Titel
Häuser des Buches. Bilder jüdischer Bibliotheken


Autor(en)
Kirchhoff, Markus
Erschienen
Anzahl Seiten
191 S.
Preis
€ 24.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Ernst Fischer

Die Lebenswelt des europäischen Judentums wird heute, Jahrzehnte nach dem Zerstörungswerk des Nationalsozialismus, in ihrem Reichtum schrittweise wieder entdeckt. In ihren Manifestationen und Bezügen nach und nach rekonstruiert wird dabei auch die einstmals blühende Buchkultur, wie sie sich beim „Volk des Buches“ (Leo Baeck) aus religiösen Ursprüngen heraus gebildet hatte. Bibliotheken repräsentierten einen Kernbereich dieser Buchkultur: Sie bezeichnen Orte, an denen sich - so Dan Diner, der Direktor des Simon-Dubnow-Instituts, im Vorwort des Bandes - der Prozeß der Transformation des Sakralen in das Profane nachvollziehen lässt. Zugleich spiegeln sich in ihrer Geschichte Momente der Hoffnung und Tragik, der Selbstbehauptung und des Untergangs jüdischer Kultur auf eindrückliche Weise. Markus Kirchhoff hat als Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig im Jahr 2000 unter dem Titel „Häuser des Buches – Leute des Buches“ eine Ausstellung zu diesem Thema zusammengestellt und macht nun in Buchform die wesentlichen Ergebnisse seiner für die Ausstellung geleisteten dokumentarischen Arbeit einem breiteren Publikum zugänglich.

Obwohl kein Katalog und auch kein Bildband, kommt dem Buch die visuelle Aufbereitung des Themas sehr zugute. Im Vordergrund steht dabei das sprechende Bild: Zahlreiche Fotografien zeichnen sich durch eine besondere Intensität aus, auch und gerade dort, wo der Inszenierungscharakter der Aufnahmen deutlich wird. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf der Textinformation, einem historischen Längsschnitt, der sich weniger an den wissenschaftlichen Experten als an den allgemein an jüdischer Geschichte interessierten Leser wendet. Gegenstand der Darstellung sind weltliche, öffentliche und wissenschaftliche Einrichtungen bibliothekarischen Charakters im Zeitraum von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20.Jahrhunderts. Der Stoff wird, ohne allzu strenge Systematik, in sieben chronologisch gegliederte Abschnitte geteilt, die ihrerseits häufig recht unterschiedliche Phänomene berühren.

Deutlich wird diese Vielfalt bereits im ersten Abschnitt, der in der Lesekultur des osteuropäischen Shtetls den Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung erkennt. Gefördert von der Haskala, der jüdischen Aufklärung, und den darauf aufbauenden politisch-emanzipatorischen (sozialistischen, später auch zionistischen) Bewegungen waren Bildungsbedürfnisse entstanden, die nachfolgend zur Gründung zunächst von geheimen, nach der Jahrhundertwende legalen öffentlichen Bibliotheken führten; 1904 wurden in Russland bereits 105 solcher Bibliotheken gezählt. Der Horizont erweitert sich an dieser Stelle über Europa hinaus, denn die Auswanderungswellen aus Osteuropa ließ in den Vereinigten Staaten, vor allem in New York, vergleichbare Einrichtungen entstehen; Bildung war die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration der Immigranten. Für die Zeit nach 1918 lenkt Kirchhoff den Blick zurück nach Europa, nach Polen, wo damals die weltweit größte jüdische Bevölkerungsgruppe (rund drei Millionen) lebte. Allen Schwierigkeiten zum Trotz entstand dort in der Zwischenkriegszeit ein dichtes kulturelles Leben. Bibliotheken scheinen sich in dieser Situation zur bedeutendsten säkularen Institution entwickelt zu haben. 1930 wurden in Polen 748 jüdische Bibliotheken gezählt (d.h. solche, in denen die jiddisch- und hebräischsprachigen Bestände überwogen); die wenigsten davon konnten freilich professionell geführt werden. Bildungsorganisationen suchten zur Hebung ihrer Leistungsfähigkeit beizutragen – besonders erfolgreich in Wilna (heute Vilnius), wo vier große Bibliotheken das Kulturleben der Stadt prägten. Neben der Bibliothek des 1925 gegründeten YIVO (Yidisher Visnshaftlekher Institut) beeindruckt der Bericht über die Straschun-Bibliothek, in welcher „täglich im Durchschnitt 230 Leser um die nur 200 Leseplätze kämpften“. In der Tat waren diese Einrichtung, die vorzugsweise den Zugang zu talmudischen Texten und rabbinischen Werken ermöglichte, für viele Teil ihrer Lebenswelt geworden.

Wieder eine andere Facette des Themas nimmt der zweite Abschnitt auf, mit den Genisot (Sing. Genisa), Synagogenräumen, die seit dem Mittelalter für das „Begraben“ religiöser Schriften“ verwendet wurden - kein Schriftstück, das den Namen Gottes enthält, durfte weggeworfen werden. Eine Sensation bedeutete im ausgehenden 19.Jahrhundert die Auffindung der Genisa der Ben Esra-Synagoge in Kairo, Genisot fanden sich in den 1980er Jahren aber auch in Synagogen süddeutscher Landgemeinden; sie geben Aufschluß über das religiöse Leben früherer Epochen. Von Bibliotheken kann hier allerdings nicht gesprochen werden, auch Archive waren Genisot nur in einem indirekten Sinne, so daß dieser Abschnitt am deutlichsten die Tendenz Kirchhoffs zur extensiven Auslegung des Gegenstandsbereichs belegt.

Wieder ins Zentrum des Themas zielt das dritte Kapitel, das die Bibliotheksgründungen in Palästina/Israel nach Beginn der modernen jüdischen Besiedlung des Landes vorstellt. Hier waren es wieder spezifische Zwecksetzungen, die bei der Errichtung solcher Institutionen eine Rolle spielten: praktische Erfordernisse im Aufbau der Gesellschaft, aber auch die symbolische Funktion einer jüdischen Nationalbibliothek. Der Einfluß des deutschen Bibliothekswesens, besonders in Gestalt des Berliner Bibliothekars Heinrich Loewe, machte sich in dieser Hinsicht (aber auch bei den Arbeiter- und sonstigen Bibliotheken) besonders geltend, es wurde aber auch das amerikanische Prinzip der „Free Public Library“ aufgegriffen.

Von dieser Stelle an, mit den Abschnitten 4-6, tritt die Darstellung in den Schicksalsbogen ein, den das jüdische Bibliothekswesen in Deutschland und ab 1938/39 in den von deutschen Truppen eroberten Gebieten genommen hat. Die Entstehung „urbaner Lesewelten“ in Berlin seit dem letzten Viertel des 19.Jahrhunderts dokumentierte sich in einem Panorama unterschiedlicher bibliothekarischer Einrichtungen, von den Hebraika- und Judaika-Sammlungen der Preußischen Staatsbibliothek, der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (gegr. 1872) und des orthodoxen Rabbiner-Seminars (1895) über die Jüdische Lesehalle (1895) und ihre Nachfolgeinstitution, der jüdischen Gemeindebibliothek (1902), die bis 1932 neun Außenstellen in den Berliner Bezirken etablierte, bis zu den orthodoxen Leihbüchereien des „Scheunenviertels“. Wie das Beispiel Gershom Scholems belegt, wurde in diesen außerordentlich intensiv genutzten Einrichtungen wie der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde vielfach die Grundlage zu beachtlichen intellektuellen Karrieren gelegt. Besondere Aufgabenstellungen verfolgten in Berlin das Zionistische Archiv, das auch eine Büchersammelstelle für die künftige Universitäts- und Nationalbibliothek in Jerusalem und nach 1933 durch Verschickung der gesammelten Dokumente zur zionistischen Bewegung zum Grundstock des Zionistischen Zentralarchivs in Jerusalem wurde, sowie das „Büro Wilhelmstraße“, eine Archiv und Bibliothek umfassende Einrichtung, welche die Umtriebe des Nationalsozialismus dokumentierte und durch einen Pressevertrieb informationspolitisch aktiv bekämpfte. Die Archivbestände gingen verloren, doch lebte der Impuls des „Büros“ weiter in der von Alfred Wiener ab 1933 in Amsterdam und ab 1939 in London aufgebauten Dokumentation („Wiener Library“), die ebenfalls der Aufklärung über die Verfolgung der Juden durch das nationalsozialistische Deutschland diente.

Eine weitere Dimension gibt Kirchhoff seinem Thema in der Einbeziehung privater Büchersammelleidenschaft. Allerdings stoßen unter der Kapitelüberschrift „Bibliophilie als Selbstbehauptung“ wiederum sehr unterschiedliche Phänomene aufeinander. Die bemerkenswerte Rolle, die jüdische Sammler in der Bibliophilenbewegung der Weimarer Zeit gespielt haben und die u.a. zur Gründung der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches mit bis zu 800 Mitgliedern geführt hat, erscheint hier kombiniert mit der Vorstellung der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg und dem Porträt des herausragenden Bibliophilen und Verlagsgründers Salman Schocken. Während Schocken eine mehr als 20.000 Bände umfassende Sammlung von Hebraika und Judaika zusammentrug, wahrscheinlich die bedeutendste private Sammlung dieser Art, und auch als Verleger aus jüdischem Identitätsbewußtsein heraus handelte, fehlt dieser Impuls bei der Bibliothek Warburg fast vollständig, so daß es schon erheblichen Scharfsinns bedarf, um Warburgs Intention als „geistespolitische(n) Reflex auch der religiösen Judenfeindschaft und des modernen Antisemitismus“ interpretieren zu können.

Für die jüdischen Bibliotheken, die öffentlichen wie die privaten, bedeutete die nationalsozialistische „Machtübernahme“ den Anfang vom Ende. Zwar konnte manche von ihnen, im Zeichen der Ghettoisierung des jüdischen Kulturlebens im „Dritten Reich“, noch einige Jahre, längstens aber bis 1938, weiter geführt werden. Kirchhoff gibt hier nur knappe Andeutungen zu dem von Vernichtung und Raub gekennzeichneten Schicksal jüdischer Bibliotheken und Büchersammlungen in Deutschland, dem nur der SD-Befehl zur Sicherung „historischen Materials“ Grenzen setzte. Er konzentriert sich auf die Raubzüge in den besetzten Gebieten, von der bisherigen Recherchen zufolge allein in Osteuropa 957 Bibliotheken, 375 Archive, 531 Forschungs- und Bildungsinstitute und 402 Museen betroffen gewesen sein sollen. Der Einsatzstab Rosenberg wütete auch in Westeuropa; Nutznießer sollte vor allem das „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ in Frankfurt am Main sein, das allerdings von den ebenfalls zum Zwecke eines „wissenschaftlichen Antisemitismus“ zusammengetragenen „Gegnerbibliotheken“ des Reichssicherheitshauptamts in Berlin (mit zwei bis drei Millionen Bänden) noch übertroffen wurde. Ein Phänomen eigener Art kommt mit den Ghettobibliotheken in den Blick, von denen jene in Warschau, Wilna und Theresienstadt besondere Beachtung verdienen. In der Tat lassen diese Initiativen „die existenziellen Funktionen des Lesens“ hervortreten, auch wenn etwa die Bibliothek in Theresienstadt von der Lagerleitung zu Vorzeigezwecken mißbraucht worden ist.

Kirchhoff zufolge wird die Geschichte jüdischer Bibliotheken in der Moderne grundsätzlich unter migrationsgeschichtlicher Perspektive begreifbar. Darüber ließe sich streiten; mit Heinrich Heine auf die hebräische Bibel als ein „portatives Vaterland“ zu verweisen, führt auf andere Zusammenhänge. Soviel aber steht fest: Im Rückblick vor allem auf die Ereignisse der dreißiger und vierziger Jahre bietet sich dem Betrachter das Bild einer gigantischen Bücherwanderung; abgesehen von millionenfacher Vernichtung sind auch Millionen von Büchern in Bewegung geraten, ein Teil von ihnen ist zusammen mit ihren jüdischen Eigentümern in alle Teile der Welt emigriert, ein anderer, größerer Teil ist gewaltsam verschleppt worden. Beträchtliche Mengen davon konnten 1945 sicher gestellt werden, einiges davon auch an die Eigentümer zurückerstattet werden. Das letzte Kapitel des Bands wirft Schlaglichter auf die Bemühungen um Restitution der Bibliotheksbestände, wie diese unmittelbar nach dem Krieg vor allem vom Offenbach Archival Depot der amerikanischen Militärverwaltung aus unternommen wurde (bis Ende 1946 konnten immerhin 2,5 Millionen Bücher redistribuiert werden). Im Grunde handelt es sich um einen Vorgang, der noch nicht abgeschlossen ist; erst vor kurzer Zeit haben etwa die systematischen Nachforschungen in deutschen Bibliotheken nach geraubten jüdischen Büchern eingesetzt.

Der Band „Häuser des Buches“ führt zurück in eine Welt jüdischer Buchkultur, die in dieser Form unwiederbringlich verloren ist. Markus Kirchhoff gelingt es, dem Gegenstand durch eine einfühlsame, dabei jederzeit wissenschaftlich fundierte Darstellung gerecht zu werden. Bedenken erzeugt allenfalls sein (wohl noch von den Ausstellungserfordernissen diktierter) Ehrgeiz, dem Thema möglichst viele und möglichst attraktive Aspekte abzugewinnen. Dadurch wirkt das Feld nicht völlig einheitlich; auch kann unter diesen Umständen nicht jeder Punkt mit gleichbleibender Kompetenz und Tiefenschärfe beleuchtet werden. Dem Untertitel „Bilder jüdischer Bibliotheken“ entspricht der Band nicht allein durch die Illustrationen, sondern auch durch das Bemühen um Anschaulichkeit: Die Einbettung biographischer Skizzen, mit denen wichtige Persönlichkeiten, Bibliotheksgründer, Bibliothekare oder Büchersammler, vorgestellt werden, tragen zur Verlebendigung der Darstellung bei, als hilfreich für den nicht vorgebildeten Leser erweisen sich auch die Kontextualisierungen, in deren Rahmen z.B. die Probleme der jüdischen Einwanderung in die USA, die politischen Verhältnisse in Polen oder die Situation in Palästina angesprochen werden. Hinweise auf nicht berücksichtigte oder inzwischen neu erschienene Literatur erübrigen sich in einem so weiten Gegenstandsfeld; auch wird im Literaturverzeichnis darauf hingewiesen, daß eine weit umfassendere Bibliographie zur jüdischen Bibliotheksgeschichte, Bibliophilie und Typographie von Silke Schaeper (zurzeit Manchester, GB) für eine eigenständige Publikation vorbereitet wird (e-mail: Silke.Schaeper@man.ac.uk).

Hervorhebung verdient schließlich noch die Ausstattung des (hervorragend lektorierten) Buches: Alle Elemente der Gestaltung, vom Schutzumschlag bis zur Typographie, besonders das in Sepia gehaltene Bildmaterial und die farblich angeglichenen Bildlegenden und Kapitelüberschriften, wirken überaus qualität- und geschmackvoll.