A. Schäfer u.a. (Hrsg.): Kulturen jugendlichen Aufbegehrens

Titel
Kulturen jugendlichen Aufbegehrens. Jugendprotest und soziale Ungleichheit


Herausgeber
Schäfer, Arne; Witte, Matthias D.; Sander, Uwe
Reihe
Jugendforschung
Erschienen
Weinheim 2011: Beltz Juventa
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Christian Kaindl, Historisches Seminar, Universität Münster Email:

Der vorliegende Sammelband führt mit seinen vielfältigen methodischen und theoretischen Ansätzen und der internationalen Perspektive umfassend in das Thema jugendlicher Protestkultur des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ein. Zu Beginn betten die Herausgeber die Beiträge in das weite Feld der Jugendprotestforschung ein. Klaus Weinhauer gibt anschließend mit dem ersten Beitrag einen historischen Überblick über Jugendproteste vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit. An den Beispielen Deutschland, England und USA thematisiert er urbane Jugendproteste und -banden seit dem 19. Jahrhundert. Aus historischer Perspektive sei bis zu den 1950er-Jahren soziale Ungleichheit in der Industriegesellschaft Triebfeder für jugendliches Protestverhalten gewesen, während in der zweiten Hälfte neben die Soziale Frage der Anspruch auf Teilhabe an der urbanen Konsumgesellschaft getreten sei. In einem zweiten historischen Beitrag umreißt Norbert Frei die 68er-Bewegung(en) im Westen.1 Eine wesentliche Kraft „der“ 68er sei eine gewisse „Revolutionsromantik“ gewesen, die einen Großteil der Akteure/innen antrieb. Diese hätten in gewisser Weise einem „naiven Idealismus“ nachgehangen, der jedoch mit seinen experimentellen Formen der Selbstverwirklichung eine gesamtgesellschaftliche Liberalisierung befördert habe.

Im zweiten Kapitel werden in vier Beiträgen theoretische Grundlegungen der Protestforschung erörtert. Mark Herkenrath diskutiert mehrere sozialwissenschaftliche Ansätze: den Collective Behavior-Ansatz, die Theorie der Ressourcenmobilisierung, das Political Process-Modell und den New Social Movements-Ansatz. Er spielt diese Ansätze am Beispiel der Globalisierungskritik durch und kommt zu dem Schluss, dass eine eklektische Verwendung der verschiedenen Ansätze nötig sei, um ein vollständiges Bild sozialer Bewegungen zu erhalten.

Statistisch beteiligen sich lediglich zwei bis fünf Prozent der von Ungerechtigkeit Betroffenen an Protesten. Unter dieser Prämisse, untersucht Sylvia Terpe die Selbstwahrnehmung von Akteure/innen. Die Frage, ob empfundene Ungerechtigkeit als schicksalhaft oder als menschengemacht empfunden wird sei dabei entscheidend für die Bereitschaft zum Protest. Erwachsene seien vielfach durch Ohnmachtserfahrungen im Laufe ihres Lebens darin bestätigt worden, dass Proteste keinen Erfolg hätten. Hieran anknüpfend erörtern Yvonne Niekrenz und Matthias Junge den Zusammenhang von jugendlichem Protest und Emotionen. Sie machen das Konzept der situativen Vergemeinschaftung für die Postmoderne fruchtbar, die sie durch „Episodenhaftigkeit und Fragmentierung“ (S. 88) geprägt sehen. So entstehe auch bei sozialem Protest Gruppenidentität und Bindung durch rituelle Interaktion. Diese bedeute eine emotionale Gratifikation für die Gruppenzugehörigen und stärke somit auch die Attraktivität der Gruppe für neue Mitglieder. Für Holger Ziegler ist nicht materielles Elend der entscheidende Moment für Protest, sondern die Verletzung moralischer Normen. Am Beispiel einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2006 zeigt er, dass insbesondere in der weniger privilegierten Hälfte der Bevölkerung (S. 103) Empfindungen von Ungerechtigkeiten weit verbreitet sind, aber im Gegensatz dazu die Beteiligten gegenwärtiger Jugendproteste aus gesellschaftlichen Gruppen mit höheren Bildungsabschlüssen stammen. Mit dem Capability-Ansatz will Ziegler den Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an Empörung und dem Protestverhalten erklären.

Im letzten Kapitel werden schließlich sechs Beispiele von Jugendprotesten und sozialer Ungleichheit in internationaler Perspektive vorgestellt. Markus Ottersbach widmet sich den Jugendunruhen in den französischen Banlieues. Seit den 1980er-Jahren gehen von dort umfangreiche Ausschreitungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus. Dort herrsche eine überproportional hohe Jugendarmut und Arbeitslosigkeit, aber auch Stigmatisierung durch staatliche Institutionen und den Arbeitsmarkt. In territorialen Auseinandersetzungen wie Straßenkämpfen, Vandalismus, der Zerstörung öffentlicher Einrichtungen oder in der Kleinkriminalität sehen die Akteure (/innen?) anscheinend die einzige Möglichkeit ihre Frustration auszudrücken.

Manfred Liebel schreibt über soziale Ungleichheit und Jugendprotest in Südamerika, wo Protestbewegungen vor allem von Angehörigen ärmerer Schichten getragen werden. Das verwendete Zahlenmaterial verweist auf die starken Unterschiede des Ausmaßes und der Verteilung von Jugendlichen in Armut oder extremer Armut. Liebel wendet sich gegen Diskurse, in denen Kinder und Jugendliche der städtischen Slums als defizitär und hilfsbedürftig dargestellt werden und ihr Verhalten häufig nur als deviant oder kriminell interpretiert und sanktioniert wird. Ganz zentral sei auch hier das Motiv der Jugendlichen, den öffentlichen Raum mit Bandengewalt, Hiphop-Musik oder Graffitis (zurück) zu erobern. Er interpretiert ihre Mittel als Versuche, sich gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen, oder als Gegenwehr gegen Verhältnisse, in denen sie Opfer von Ausbeutung sind.

Thomas Grumke beschreibt die Mikro- und die Makroebene von Rechtsextremismus als Jugendprotest in den USA, allerdings ohne genauer auf die spezifische Rolle von Jugendlichen einzugehen. Grumke erklärt Rechtsradikalismus als Gegenreaktion auf die vermeintlichen Freiheiten der Moderne. Die Annahme, Homosexuelle, Feministinnen und Einwanderer/innen würden eine Gefahr für die amerikanische Kultur darstellen, bildet die Rahmung für die Identität des „angry white man“, der seine „Rasse“ und Nation verteidigen müsse. Da diese Motive auch im politischen Mainstream der USA weit verbreitet sind, sei der Rechtsradikalismus für junge weiße Männer besonders attraktiv.

Die Soziologin Paraskekevi Grekopoulou beschäftigt sich mit dem Umgang von griechischen Jugendlichen mit steigender Jugendarbeitslosigkeit, mit der zunehmenden Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und prekären Erwerbsformen. Neben der Verstärkung der Verschuldungskrise und den damit verbundenen Sparmaßnahmen durch die globale Finanzkrise seien Einzelereignisse wie etwa der durch die Polizei verursachte Tod eines 15-jährigen im Herbst 2008 der Anlass von massiven Protesten.2 Hier ist der generationsspezifische Charakter der Proteste besonders augenscheinlich, da es explizit um die Lebenschancen der jungen Generation geht, wobei aber gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Kritik zum Ausdruck kommt.

Am Beispiel des G8-Gipfels in Heiligendamm diskutieren Renate Möller, Dirk Villanyi und die drei Herausgeber die Protestmotive der vorrangig jugendlichen Globalisierungskritiker/innen. Mit einer umfassenden quantitativen Studie haben die Autoren die Motivstruktur der Teilnehmer/innen von Protestveranstaltungen im Umfeld des G8-Gipfels in Rostock und Heiligendamm dokumentiert. Unterschiedliche Motivaspekte wurden durch einen spezifischen Mix in acht idealtypische Cluster zusammengefasst. Sechs Cluster beschreiben die unterschiedlichen Motivstrukturen von politisch-idealistisch motivierten Gruppen, während die Motivstruktur von etwa 12 Prozent dezidiert nicht politisch-idealistisch, sondern erlebnis- oder randaleorientiert waren oder es sich um zufällige Zuschauer handelte. Zusätzlich werden die Cluster durch die soziodemographische Merkmale Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und soziale Herkunft ergänzt. Durch diesen Beitrag wird der mediale Eindruck einer homogenen Anti-Globalisierungsbewegung durch ein differenzierteres Bild ersetzt.

Im letzten Beitrag beschreibt Hilke Rebensdorf den Wandel von Jugendprotesten in Palästina im Verlauf mehrerer Jahrzehnte. Sie geht hierbei besonders auf die Unterschiede zwischen der ersten und zweiten Intifada ein. Die Autorin beschreibt als Grundlagen des Wandels die Veränderungen von Sozialstrukturen und globalen Einflüssen. Sie resümiert, dass der Jugendprotest in Palästina bis etwa 1995 eine breite Verankerung in der Bevölkerung hatte und sich unmittelbar gegen die Politik der Besatzungsmächte richtete. Im Gegensatz hierzu wandte sich der Protest in der zweiten Intifada zum einen nach wie vor gegen Israel, zum anderen aber auch gegen die Politik der palästinensischen Autonomiebehörde, die durch Patronagesysteme und Willkür der Sicherheitsorgane soziale Ungleichheit zusätzlich verschärft.

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eine gelungene Verknüpfung von Jugend- und Sozialer-Bewegungs-Forschung. Jedoch kommt das Versprechen des Klappentextes, das Thema in historischer Perspektive nachzuzeichnen, etwas zu kurz und hätte weiter ausgedehnt werden können, um die Relevanz der dargelegten Ansätze auch für die Geschichtswissenschaft zu vertiefen.3 Bedauerlicherweise fehlt eine geschlechterspezifische Ausdifferenzierung. Als weitere Forschungsdesiderate könnte man, wie bei Liebel schon angedeutet, nach der Rolle von Kindern und dem Verhältnis zwischen städtischer und ländlicher Jugendkultur fragen.

Anmerkungen:
1 Auszüge aus: Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008.
2 Manfred Ertel / Daniel Steinvorth, Griechenland. Aufstand der Enttäuschten, in: Spiegel, 01.12.2008, S. 108-111.
3 Siehe hierzu Tagungsbericht: Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in den Geschichtswissenschaften. 02.04.2009-04.04.2009, Bochum, in: H-Soz-u-Kult, 13.07.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2682> (23.08.2011).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/