Cover
Titel
Der Geschmack des Archivs. Mit einem Nachwort von Alf Lüdtke. Aus dem Französischen übersetzt von Jörn Etzold, in Zusammenarbeit mit Alf Lüdtke


Autor(en)
Farge, Arlette
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
118 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Kröger, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin

Ohne jeden Zweifel haben Archive ihre sensorische Komponente. Soweit die menschlichen Sinne betroffen sind, mag es im Archiv auf eine spezifische Art riechen. Der Geruch wird ganz ähnlich dem von Büchern in Bibliotheken sein; die gleichbleibende Temperatur und die geringe Luftfeuchtigkeit verhindern das Modrige eines zu feuchten Kellers – zumindest sollte das so sein. Dafür sorgt die Klimaanlage, deren Dauergeräusche das Gehör in einer Weise ansprechen, die es geboten erscheinen lässt, mit MP3-Player und Kopfhörern zu arbeiten. Dagegen ist es im Lesesaal flüsterleis – in der besten aller Welten ist es jedenfalls so. Ertasten lässt sich das Spezifische alter Materialien: das Papier natürlich; der Rost der Klammern – sollte nicht sein, kommt aber vor; raue Kordeln – werden immer weniger. Am reizlosesten bleiben die Augen: Ein modernes Archiv ist noch weniger reizvoll als ein Schuhkartonlager. Farblos reihen sich graue Regale voller grauer Kartons aneinander, gut möglich, dass der Raum grau gefliest ist. Im Archiv überwiegt eine Nichtfarbe, schmucklos wie der passend graue Schutzumschlag von Arlette Farges Buch, dem sie den mysteriösen und auch nicht wirklich erklärten Titel „Der Geschmack des Archivs“ gegeben hat („Le goût de l’archive“). Der Geschmack dürfte der Sinn sein, den man am wenigsten mit Archivarbeit in Verbindung bringen kann.

Es ist also trotz des Titels kein Buch über Archive als solche. Diese sind – Stereotype bleiben unüberwindlich – staubig, irgendwie nicht von dieser Welt. Auch die Archivare bleiben – obwohl man die Sympathie der Autorin durchaus spürt – seltsam blass, wenn nicht ein wenig weltfremd oder autoritär, wie der „Saalvorsteher“ (S. 41). Tatsächlich ist es ein Buch über die Nutzung des Archivs, genauer: Es beschreibt den Blickwinkel der Historiker auf Archive. Noch genauer: Es vermittelt uns die Perspektive einer ganz bestimmten Historikerin – Arlette Farge – auf ein ganz bestimmtes Archiv, in dem sie ganz bestimmte Akten eingesehen hat. Und es ist ein Buch, dessen französische Originalausgabe 1989 erschienen ist. Der Erfahrungshorizont ist also ein französischer der 1980er-Jahre. Eine aktuelle Archivwirklichkeit kann hier nicht abgebildet sein – eine deutsche nicht, wahrscheinlich nicht einmal mehr eine französische.

Die Autorin, die sich mit ihren sozialhistorischen Forschungen über die Pariser Unterschichten einen Namen gemacht hat, arbeitete damals im französischen Nationalarchiv mit Gerichtsakten des 18. Jahrhunderts. Ihr Blick auf „das Archiv“ und „die Akten“ ist ein romantisch verklärter, ein literarischer. Ihr ist das Archiv ein „Schatzhaus“, aus dem heraus sie glaubt, mittels der alten Gerichtsakten die Stadt von einst wieder mit Leben erfüllen zu können. Farge lehnt es ab, lediglich „mit den greifbaren und sicheren Auskünften des Archivs zu arbeiten“ (S. 26). Ihr Zugriff ist anderer Natur: „Diese leidenschaftliche Art, eine Erzählung zu konstruieren, eine Verbindung zum Dokument und zu den Personen aufzubauen, die es zutage fördert, kann als ein Relikt heute verstummter Forderungen erscheinen, die nicht mehr zu einer intellektuellen Epoche passen, die zugleich traditioneller – also konservatorischer – ist wie auch weniger interessiert an der Beschreibung des Alltäglichen“ (S. 42f.). Was vor mehr als zwanzig Jahren ungewöhnlich gewesen sein mag – leise Zweifel sind hier angebracht –, ist nach zahllosen „Turns“ der Geschichtswissenschaft selbstverständlicher Teil der Fachpluralität.

So ist denn auch das Motiv für das vorliegende Buch eher im Literarischen zu suchen. Farge nähert sich ihrem Thema mit kleinen erzählerischen Skizzen, in denen sie die – manchmal skurrilen – Begebenheiten ihrer Pariser Archivaufenthalte schildert. Beispielhaft das Folgende: „In den Sälen der Archive kräuselt das Flüstern die Oberfläche der Stille, verlieren sich die Augen, entscheidet sich die Geschichte. Das Wissen und die Unsicherheit vermischen sich, werden in einem anspruchsvollen Ritual angeordnet, in dem die Farbe der Formulare, die Strenge der Archivare und der Geruch der Manuskripte als Wegweiser in einer Welt dienen, die immer wieder eine Initiation fordert. Jenseits der Arbeitswelt findet sich das Archiv. Stets erinnert es an König Ubu.“ (S. 44) Das ist gebildetes Schwadronieren, aber nur selten humorvoll. Mit König Ubu ruft man „Merdre!“

In anderen Teilen des Bändchens konzentriert sich Farge auf die Beschreibung der Arbeit des Historikers, auf das Suchen und Sammeln, Exzerpieren, das Zusammensetzen der gefundenen Versatzstücke („Puzzle“) zu einer Geschichte, auf deren Verdichtung beim Schreiben des Textes. Hier ist das Buch nicht sonderlich anregend, es handelt Allgemeinplätze in einer gestelzten Sprache ab. Dort, wo die Autorin ihren forschenden Zugriff auf das Archivmaterial verteidigt, wird es dann ermüdend. Diese Passagen sind vollständig aus der Zeit gefallen. Weder die Alltags-, noch die Unterschichten-, noch die Geschlechtergeschichte bedürfen heute solcher Rechtfertigungen. Nach der Lektüre fragt man sich, was eine Übersetzung nach so langer Zeit noch bringen kann. Die Antwort lautet im konkreten Fall: nicht viel. Immerhin zeigt sich unbeabsichtigt, aber nicht uninteressant, welche inzwischen trivial wirkenden Methoden und Erkenntnisziele in der französischen Geschichtswissenschaft der 1980er-Jahre offenbar noch strittig waren.

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