Titel
Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren


Autor(en)
Arps, Jan Ole
Erschienen
Berlin 2011: Assoziation A
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
EUR 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Knud Andresen, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Ein noch nicht erforschtes und zumeist nur als Anekdote erzähltes Phänomen der 1970er-Jahre waren die Versuche linker Studierender, in einem Akt der Selbstproletarisierung in Betriebe zu gehen, um dort Arbeiter zu agitieren. Die Versuche reichten von eher kurzen Aufenthalten von wenigen Monaten bis zur Begründung von lebenslangen betrieblichen Aktivitäten. Am bekanntesten ist wohl die Frankfurter Sponti-Gruppe „Revolutionärer Kampf“, die 1971 einen Teil ihrer Mitglieder zu Opel in Rüsselsheim schickte; bekannt vor allem, weil einer der damaligen Aktivisten Joschka Fischer war. Gerade in dieser populären Form gerinnt das Phänomen zur Erzählung eines gescheiterten Versuches der verschiedenen Spielarten der Neuen Linken, in den Betrieben Fuß zu fassen.

Eine historiographisch fundierte Analyse sollte jedoch von solch eingängigen Mustern Abstand nehmen. Es stehen noch Analysen aus, die dieses Phänomen nicht allein von ihrem Scheitern her betrachten, sondern danach fragen, welche Aktivitäten tatsächlich entfaltet wurden und welche Wirkungen festzustellen sind. Der 1978 geborene Berliner Politikwissenschaftler Jan Ole Arps hat mit seinem Buch „Frühschicht“ einen ersten Schritt zur Analyse gewagt. Allerdings schränkt er gleich zu Beginn ein, dass er dieses Phänomen nicht „wissenschaftlich“ behandelt habe und kein vollständiges Bild liefern könne (S. 9). Arps nähert sich dem Thema eher staunend aus der Perspektive eines heutigen linken Aktivisten, der „sprachlos“ darüber war, wie ernsthaft linke Studierende um 1970 die als „revolutionäre Mission“ verstandene Arbeit in Betrieben diskutierten und dass sich hierin auch die Vorgeschichte nicht nur einiger prominenter, vorwiegend grüner Politiker, sondern auch „mancher heute etablierter Gewerkschafter“ (S. 8) zeige. Sein Zielpublikum ist daher weniger die akademische Zunft; es sind vielmehr heutige Linke, denen er die ‚Fabrikintervention‘ nahebringen will. Oder in seinen Worten: „Damit richtet sich der Text an alle, die die Widersprüche der Arbeitswelt noch immer als politische Fragen begreifen.“ (S. 12)

Arps hat sein Buch grob chronologisch aufgebaut und insgesamt sieben Interviews mit Akteuren geführt, die zum Teil bis zu ihrer Verrentung in Fabriken tätig blieben. Dies ist bereits ein Hinweis darauf, dass die gängige Erzählung von Studierenden, die nach kurzer Zeit enttäuscht der Betriebsarbeit den Rücken kehrten, nicht ganz zutreffend ist. Nicht wenige blieben im Betrieb und positionierten sich meist auf dem linken Gewerkschaftsflügel 1, einige – am prominentesten wohl der heutige Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Opel, Klaus Franz – machten innerhalb der betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen Karriere.

Arps beginnt seine Darstellung mit einem kursorischen Überblick über die späten 1960er-Jahre, bei der er sich vorwiegend auf linke Autoren stützt. Er zeichnet dann – anhand zeitgenössischer Publikationen und Diskussionspapiere linker Gruppierungen und mit Interviewauszügen angereichert – die Orientierung auf die Arbeiterklasse nach. Er konzentriert sich dabei auf zwei Strömungen der Neuen Linken: einerseits die spontaneistischen Gruppen, für die er den Frankfurter „Revolutionären Kampf“ und die Münchner „Arbeitersache“ ausführlicher darstellt, und andererseits die maoistischen K-Gruppen. Interviews hat Arps vor allem mit ehemaligen Mitgliedern der KPD/ML geführt, die strategischen Diskussionen dieser Partei behandelt er ausführlicher. Im vierten Kapitel beschreibt Arps den Rückgang der betrieblichen Aktivitäten und das Ende der Revolutionshoffnungen. Dabei kann er deutlich machen, dass die spontaneistische Gruppe in Frankfurt sich bereits 1973 vor allem außerbetrieblichen Aktivitäten wie Hausbesetzungen oder Jugendzentrumsinitiativen zuwandte, während die maoistischen Betriebskader erheblich länger in den Betrieben blieben; dabei wurden ihre Parteigruppen mit der Zeit wichtiger zur psychischen Stabilisierung der Betriebskader als für politische Offensiven. Sofern sie nicht durch Streikaufrufe und Aktivitäten ihre Stelle verloren hatten, entwickelten die Maoisten eine „unbewusste Parallelstrategie“ (S. 114). Innerhalb ihrer Parteistrukturen wurde weiterhin die Revolution gepredigt, in der betrieblichen Arbeit jedoch behandelte man eher konkrete Probleme der Beschäftigten. Die als „Rote Betriebsrätin“ bekannt gewordene Annette Schnoor im Siemens-Werk in Witten, eine der Gesprächspartnerinnen von Arps, konnte Unzulänglichkeiten in der Akkordbezahlung der beschäftigten Frauen aufdecken und wurde 1974 zur Betriebsrätin gewählt, im dauerhaften Konflikt mit der Gewerkschaft. Die Hochphase ‚roter Betriebsräte‘ war sogar erst 1978 erreicht, als mehrere hundert Maoisten zu Betriebsräten gewählt wurden, auch aufgrund ihres Erfolges bei den durch die Gewerkschaften häufig vernachlässigten ausländischen Beschäftigten.

Die Gewerkschaften waren insgesamt ein ambivalenter Posten für die linken Betriebsaktivitäten, denn die Mitglieder sollten für die eigene Sache gewonnen werden, die lokalen Funktionäre wurden hingegen meist bekämpft. 1973 fassten die meisten Einzelgewerkschaften und der DGB Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegen die K-Gruppen. Bis zu 1000 Gewerkschaftsausschlüsse wegen Verstoßes gegen die Unvereinbarkeitsbeschlüsse und Kandidaturen auf gegnerischen Betriebsratslisten wurden zwischen 1970 und 1980 vollzogen; hinzu kam noch eine Vielzahl von Verfahren mit geringeren Organisationsstrafen. Die Zahl der erwirkten Ausschlüsse lag höher als bei KPD-Mitgliedern in den 1950er-Jahren. Zu der Zeit war die einfache Mitgliedschaft in der KPD jedoch kein Ausschlussgrund. Die quantitative Dimension linker Aktivitäten in den Betrieben lässt sich hierüber zumindest erahnen.

Im letzten Kapitel geht Arps schließlich auf die 1980er-Jahre ein und skizziert anhand von Initiativen in Hamburg und Karlsruhe Bestrebungen, mittels ‚Jobberarbeit‘ eine politisch gewollte prekäre Existenz zu führen und dabei selbst auf individuellen beruflichen Aufstieg im Betrieb zu verzichten. Diese bisher kaum wahrgenommenen Bestrebungen kann Arps nicht mit konkreten Beispielen aus Interviews unterlegen, zeichnet aber anschaulich die Debatten anhand der Gruppenpublikationen nach. Die persönlichen Auswirkungen der unterschiedlichen Strategien von Maoisten, die oft Facharbeiter wurden, und Jobbern skizziert ein ehemaliges KPD/ML-Mitglied im Interview folgendermaßen: „Und jetzt im Alter macht es doch einen Unterschied, ob du in so einer Firma warst [und betriebliche Rentenansprüche erworben wurden] oder ob du immer nur in Klitschen oder ganz unten in der Hierarchie gearbeitet hast“ (S. 210). Dies erinnert daran, dass heute unter den Beteiligten eine durch langjährige politische Aktivitäten bedingte Altersarmut auftritt. Die im populären Diskurs verbreiteten Erzählungen über die angeblichen beruflichen Aufstiege der ‚68er‘ sollte kritisch gesehen werden. Der Verbleib in den Betrieben, aber auch persönliches Scheitern gehören gleichermaßen zur Nachgeschichte von ‚1968‘.

Arps schließt sein Buch mit einem eher impressionistischen Ausblick auf die Gegenwart, der von einem zwiespältigen optimistischen Grundton getragen ist: Die Fabriken seien gegenüber den 1970er-Jahren nicht mehr abgeschottete Festungen, sondern ihre Mauern seien – um in Arps’ Bild zu bleiben – abgeschliffen. Die Fabrikinterventionen der Linken hätten dazu einen kleinen Teil beigetragen. Zugleich seien die Arbeitswelten durch prekäre Beschäftigungen und Projektarbeitsstellen von neuen sozialen Ungleichheiten geprägt, für die jedoch die ‚Fabrik‘ nicht mehr den zentralen Ort darstelle.

„Frühschicht“ ist ein bemerkenswerter Versuch, sich linken Betriebsaktivitäten in den 1970er-Jahren zu nähern. Die Sympathie des Autors für diese Bestrebungen und die etwas einseitige Literaturauswahl schmälern nicht das Verdienst, ein bisher nur als Randnotiz wahrgenommenes Phänomen in den Blick zu nehmen. Arps kann einige einfache Zuschreibungen korrigieren. Allerdings stützt er sich selbst stark auf den Gegensatz von Studierenden und Arbeitern und erwähnt nur am Rande, dass Lehrlinge und junge Arbeiter durchaus von den Aktivitäten angesprochen wurden. Die linken Aktivitäten sind daher auch als jugendkulturelles Phänomen zu verstehen, das nicht auf Studierende begrenzt blieb. Es wäre lohnend, dieses Verhältnis und die Einflüsse auf die Arbeitswelten noch genauer zu untersuchen. Arps kann hierzu erste Hinweise und Deutungsangebote geben.

Anmerkung:
1 So die autobiographischen Skizzen linker Betriebsaktivisten, wobei einige ihre christliche Motivation hervorheben: Jochen Gester / Willi Hajek (Hrsg.), 1968 – und dann? Erfahrungen, Lernprozesse und Utopien von Bewegten der 68-er Revolte, Berlin 2002.

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