Titel
Wirtschaft als Wissenschaft. Die Volkswirtschaftslehre in der frühen Bundesrepublik


Autor(en)
Hesse, Jan-Otmar
Reihe
Campus Forschung 947
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Spoerer, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

"Ökonomie in der Krise" hieß vor einigen Monaten eine Veranstaltungsreihe an einer süddeutschen Universität. Veranstalter, Besucher und der Referent der Auftaktveranstaltung verbanden ganz offensichtlich sehr unterschiedliche Vorstellungen mit dem Titel. Der Referent verteidigte die Wirtschaftswissenschaften gegen den Vorwurf, sie hätten die aktuelle weltweite Wirtschaftskrise nicht vorhergesehen und trügen wenig zu ihrer Lösung bei. Die Besucher, die sich in der anschließenden und sehr lebhaften Diskussion äußerten, sahen das Problem in einer viel weiteren Perspektive und warfen den Wirtschaftswissenschaften vor, monolithisch geschlossen und autistisch in eine Spielecke abzuwandern, aus der wenig zur Erklärung und Lösung aktueller wirtschaftlicher Probleme zu erwarten sei. Wohl zum Erstaunen aller driftete die Diskussion zu der Frage ab, ob nicht eine (seit langem nicht mehr angebotene) dogmenhistorische Lehrveranstaltung in den wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildungskanon gehöre. Die Reaktion des (in der Sache sehr verbindlich auftretenden und diskussionsbereiten) Referenten offenbarte völlige Verständnislosigkeit: Welchen Sinn könne es machen, Studierenden längst überholte wirtschaftswissenschaftliche Lehrmeinungen zuzumuten?

Das sich in dieser Frage offenbarende lineare Verständnis wissenschaftlichen Fortschritts markiert den Punkt, den die Volkswirtschaftslehre in Deutschland (und anderswo) heute erreicht hat. Sie hat im Grunde einen langen Weg aus einem ursprünglich hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen und stark wirtschaftshistorisch geprägten zu einem sich selbst als quasi-naturwissenschaftlich verstehenden Fach zurückgelegt. Dieser Weg ist seit einigen Jahren Gegenstand der historischen Forschung und hat aus unterschiedlichen Richtungen bemerkenswerte Arbeiten hervorgebracht, von denen hier nur diejenigen von Alexander Nützenadel über die Politikberatung in der jungen Bundesrepublik (2005) und von Roman Köster über die Wirtschaftswissenschaften in der Weimarer Republik (2011) genannt seien.1

In einer chronologischen Linie mit Köster und als Korrelat zu Nützenadel hat nun Jan-Otmar Hesse seine Habilitationsschrift über die akademische Volkswirtschaftslehre in der frühen Bundesrepublik (bis Anfang der 1970er-Jahre) vorgelegt. Hesse legt damit ebenso wenig wie die beiden anderen Autoren eine Dogmengeschichte vor (die allerdings in einem Kapitel kenntnisreich resümiert wird); vielmehr steht die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre als akademisches Fach im Vordergrund. Für mich war es faszinierend, die Autoren, deren Werke ich in irgendeinem Zusammenhang in meinen eigenen wirtschaftshistorischen Arbeiten rezipiert habe, als Figuren in einem engen Netzwerk aus Projekten, DFG-Anträgen, "Schulen", Koalitionen, Rivalitäten, Feindschaften und Mauscheleien wiederzuentdecken. Hesse beschreibt die institutionelle Entwicklung des Fachs sehr detailliert und auf breiter Quellengrundlage (Nachlässe erwiesen sich hierbei als besonders ergiebig). Er stellt abschließend heraus, dass "[i]nstitutionelle Rahmenbedingungen [...] die inhaltliche Entwicklung der Volkswirtschaftslehre zutiefst beeinflusst [haben], und jeder Glaube an die allein von ökonomischen Problemen getriebenen ‚wissenschaftlichen Fortschritte‘ [...] in diesem Licht zur Fiktion" gerät (S. 394).

In dieser Prägnanz steht diese Aussage in völligem Gegensatz zum Selbstverständnis des eingangs erwähnten Ökonomen, und mir erscheint sie auch etwas übertrieben. Denn Hesse beschreibt selbst, dass das Fach im seinem Untersuchungszeitraum eine ‚Amerikanisierung‘ (das heißt Formalisierung und Mathematisierung) erlebte, die in Deutschland in seinem Untersuchungszeitraum sicherlich von institutionellen Hindernissen gebremst wurde, sich aber letztlich abgesehen von einigen unbedeutenden Inselchen komplett und total durchgesetzt hat – übrigens zu Lasten der Wirtschaftsgeschichte, die sich im Methodenstreit auf der falschen Seite wiedergefunden hat und, wenn überhaupt, nur noch an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten geduldet wird, wenn sie sich in Methode und Publikationsverhalten dem ökonomischen Mainstream anpasst und damit die Anschlussmöglichkeit zur Geschichtswissenschaft opfert.

Die Stärke dieser wissenschaftshistorischen Darstellung liegt darin, dass Hesse mit den Wirtschaftswissenschaften vertraut ist. Das Buch ist sehr gewandt geschrieben, aber für Leser, die nicht mit der (Sprach-)Welt der Ökonomik vertraut sind, dürfte es trotzdem schwer zu konsumieren sein. Das ist schade, zumal Ökonomen es wohl nicht wahrnehmen werden: Wen interessieren dort schon tote Männer (und ganz wenige Frauen) mit ihren längst überholten Theorien?

Anmerkung:
1 Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen 2005; Roman Köster, Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik, Göttingen 2011.

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