I. Eber (Hrsg.): Jewish Exiles in Wartime China

Titel
Voices from Shanghai. Jewish Exiles in Wartime China


Herausgeber
Eber, Irene
Erschienen
Anzahl Seiten
140 S.
Preis
€ 22,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wei Zhuang, Institute for Anglophone and American Studies, Universität Frankfurt am Main

Als in den 1930er-Jahren Staaten wie die USA, Großbritannien oder die Schweiz ihre Aufnahmequoten für Flüchtlinge stark reduziert bzw. ihre Türen für Einwanderer gar gänzlich verschlossen hatten, wurde Shanghai für viele Juden zur letzten Zufluchtsstätte vor dem Nationalsozialismus: Von 1933 bis 1940 konnten sich ungefähr 20.000 deutschsprachige und osteuropäische Juden durch die Ausreise nach Shanghai das Leben retten. Dennoch spielt das jüdische Exil in Shanghai im deutschen kollektiven Gedächtnis bis heute kaum eine Rolle. Dabei mangelt es nicht an autobiographischen, literarischen oder historiographischen Darstellungen der damaligen Ereignisse. Der von der Sinologin Irene Eber herausgegebene Band „Voices from Shanghai. Jewish Exiles in Wartime China“ versammelt nun zahlreiche historische Quellen aus den Jahren 1935-1947, die unterschiedliche Perspektiven auf Shanghai präsentieren.

In der Einleitung rekonstruiert Eber zunächst die Hintergründe, den Verlauf und die Nachwirkungen der jüdischen Diasporageschichte in Fernost. Die gut lesbare Darstellung der Geschichte des Shanghaier Exils wird durch umfangreiches Bildmaterial ergänzt: alte Photographien, eine Karte der Fluchtrouten nach Shanghai (über den Seeweg oder die transsibirische Eisenbahn), einen historischen Stadtplan von Shanghai, Abbildungen aus Exilzeitungen, Werbematerial für kulturelle Veranstaltungen der Exilgemeinschaften und Karikaturen. Die historische Rekonstruktion in der Einleitung nimmt an vielen Stellen Bezug auf die im Hauptteil wiedergegebenen Zeitzeugenberichte und generiert so ein vielstimmiges, intermediales Gesamtbild, das die individuellen Exilerfahrungen besonders berücksichtigt.

Shanghais Entwicklung zu einer Weltstadt hat ihren Ursprung in einem verlorenen Krieg: Die Stadt wurde nach dem Opiumkrieg (1839-1842) von Großbritannien gezwungen, sich dem Handel mit dem Westen zu öffnen. In der Folge entwickelte sich in Shanghai ein französischer Stadtteil zur „Französischen Konzession“, während die restlichen von Ausländern bewohnten Bezirke zu einem „International Settlement“ zusammengelegt wurden. Gleichzeitig schrumpfte der chinesische Teil der Stadt auf die Bezirke Zhabei, Pudong und Nantao zusammen. Mit dem Ausbruch des chinesisch-japanischen Kriegs im Jahr 1937 stellten die chinesischen Behörden die Passkontrolle bei der Einreise ein. Die westlichen Mächte wollten jedoch die Passkontrolle nicht übernehmen, weil sie fürchteten, dass die Japaner dann auch ein Mitspracherecht einfordern würden. Daher konnten in den Jahren 1938-39 zahlreiche europäische Juden einreisen, deren Unterbringung und Verpflegung gleich nach der Ankunft von verschiedenen jüdischen Organisationen unterstützt wurde. Auf Druck Nazideutschlands wurden die Flüchtlinge jedoch von Februar 1943 bis August 1945 im Stadtteil Hongkou durch die japanische Behörde interniert. Nach dem Ende des Krieges verließen die meisten Flüchtlinge Shanghai wieder, um sich in westlichen Ländern niederzulassen.

Eber rekonstruiert jedoch nicht nur die historisch-politischen Rahmenbedingungen des jüdischen Exils in Shanghai, sondern legt besonderes Gewicht auf die Beschreibung der sich schnell etablierenden Exilkultur und auf deren Bezug zum chinesischen Kontext. So betont Eber den Stellenwert Shanghais als Geburtsstätte der modernen chinesischen Kultur: In dem Handels- und Kulturzentrum Shanghai prosperierten die modernen chinesischen Presse- und Filmindustrien; Lu Xun und Mao Dun, zwei der bekanntesten modernen chinesischen Schriftsteller, siedelten sich ebenfalls in Shanghai an. Dieses Umfeld wirkte sich positiv auf die kulturellen Aktivitäten der jüdischen Exilanten aus, die sich im Bereich von Architektur, Presse, Theater und Radio stark engagierten.

Der Hauptteil des Bandes besteht aus mehr als zwanzig historischen Textquellen: Briefen, Tagebucheinträgen, Gedichten, Essays und Romanauszügen, die alle in den Jahren 1935-47 von jüdischen Flüchtlingen vor allem aus Deutschland, Österreich und Polen verfasst wurden. Das breite Spektrum der Textsorten umfasst damit sowohl nichtfiktionale Texte, die einen unmittelbaren Eindruck des subjektiven Erlebens vermitteln, als auch literarisch-imaginative Inszenierungen der Exilerfahrung. Ein Teil der Texte wurde in englischer Sprache verfasst, alle anderen Texte wurden von der Herausgeberin aus dem Deutschen, Jiddischen bzw. Polnischen ins Englische übersetzt. Die Texte werden in den meisten Fällen durch kurze Biographien der Autor(inn)en und, soweit dies möglich war, auch ein Foto, ergänzt. Außerdem liefern begleitende Kommentare weitere Informationen zum historischen Hintergrund der einzelnen Texte. Eber nutzt die Kommentare zudem, um auf kulturelle Wahrnehmungs- und Darstellungsschemata der jüdischen Flüchtlinge hinzuweisen.

Die Erinnerungen der Zeitzeugen sind sehr vielfältig. Die Schwierigkeiten, in Shanghai Arbeit zu finden und so die eigene Existenz zu sichern, werden in Briefen von Annie Witting (1941, 1945) und im Tagebuch „In Fire and Flames: Diary of a Jewish Actress“ von Shoshana Kahan (Exzerpte, 1941-1945) dargestellt. Einige der Texte, wie etwa das Gedicht „Well, That Too Is Shanghai“ (1939) und der Essay „Miniatures“ (1942), betonen den großen Kontrast der Lebenswelten der mittellosen, verzweifelten chinesischen Bevölkerung einerseits und der wohlhabenden Westler andererseits, die sich häufig wenig für das Leid der Chinesen interessierten. Die Auszüge aus dem Roman „A Wedding“ (1947) und die Vignette „Peculiar Shanghai“ (1940) thematisieren die interkulturellen Beziehungen zwischen jüdischen Flüchtlingen und Chinesen. Das tragische Gedicht „A Rickshaw Coolie Dies on a Shanghai Dawn“ (1935) des polnischen Touristen Meylekh Ravitch zeigt die Not der chinesischen Rikschafahrer. Im Gedicht „A Monkey Turned Human“ (1945) wird die für die Erinnerung an das Shanghaier Exil zentrale Figur des japanischen Offiziers Ghoya metaphorisch charakterisiert, der die internierten Flüchtlinge beim Ausstellen des Passierscheines brutal behandelte und in vielen anderen medialen Erinnerungen ans Exil immer wieder repräsentiert wird. Ein nicht unwesentlicher Teil der Darstellungen des Shanghaier Exils widmet sich der Repräsentation jüdischer Sitten und religiöser Gebräuche (so etwa das Gedicht „My God, My God, Why Hast Thou Forsaken Me“ aus dem Jahr 1942). Die besonderen Schwierigkeiten der jüdischen Flüchtlinge, in der Fremde ihre kulturelle Identität zu bewahren, kommen sowohl in dem Gedicht „More Light“ (1941) als auch in dem Essay „And So It Begins“ (1941) oder Yehoshua Rapoports Tagebucheinträgen zum Ausdruck.

Mit Bezug auf die Texte von Witting und Kahan – die beiden einzigen im Band enthaltenen Texte von Frauen – geht Eber auf die Besonderheiten der weiblichen Perspektive ein. So bringen die stärker emotionalisierten Texte der beiden Frauen die Angst, Depression und Frustration im Exil ebenso deutlich zum Ausdruck wie die von viel Humor und Ironie begleitete Bereitschaft zum Kampf gegen das schwere Schicksal und die Freude über errungene Erfolge.

Als Sinologin interessiert sich Eber nicht nur für die Erfahrungen der jüdischen Flüchtlinge, sondern auch für die Lebenswirklichkeit der Chinesen. So beschreibt sie deren Situation während der Kriegszeit mit viel Empathie. Ihr feines Gespür für sowohl die jüdische als auch die chinesische Kultur ermöglicht ihr interessante und relevante Einsichten in die Interaktionen zwischen den beiden Kulturen. Anzeichen für kulturellen Austausch erkennt Eber nicht zuletzt auch in den textuellen Zeugnissen des jüdischen Exils in Shanghai: Eber zufolge könnte beispielsweise das in der chinesischen Malerei beliebte Motiv des Fischens und Fischers Mordechai Rotenberg zum Schreiben des Gedichts „Sun in a Net“ (1942) angeregt haben. In der Vignette „Peculiar Shanghai“ (1940) wird beschrieben, wie die chinesischen Dienstboten einer deutschen Familie schwören müssen, dass sie die deutschen Herren nicht bestohlen haben. Die Deutschen setzen dabei ein chinesisches Schwurritual ein, bei dem den Schwörenden Gottes Zorn angedroht wird, und bewirken so, dass das verschwundene Geld und das vermisste Kleid am nächsten Tag wieder auftauchen.

Bei aller Vielstimmigkeit von Ebers Quellensammlung liegt der Selektion in zweierlei Richtung eine Eingrenzung zugrunde: So gibt es in dem Band keine Texte chinesischer Zeitzeugen und auch keine nach 1947 entstandenen Texte. Aus erinnerungskultureller Sicht wäre es zweifellos ein spannendes Unterfangen, auch diese Perspektiven mit in den Blick zu nehmen. Aber auch in der vorliegenden Form ist Ebers Band ohne Einschränkung als gelungen zu bezeichnen: Eber trägt Texte zusammen, die bisher nur schwer zugänglich waren und überschreitet dabei die Grenzen unterschiedliches Erinnerungsgenres und kultureller Erinnerungsgemeinschaften. Dadurch eröffnet der Band neue Forschungsperspektiven für die Auseinandersetzung mit der Repräsentation des jüdischen Exils in Shanghai.

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