A. Arndt u.a. (Hrsg.): Vergleichen, verflechten, verwirren?

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Titel
Vergleichen, verflechten, verwirren?. Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis


Herausgeber
Arndt, Agnes; Häberlen, Joachim C.; Reinecke, Christiane
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Heinz-Gerhard Haupt, Universität Bielefeld

Die Frage, ob der historische Vergleich durch die Transfer- und Verflechtungsforschung überflüssig wird, bewegt kaum noch die Diskussion einer über den nationalen Rahmen hinausgehenden Geschichtswissenschaft. Dass die Beziehungen zwischen den untersuchten und verglichenen Einheiten Teil von Vergleichsstudien sein müssen, ist inzwischen ebenso unumstritten wie die Notwendigkeit, die Ergebnisse und Mediatoren von Transfer- und Verflechtungsprozessen in ihrer Reichweite und Wirkung vergleichend zu bestimmen. Der vorliegende Band, dessen Beiträge aus den Arbeiten von Stipendiaten des von Jürgen Kocka geleiteten Berliner Kollegs für Vergleichende Geschichte Europas (BKVGE) stammen, demonstriert, wie fruchtbar die Zusammenschau von Methoden des historischen Vergleichs, der kulturellen Transferforschung und der Verflechtungsgeschichte ist, wenn es um eine Geschichte Europas geht, die auch Ost-und Ostmitteleuropa einbezieht. Vor dem Hintergrund der Diskussion um den methodischen Nationalismus, in der Vergleichs-und Transferforschung vorgeworfen wird, nationale Gesellschaften wie „Container“ zu behandeln, wird in den Beiträgen deutlich, dass je nach Fragestellung der Aufsätze unterschiedliche Räume privilegiert werden müssen. Einerseits spielt der nationale Kontext weiterhin bei Fragen über die Vergangenheitsbewältigung der evangelischen Kirchen in BRD und DDR (T. Pavlush), bei der Begrifflichkeit von Historiographien in Deutschland und Ungarn (M. Koller) oder bei der Charakterisierung der polnischen Provinz (M. J. Hartwich) eine Rolle, bei Problemen wie dem Imperienvergleich (B. Gammerl), der Migrationsforschung (C. Reineke), der Analyse von Grenzregionen (S. Schlesier), der Architektur von Botschaften (J. Hort) oder der lokalen Arbeiterbewegungsgeschichte (J. C. Häberlein) wird er durch andere Vergleichseinheiten abgelöst. Angesichts der Vielfältigkeit der untersuchten Räume in der Vergleichs-, Transfer- und Verflechtungsforschung ist die Kritik an deren Nationalstaatsfixierung kaum aufrechtzuerhalten, die sich vornehmlich aus der Erinnerung an die Sonderwegsdebatte und der Konstruktion einer in sich abgeschlossenen nationalen Kultur speist.

Der vorliegende Band illustriert nicht nur gut die Fruchtbarkeit von vergleichenden und beziehungsgeschichtlichen Fragestellungen, sondern diskutiert diese auch. In einer sehr gelungenen Einleitung der Herausgeberin und der Herausgeber sowie dem interessanten Schlusswort von J. Hort ist diese Verbindung besonders eindrucksvoll dargelegt. Der Band verbindet anregend methodische Diskussionen und deren Umsetzung in empirische Forschung. Die „histoire croisée“ wird so in ihrer Relevanz für die Selbstreflexion der Historikerin und des Historikers positiv bewertet, aber als überaus schwer umsetzbar in der Forschungspraxis gesehen (A. Arendt).Die Verflechtungsgeschichte wird als notwendiger Teil der Migrationsforschung ausgewiesen, da Migrationen – wie am deutschen und britischen Beispiel von C. Reineke demonstriert wird-aufgrund der Ausweisungspraxis eine wichtige internationale Dimension hatten. Aber auch die Begrenztheit der „entangled history“, die aus einem auf das Verhältnis von Zentrum und Peripherie konzentrierten Geschichtsbild stammt, wird kritisch angemerkt. (J. Hort) Bei all diesen Diskussionen wird deutlich, dass es keinen methodischen Königsweg der Forschung gibt, sondern dass die benutzten Konzepte und Ansätze abhängig sind von der Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse, der vorhandenen Quellen-und Literaturlage. Erstaunlich selten wird allerdings die Fruchtbarkeit von Vergleichen der quellenmäßigen und archivalischen Überlieferung thematisiert oder die Abhängigkeit von Narrativen nationaler Geschichtsschreibung bei Sekundäranalysen.

Die Beiträge in dem Band wollen nicht nur mit unterschiedlichen Ansätzen experimentieren, sondern auch den aus der Zeit des Kalten Krieges stammende dichotomische Trennung der europäischen Geschichte in eine gute west- und eine schlechte osteuropäische Geschichte überwinden. Mit dem Tourismus werden in zwei Beiträgen Verbindungen über die Systemgrenzen hinweg (Z. Nebrensky, M. J. Hartwich) behandelt und im Vergleich der Definition von Ausländern im Habsburger Reich und im britischen Empire die „imperialistische Logik der Diskriminierung“ im Britischen Weltreich (S. 136) unterstrichen. Nicht nur erstreckte sich der kulturelle Transfer über die Staatsgrenzen hinweg und bezog osteuropäischen Gesellschaften ein, sondern Westeuropa war auch in der Behandlung von Migranten eng mit den östlichen Nachbarn verbunden. Mit dieser Ausweitung des vergleichenden Blicks auf Ost-und Ostmitteleuropa, der in der bisherigen Forschung häufig auf westeuropäische Gesellschaften konzentriert blieb, reagieren die Beiträge auf die geographischen Begrenzung der meisten Geschichten Europas.1 Sie bleiben darin aber auch der historiographischen und politischen Konjunktur des beginnenden 21. Jahrhunderts verhaftet. Denn in den letzten Jahren hat sich die politisch und medial relevante Trennungslinie innerhalb Europas zwischen Nord-und Südeuropa etabliert. Fragen nach unterschiedlichen Staatsbildungsprozessen, der Rolle von Klientelsystemen und Korruption wären in diesem Kontext sicher stärker zu gewichten.

Beziehungsgeschichten stehen in dem Verdacht, mit dem Nachweis von Kontakten deren Bedeutung zu überziehen und ihnen entgegenwirkende Bedingungen, Akteure und Vorstellungen zu vergessen. Trotz des Massencharakters von Migrationen in Europa und von Europa ausgehend dürfen im 19. und 20. Jahrhundert die Teile der Bevölkerung nicht unbeachtet bleiben, die sesshaft waren und Migrationen verhinderten. Transferprozesse ihrerseits scheitern auch und müssen in ihrem Scheitern als Teile einer allgemeinen Beziehungsgeschichte einbezogen werden, wenn diese nicht den Umfang der Kontakte, Bewegungen und Verflechtungen überbetonen will. Dieser Gesichtspunkt hätte in dem vorliegenden Band stärker gewichtet werden können. In ihm taucht auch - wenn man von den einleitenden allgemeinen Aufsätzen von A. Bauerkämper und B. Strath absieht - die nächste methodische Herausforderung an Vergleichs-, Transfer- und Verflechtungsgeschichte noch nicht auf, nämlich die Globalgeschichte. Folgt man Jürgen Osterhammel, so gehört neben der Untersuchung von „Entwicklungsprozesse(n) in der Zeit“ und der „grenzüberschreitende(n) Verknüpfungen von Entfernten im Raum durch Wanderung von Menschen, Zirkulation von Waren oder Mobilität von Ideen“ auch das Vergleichen zu jenen innovativen Studien, „die mehrere Länder und Zivilisationen zusammenschalten und auf Dokumentationsmaterial in mehreren Sprachen beruhen“.2

Anmerkungen:
1 Eine rühmliche Ausnahme bildet Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013. Lenger vergleicht konsequent die westeuropäische Entwicklung mit der süd- und osteuropäischen.
2 Jürgen Osterhammel, Weltgeschichte und Gegenwartsdiagnose, Gerda Henkel Vorlesung, Münster 2013, S. 37.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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