken. Erstens erschließt das Kapitel über die Entstehung und die Bedeutung der Hamburger Terminmärkte neue Quellengruppen, die zeigen, wie wichtig Terminkontrakte im internationalen Handel bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren. Dennoch entsteht ein ungleichgewichtiges Bild, denn die Finanzierung der Kaffeeimporte gestaltete sich insgesamt sehr viel komplexer und auch internationaler, als Rischbieter darstellt. Unklar bleibt, warum Warengeschäfte durch Terminkontrakte abgesichert werden mussten, wenn die jeweiligen Währungen auf dem Goldstandard basierten. Überhaupt nicht erwähnt wird das für die Handelsfinanzierung wichtigste Institut mit Sitz in Hamburg, die Brasilianische Bank für Deutschland, die auch wegen ihrer guten Kontakte nach London seit den 1890er-Jahren für die Finanzierung des deutschen Kaffeehandels eine zentrale Stellung inne hatte und die mehr als zwei Jahrzehnte lang glänzende Geschäftsergebnisse vorlegte.

Zweitens beschränkt sich Rischbieter weitgehend darauf, die Tätigkeit der Hamburger Kaufleute in Hamburg selbst bzw. in Deutschland zu untersuchen, eine Methode, die durch die vorwiegend deutschsprachigen Quellen quasi vorgegeben wird. Hieraus entsteht aber ein Bild, das sehr viel „nationaler“ gefärbt sein dürfte als die damalige Realität, weil die meisten dieser Handelshäuser, bezieht man ihre zahlreichen Aktivitäten in Südamerika und in London mit ein, damals wirklich als multinationale Akteure tätig waren. Zwar werden einige Auswirkungen von „Globalisierung“ vor 1914 untersucht, die Frage, wie „global“ bzw. wie „deutsch“ die Hamburger Kaufleute jenseits ihrer für den heimischen Markt bestimmten nationalen und patriotischen Äußerungen agierten, wird letztlich aber nicht beantwortet.

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