B. Schmidt-Haberkamp (Hrsg.): Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert

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Titel
Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert.


Herausgeber
Schmidt-Haberkamp, Barbara
Erschienen
Göttingen 2011: V&R unipress
Anzahl Seiten
531 S.
Preis
€ 69,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Philipp Moosdorf, Leipzig

„Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert“ – ein Buchtitel, der auf den ersten Blick anachronistisch wirkt. Ein Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert? Doch die Herausgeberin klärt im Vorwort selbst auf, dass mit diesem Kunstgriff ein konkretes Ziel verfolgt wird: Die Kontinuität einer Beziehung aufzuzeigen, die weit in die Vergangenheit zurückreicht und doch auch heute immer wieder im Fokus gesellschaftlicher Debatten steht.

Diese Beziehung speziell im 18. Jahrhundert zu beleuchten, erscheint schon ausgehend von den historischen Entwicklungen der Zeit spannend. Nachdem die Türken 1683 Wien das zweite Mal erfolglos belagert hatten und in der Folge zunehmend in die Defensive gedrängt wurden, kippte das Machtverhältnis. Die „Türkenfurcht“ in den christlich geprägten Staaten Europas wich zusehends einem vielfältigen Interesse am osmanischen Reich. Auch dessen Bewohner kamen nicht umhin, die zahlreichen Botschafter, Händler, Forscher usw. wahrzunehmen, die sich vermehrt auf den Weg zu ihnen machten.

Der „Frage nach den interkulturellen Kontakten und der wechselseitigen Wahrnehmung zwischen der Türkei und Westeuropa“ 1 wendete sich eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts zu, die 2008 in Bonn stattfand. Aus der Tagung ging 2011 schließlich der vorliegende Sammelband hervor.

Die einzelnen deutsch- und englischsprachigen Beiträge des Bandes wurden drei Bereichen zugeordnet: Abstraktionen / Abstractions, Begegnungen / Encounters und Erforschungen / Explorations.Diese Einteilung markiert die verschiedenen Ebenen, auf denen die Auseinandersetzung mit dem Anderen erfolgte– von der abstrakten Ebene, vor allem der Auseinandersetzung in Presse und Literatur über die Ebene unmittelbarer Kontakte z.B. von Handelsleuten und Reisenden, aber auch Zwangsgetauften bis schließlich hin zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Den deutschsprachigen Beiträgen wird jeweils eine kurze englische Zusammenfassung vorangestellt, die allerdings in einem Fall falsch zugeordnet wurde.2

Die Verfasser der insgesamt 31 Beiträge entstammen nicht nur unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen, sondern sie decken auch innerhalb der drei Bereiche thematisch ein weites Feld ab – auch wenn die Gewichtung zwischen einzelnen Themenfeldern teilweise etwas einseitig ausfällt. So setzen sich die meisten Beiträge zum Bereich Abstraktionen / Abstractions mit dem Türkenbild in der europäischen Literatur auseinander, nur je ein Beitrag hingegen mit Repräsentationen in der Kunst bzw. der Musik.

Sehr zu begrüßen ist, dass in den Beiträgen keineswegs nur die europäische Auseinandersetzung mit dem Osmanenreich Beachtung findet, sondern sich einige Beiträge auch der umgekehrten Perspektive zuwenden. So setzt sich Günsel Rendain ihrem dem Bereich Begegnungen / Encounters zugeordneten Beitrag damit auseinander, wie Europäer von osmanischen Künstlern dargestellt wurden und sich diese Darstellung mit zunehmenden Begegnungen zwischen den Kulturen wandelte. Der anschließende Artikel von Silke Förschler zeigt dann aber auch, dass die Kostümdarstellungen in europäischen Reiseberichten wiederum vom Transfer osmanischer Bildmuster geprägt waren. Noch mehr verschwimmt die vermeintlich klare Grenze zwischen christlichem Europa und dem osmanischen Reich im Beitrag von Virginia Aksan. Sie setzt sich mit realen und fiktiven Grenzgängern auseinander, die ihre Identität aufgeben und die Identität der Anderen annehmen. Identitätswechsel - allerdings erzwungene - thematisiert auch der Beitrag von Manja Quakatz zu Konversion und Zwangstaufe von Muslimen im Alten Reich. Dass die meisten thematisierten Begegnungen zwischen christlichen Europäern und muslimischen Osmanen aber weniger zwanghaft verliefen, zeigt exemplarisch Julia A. Landwebers Artikel über die Aufmerksamkeit, die osmanische Gesandschaften in Frankreich fanden.

Das dritte und kürzeste Segment des Buches, Erforschungen / Explorations,greift die wissenschaftliche Ebene auf. Die Beiträge dieses Abschnitts widmen sich in erster Linie der Wissenschaft des Osmanischen Reiches im 18. Jahrhundert, konkret dem Wissenschaftswandel, der Einführung der Druckerpresse in Istanbulund der damit verbundenen Übersetzungsbewegung sowie der wissenschaftlichen Erforschung des Anderen. So zeigt beispielsweise Ralf Martin Jäger auf, wie um 1750 die wissenschaftliche Erforschung osmanischer Kunstmusik in Europa ihren Anfang nahm.

Der Sammelband macht dank der facettenreichen und vielschichtigen Beiträge erlebbar, wie mannigfaltig und intensiv sich Europa und das Osmanische Reich im 18. Jahrhundert miteinander beschäftigten – und das sowohl während der verschiedenartigen direkten Begegnungen als auch auf abstraktem oder wissenschaftlichem Level. Auffällig tritt die Scharnierfunktion hervor, die das 18. Jahrhundert für die gegenseitige Wahrnehmung einzunehmen scheint. Während in Europa einerseits die Türkenfurcht früherer Jahrhunderte verblasste, war ein imperialistisches Denken, wie es im 19. Jahrhundert hervortrat, noch wenig präsent. Stattdessen stand sowohl auf christlich-europäischer als auch auf osmanischer Seite ein vergleichsweise unbelastetes Interesse am Anderen im Vordergrund.

Anmerkungen:
1 AHF-Information Nr. 233 vom 07.11.2008, S. 1, abgerufen unter <http://dgej.hab.de/sites/default/files/AHF-Bericht-233-08.pdf> am 19.05.2011
2Siehe S. 191; vor dem Beitrag von Ute van Runset „Die ‚Pforte’ zwischen Geschichtsbetrachtung und Realpolitik. Voltaires und Friedrich des Großen Beitrag zur Einschätzung der historischen Lage“ steht erneut die Zusammenfassung des Beitrags von Susanne Greilich über Turkophilie und Turkophobie in der populären Presse.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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