B. Kroener u.a.: Organisation und Mobilisierung

Titel
Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942 - 1944/45


Autor(en)
Kroener, Bernhard R.; Müller, Rolf-Dieter; Umbreit, Hans
Reihe
Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg 5/2
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 1082 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Budraß, Lehrstuhl Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Ruhr-Universität Bochum

Fortsetzungen haben ihre Tücken. Je später sie erscheinen, desto mehr erhofft sich der Leser von ihnen. Schon weil die Fortschritte der Forschung verarbeitet werden mußten, ist die hier in Rede stehende Fortsetzung neugierig erwartet worden: der zweite Halbband des fünften Bandes der monumentalen Reihe "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg", herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA). Elf Jahre gingen seit dem Erscheinen des Halbbandes 5/1 ins Land, und unsere Erkenntnisse zur Sozialstruktur der Wehrmacht, zur deutschen Besatzungspolitik und auch zur Rüstung des Dritten Reiches sind unterdessen gründlich revidiert worden. Eben diesen Themen widmen sich abermals Hans Umbreit, Rolf-Dieter Müller und Bernhard Kroener: Der Kriegsverwaltung, der Wirtschaft und den personellen Ressourcen des Deutschen Reiches zwischen 1942 und 1944/45.

Umbreits Beitrag schließt nahtlos an die Darstellung von 1988 an. Endete er dort mit einem Ausblick auf "Hitlers Europa", so bildet die Beschreibung der deutschen Besatzungspolitik in Kontinentaleuropa nun den ersten von zwei Teilen seines Beitrags. Das Besatzungsregime in den besiegten und den ehemals verbündeten Ländern folgte der Radikalisierung des nationalsozialistischen Regimes. Schwierigkeiten wurden stets und auch gegen die Interessen an einer Mobilisierung der Ressourcen mit verschärften Repressionen beantwortet. Die Höheren SS- und Polizeiführer marginalisierten die Militärbefehlshaber und die deutsche Zivilverwaltung unterdessen regelmäßig. Die Besatzungspolitik verschärfte sich gerade im Osten derart, daß die Radikalen der ersten Stunde wie etwa Hans Frank im Generalgouvernement, Karl Hermann Frank im Protektorat und Wilhelm Kube in Weißrußland schließlich jene waren, die im Interesse einer effizienten Ausbeutung vor der weiteren Intensivierung des Terrors warnen mußten. Dennoch, eine demonstrativ zur Schau getragene Unerbittlichkeit stellte den Schlüssel zum Aufstieg im Besatzungsregime dar. Der deutsche Machtbereich zerfiel am Ende in zahlreiche Prokonsulate, in denen ein "vertikal aufgesplittertes Besatzungsregime" lähmende Reibungsverluste produzierte.

Die Politik dieses Regimes folgte zwei Hauptmotiven, der ökonomischen Ausbeutung und der Umsetzung des rassistischen Programms. Die besetzten Länder mußten, dies zeigt Umbreit im zweiten, systematisch gegliederten Teil seiner Untersuchung eindringlich, zuerst und vor allem den Krieg nähren. Sie waren ein Reservoir für Arbeitskräfte und Lebensmittel, leisteten horrende Wehrbeiträge und hielten durch ihre Rohstoffe die deutsche Rüstungsindustrie in Gang. Eine wie auch immer verstandene kulturelle Hegemonie war angesichts dessen Makulatur. Kollaborateure aller Stufen, auch die Volksdeutschen in den annektierten polnischen Gebieten, galten als mehr oder minder verachtete Erfüllungsgehilfen, die für geringe materielle Vorteile deutsches Militärpersonal für die Front freimachten, sofern sie nicht selbst für die diversen fremdvölkischen Verbände des Heeres und der Waffen-SS rekrutiert wurden. Die gewisse Wertschätzung der Völker in West- und Nordeuropa brachte dort ein im Vergleich zu Ost- und Südosteuropa milderes Regime hervor, obschon sich die Verhältnisse in den letzten Monaten des Krieges anglichen. Der Mord an den Juden bildete indes den programmatischen Kern der "inneren Neuordnung" Europas, wenn er auch zeitweilig im Sinne des Sicherheitsbedürfnisses der Besatzungsmacht als Partisanenbekämpfung bemäntelt wurde.

Seinem Standardwerk von 1988 hat Umbreit mithin den Schlußstein angefügt. Die Kritik richtet sich daher auch nicht gegen den empirischen Gehalt, sondern vielmehr gegen das Handlungsmodell von Umbreits Untersuchung. Es mag wohl sein, daß der Krieg noch länger gedauert hätte, wenn die Ressource des Antikommunismus unter den Völkern Osteuropas effektiver gegen die Sowjetunion eingesetzt worden wäre, oder wenn eine weniger brutale Rekrutierung von Arbeitskräften wenigstens eine störungsfreie Nutzung der industriellen Kapazitäten der besetzten Länder ermöglicht hätte. Die jüngere Forschung folgt Umbreit aber nur noch bedingt, wenn er das Übergewicht der "ideologischen Prinzipien" im "Zwiespalt zwischen Dogma und Nützlichkeitserwägungen" als Ursache der Exzesse unter der deutschen Besatzung herausarbeitet. Ist doch ihr faszinierendes Ergebnis, daß gerade diese "Nützlichkeitserwägungen" das deutsche Besatzungsregime zu einem derartigen Ungeheuer haben werden lassen. Gerade jenen, die sich der rationellen Beherrschung des deutschen Besatzungsgebietes verschrieben, drängte sich die Einsicht auf, daß es in Hitlers Europa ein paar Millionen "nutzlose Esser" zu viel gab. Ein eiskalter Technokrat wie Backe hat den Massenmord Hand in Hand mit dem versponnenen Ideologen Rosenberg vorangetrieben. Ideologie und Opportunität in einen Widerspruch zu setzen, heißt, diese Erkenntnis zu vernebeln.

Die "Menschenökonomie" als treibende Kraft der deutschen Politik während der Kriegszeit wird in allen drei Teilen des Bandes behandelt. Dem unersättlichen Bedarf nach Arbeitskräften, Hilfswilligen und Soldaten auf den Grund geht aber Bernhard Kroener. Sein erstes Kapitel gilt der Zeit zwischen Sommer 1942 und Frühjahr 1943, das zweite behandelt die Jahresspanne zwischen Sommer 1943 und Sommer 1944. Jedes dieser Kapitel läßt sich wiederum grob in zwei Abschnitte gliedern. Einen, der den Arbeitseinsatz an der Heimatfront mit seinen vielfältigen Verästelungen behandelt und einen zweiten, in dem Kroener die Ersatzgestellung der Wehrmacht darlegt. Diese verbundene Betrachtung allein ist und war auch schon im Band 5/1 die große Leistung Kroeners. Er beschränkt sich nicht darauf, die Begründung zu wiederholen, die in allen Arbeiten zur Zwangsarbeiterbeschäftigung angeführt wird, ausländische Arbeitskräfte seien rekrutiert worden, um die eingezogenen Facharbeiter zu ersetzen, sondern er sucht eine Antwort auf die keineswegs einfache Frage, warum die Wehrmacht eigentlich so viele Soldaten brauchte.

Diese methodische Innovation wird freilich mit gewissen Beschränkungen erkauft. Kroener beläßt es dabei wie schon im Band 5/1 nur die für die personelle Rüstung verantwortlichen staatlichen Stellen zu untersuchen und blickt nicht etwa auch in die Industrieunternehmen. Für die Ökonomie der Darstellung mag dies bedingt notwendig sein. Wenn völlig unterschiedliche Akteursgruppen betrachtet werden, dann droht die Untersuchung in zwei unverbundene Teile zu zerfallen. Gegen diese Auffassung ist freilich auch einzuwenden, daß das Wesen der personellen Rüstung seit der Zerschlagung des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes gerade darin bestand, daß die Wehrersatzbehörden so gut wie keinen Austausch mehr mit jenen Stellen pflegten, die sich um Arbeitskäfte kümmerten. Es gibt daher in beiden Kapiteln Kroeners ziemlich abrupte Brüche bei der Überleitung vom Arbeitseinsatz zum Wehrersatz.

Aus diesem Grund wäre der Komplex des Arbeitseinsatzes wohl besser in Müllers Teil zur Rüstungspolitik behandelt worden. Zwar präsentiert Kroener auch hier neue Erkenntnisse zu einzelnen Aspekten, etwa zu den Auftragsverlagerungen in die besetzten Gebiete, zur Arbeit der in Deutschland verbliebenen Juden oder zur Ernennung der Arbeitseinsatzingenieure. Da er jedoch Mr. Hyde ohne Dr. Jekyll, Fritz Sauckels Zwangsarbeitssystem ohne Albert Speers Rüstungsmaschinerie untersucht, sind die Abschnitte zum Arbeiterbedarf in der Kriegswirtschaft insgesamt blaß. Die Einrichtung des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, die Stufenfolge der Einbindung von Kriegsgefangenen, Zivilarbeitern und KZ-Häftlingen werden souverän referiert; die Darstellung bleibt aber in vorgezeichneten Bahnen.

Wie anders die Abschnitte zur Ersatzgestellung der Wehrmacht. Schon im Band 5/1 hatte Kroener mit einer nüchternen Analyse der Statistiken dargelegt, welches Ausmaß die personellen Verluste der Wehrmacht annahmen. Der rücksichtslose Einsatz von Soldaten war bis zum Ende das Kennzeichen der deutschen Kriegsführung und in mancher Hinsicht war er sogar das Geheimnis der Erfolge in den ersten Kriegsjahren. Der nicht enden wollende Vormarsch in der Sowjetunion kostete jedoch so vielen kriegserfahrenen Soldaten das Leben, daß Fehlstellen im Heer von der Jahreswende 1941/42 an nicht mehr gleichwertig besetzt werden konnten. Generale wie der Chef des Allgemeinen Heeresamtes, Friedrich Olbricht, oder der Chef der Heeresrüstung, Fritz Fromm, die Denkschriften über die absehbare Eskalation der blutigen Verluste verfaßten, wurden indes ins Abseits gedrängt. Kroeners Gegenstand ist eine verantwortungslose Wehrmachtsführung, die Jahrgang auf Jahrgang unbarmherzig ins Feuer schickte, bis der "Krieg der Kinder und Greise" Wirklichkeit geworden war. Im Herbst 1943 starben 150.000 deutsche Soldaten im Monat.

Da sich die Rüstungsstellen, namentlich Albert Speer, zunehmend gegen Einziehungen von u.k.-Gestellten sperrten, mußte die Wehrmacht mehr und mehr Planstellen in Versorgungseinheiten reduzieren, um "Kämpfer an die Front" zu bekommen. Schließlich blieb nur noch eine Reform der Verbändestruktur, um jene Million Männer zu gewinnen, die das Heer Ende 1943 benötigte. An der Umgliederung zeigt Kroener eindringlich, wie ausweglos die Lage war. Abgekämpfte Divisionen sollten aus propagandistischen Gründen nicht aufgelöst werden. Deshalb entstand mit der Infanteriedivision neuer Art ein Verband, dessen infanteristisches Element erhalten blieb, während die technischen Einheiten stark reduziert wurden. Da aber diese neuen Divisionen ebenfalls ihre Sollstärke nicht halten konnten, ergab sich nach kurzer Zeit abermals ein Mißverhältnis zwischen Versorgungs- und Fechtender Truppe, so daß wieder das mühselige "Auskämmen" begann, um Kämpfer für den vordersten Graben freizumachen. Als 1944 dann doch die Entscheidung fiel, zerschlagene Verbände aufzulösen und ihre Reste zu neuen Einheiten zusammenzufügen, zeigte sich, daß der Einsatzwert der neuen Divisionen geringer war, weil ihre innere Bindung verloren gegangen war, die ursprünglich etwa durch das landsmannschaftliche Prinzip noch bestanden hatte.

Im Zusammenhang mit der Umgliederung beleuchtet Kroener ein bislang wenig beachtetes Phänomen, den Einsatz der "hilfswilligen" sowjetischen Kriegsgefangenen. Schon im Herbst 1942 lag der Anteil der Hilfswilligen bei 10 bis 12 % der Iststärke der deutschen Divisionen im Osten. Bei der Einführung der Infanteriedivision neuer Art wurde ihr Anteil auf fast 20 % der Sollstärke festgelegt. Die Wehrmacht schöpfte Ihren Ersatz schließlich aus Siebzehnjährigen, die wegen der Verschlechterung der Ernährungsbedingungen buchstäblich noch nicht erwachsen waren, und aus mehr oder minder zwangsweise rekrutierten Ausländern. Es ist die große Leistung Kroeners, die Tragik dieses Strukturwandels offengelegt zu haben, vor dessen Hintergrund die durch die gleichen Zwänge bewirkte soziale Öffnung des Offizierskorps, die er in einem umfangreichen Exkurs untersucht, als alles andere, aber nicht als Modernisierung erscheint.

Rolf-Dieter Müller hatte sich schon 1988 festgelegt, daß er nicht allein die Rüstungspolitik in der zweiten Kriegshälfte resumieren wolle, sondern zugleich den "Durchbruch eines neuen Konzepts der Lenkung und Leitung". Und so ist sein Beitrag, der etwa die Hälfte des Bandes einnimmt, nicht der Sache allein, sondern auch dem Mann gewidmet, der für diese neue Konzeption stand. Es geht um "Albert Speer und die deutsche Rüstungspolitik im Totalen Krieg."

Müller beginnt mit zwei chronologisch-systematisch gegliederten Kapiteln, in denen der politische Aufstieg Speers zum "Rüstungsdiktator" und der Durchbruch seines "neuen Konzepts" bis in die zweite Hälfte 1944 geschildert wird. Dem schließt sich ein Kapitel zu den "volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen" der Rüstungsproduktion an, das von der Sicherung der Grundstoffproduktion, über die Energie-, Verkehrs-, Bau- und Landwirtschaft hin zur Konsumgüterproduktion bis zur Versorgung der Bevölkerung reicht. Erst dann dringt Müller zum systematischen Kern, der eigentlichen Rüstungsproduktion vor. Die Prioritätensetzungen in den Besprechungen mit Hitler werden angesprochen, sodann folgt eine Betrachtung der vordringlichen Programme der einzelnen Wehrmachtsteile, anschließend werden die Ergebnisse der Rüstungsproduktion aufgereiht und schließlich findet sich noch ein Abschnitt zu den sogenannten Wunderwaffen. Als Abschluß werden die rüstungspolitischen politischen Entwicklungen in der Agonie des Reiches geschildert.

Aus diesem Gang der Argumentation wird der Anspruch Müllers deutlich, die deutsche Rüstung in der zweiten Kriegshälfte umfassend darzulegen. Es gelingt ihm auch, einen Eindruck von den enormen, aber letztlich vergeblichen Anstrengungen zu vermitteln, die Wehrmacht mit Waffen zu versorgen. Die Fülle wird jedoch nur scheinbar gegliedert. Da Müller darauf verzichtet, Schwerpunkte in der Darstellung zu setzen und vielleicht da und dort einmal die Probleme bei der Produktion einer Waffe stellvertretend für viele andere darzustellen, produziert er eine Flut von Einzelheiten, in denen sich der geneigte Leser hoffnungslos verliert. Nicht einmal die bilanzierenden Teile werden dabei von allgemeinen Erörterungen zu Grundfragen der materiellen Rüstung oder immer wieder eingeschobenen Betrachtungen über die Motive Albert Speers getrennt. Seine Erörterungen zur Kampfkraft der Wehrmacht und das ziemlich zentrale Problem "Technik und Wehrmacht" legt Müller hingegen höchst unscheinbar im Kapitel zum "Rüstungsausstoß 1942 - 1944" ab. Doch enttäuscht er auch die Hoffnung, daß diese chaotisch aneinandergereihten Aspekte in der Summe ein Gesamtbild der deutschen Rüstung ergeben. Nahezu alle Waffen bis hin zu einzelnen Granatwerfer-, Pak- und Gewehrtypen finden Aufmerksamkeit. Der bekanntlich nicht produzierten deutschen Atombombe widmet Müller fast zwanzig Seiten. Das Kernprodukt der deutschen Rüstung 1943/44, das Flugzeug Bf 109, dessen Herstellung mehrere hunderttausend Arbeiter und einen beträchtlichen Teil der Ressourcen band, erwähnt er hingegen nicht ein einziges Mal.

Es kann nicht erwartet werden, daß ein Autor die ganze Literatur rezipiert, die mittlerweile zum Thema erschienen ist. Die Lückenhaftigkeit ist jedoch zu einem guten Teil auf den Umstand zurückzuführen, daß Müller nicht auf dem Stand der Forschung argumentiert. Weder die Daimler-Benz-Bücher von Pohl/Habeth/Brüninghaus bzw. Hopmann/Spoerer/Waitz sowie Neil Gregor werden aufgenommen, noch die Arbeiten von Petra Bräutigam und Astrid Gehrig, noch Mark Spoerers Darstellung der Unternehmensgewinne. An dem Buch von Mommsen und Grieger konnte man kaum vorbeisehen, jedoch berücksichtigt Müller keinen einzigen der zahlreichen Aufsätze von Manfred Grieger. Man kann zu den Arbeiten von Karl-Heinz Roth stehen wie man mag; er hat aber in den letzten zwanzig Jahren höchst innovative Impulse zur Geschichte der Rüstung im Dritten Reich beigetragen. Um so verwunderlicher ist, daß Müller nicht einen einzigen Aufsatz, geschweige denn dessen Daimler-Benz-Buch berücksichtigt, und - obwohl er auf die Verlagerung Goldfisch eingeht - den darin enthaltenen bahnbrechenden Aufsatz von Rainer Fröbe. Die Lücken beschränken sich jedoch nicht auf Unternehmensgeschichte. Die Darstellungen Gustavo Cornis zur Landwirtschaft bleiben ebenso unerwähnt. In Anlehnung an einen ehemaligen Mitstreiters im MGFA, Horst Boog, handelt Müller das Verhältnis von Wehrmacht und Technik einzig und allein unter dem schrägen Begriff "Mängel des Technikverständnisses" ab. Schon mit der Handbuchliteratur - etwa Joachim Radkaus Darstellung - wäre dieser Abschnitt besser gelungen. Radkaus Buch wird aber ebenso souverän ignoriert wie etwa jenes von Michael Geyer zur Rüstungspolitik. Wer jedoch glaubt, Müllers Auswahl sei durch sekundäre Interessen oder gar ein Zitierkartell im MGFA entstanden, täuscht sich: Seine Darstellung des "Rüstungswunders" kommt ohne einen Aufsatz von Richard Overy zu diesem Thema aus, der für eine andere Publikation des MGFA eigens ins Deutsche übersetzt wurde. Statt dessen werden ganze Passagen aus zwanzig und dreißig Jahre alten Büchern referiert; und dies auch noch ungenau. Was sollen seitenlange Ausführungen über horrend steigende Unternehmensgewinne nützen, wenn sie mit einer aus Eichholtz' Kriegswirtschaft entnommenen Tabelle illustriert werden, aus der hervorgeht, daß die Umsatzrendite der IG-Farben seit 1939 rückläufig war (S. 471)? So ist Müllers Beitrag ein einziger Triumphzug für Dietrich Eichholtz. Es gibt im rüstungswirtschaftlichen Teil Müllers kaum einen Aspekt, der nicht in Eichholtz' Bänden von 1983 und 1996 knapper und reflektierter abgehandelt worden wäre.

Doch Müllers eigentliches Problem ist Albert Speer. Seine These lautet im Kern, daß Speer die militärische Rüstungsverwaltung durch eine selbst ersonnene Rüstungsorganisation ablöste, in der Unternehmer und Techniker die Waffenproduktion zu neuen Höhen trugen. Die Behauptung, daß die Rüstungsorganisation der Militärs schwerfällig und inkompentent gewesen sei, hat dabei schon axiomatisches Gewicht. Jedenfalls wird sie nicht belegt. Ebensowenig kann Müller die natürliche "Rationalität" des Handelns von Unternehmern belegen, da er so gut wie keine Quellen aus Unternehmensprovenienz verwendet. Der Aufstieg Speers wird erstens mit den Akten erzählt, die Speer selbst für die Nachwelt gerettet hat, zweitens jener Chronik, die schon während des Krieges zum Zwecke der Überhöhung des Rüstungsministers angefertigt wurde und drittens Speers Nachkriegstexten. Das Ergebnis ist eine literarisch-psychologisierende Betrachtung. Es wimmelt von "introvertierten Generalen", "bulligen Rüstungsmanagern", "asketischen Intellektuellen" und "Cholerikern mit Leutnantsjargon". Zuweilen versteigt sich Müller zu abenteuerlichen Schlußfolgerungen. Daß er auf die gesundheitliche Gefährdung der KZ-Häftlinge hingewiesen habe, die in den Untertagewerke untergebracht wurden (S. 363), diese Rechtfertigung Speers hätte einer Prüfung bedurft. Daß die Krankheit des Rüstungsministers im Winter 1943/44 "psycho-somatische Folge" einer "Verdrängung" des Mordes an den Juden war (S. 341), hat noch nicht einmal Speer selbst gewagt zu behaupten. Ebensowenig, daß "die Angelsachsen ... kein Interesse daran (hatten), durch gezielte Schläge einen schnellen Zusammenbruch der Rüstungsproduktion zu erreichen" (S. 365).

Müller kommt schließlich durchaus zu der Erkenntnis, daß ihm ein notorischer Lügner die Feder geführt hat. So weist er erstmals nach, daß Speer die Produktionsbilanzen fälschte (S. 753f.), und zwar gerade jene vom Juli 1944, die seit dem Ende des Krieges als der wichtigste Beleg für das sogenannte Rüstungswunder gilt. Angesichts der Gefahr für seine Kernthese unterläßt es Müller jedoch, Speers Legenden über die deutsche Rüstung der zweiten Kriegshälfte insgesamt in Frage zu stellen. Daraus ergibt sich eine bisweilen unverständliche Argumentationsführung. Seitenlang entlarvt Müller beispielsweise die kläglichen Anstrengungen der SS zur Errichtung ihres "Wirtschaftsimperiums", und kommt dann zu dem Schluß, dieses von Speer geschaffene Trugbild sei dennoch "zweifellos mehr als ein Phantom" gewesen. Allerdings fehlen Müller auch die Begriffe, um die Speersche Rüstungsorganisation zu beschreiben, da er die Merkmale des "neuen Konzepts der Lenkung und Leitung" meist in Wortbilder - "Straffung" - faßt. Die Folge ist eine Häufung von Widersprüchen (bspw. S. 343), deren Auflösung Müller letztlich entgeht, indem er im Galopp das Pferd wechselt und den "nüchternen Rechner" Hans Kehrl zum eigentlichen Mentor des Rüstungswunders macht.

Vielleicht auch, um die Erwartungen nach dem langen Warten zu dämpfen, schließt das Vorwort des Bandes 5/2 mit einer Vertröstung. Der Umzug des Forschungsamtes von Freiburg nach Straußberg habe bei allen Härten immerhin die Möglichkeit geboten, neue Wissenschaftler zu gewinnen, die in den ausstehenden Bänden 9 und 10 sozialgeschichtliche Segmente an das Gesamtwerk anfügen und auch der Mentalitäts-, Kultur-, und Alltagsgeschichte zu ihrem Recht verhelfen würden. Diese Ergänzung ist wegen des Fortgangs der geschichtswissenschaftlichen Diskussion sicher nützlich. Es stellt sich aber die Frage, ob das MGFA es aus demselben Grund und angesichts der Bedeutung der Reihe bei diesem Resümee der Kriegs- und Rüstungswirtschaft belassen will.

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