J. Rákosník: Sovětizace sociálního státu

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Titel
Sovětizace sociálního státu [Die Sowjetisierung des Sozialstaates]. Lidově demokratický režim a sociální práva občanů v Československu 1945 1960 [Das volksdemokratische Regime und die sozialen Rechte der Bürger in der Tschechoslowakei 1945-1960]


Autor(en)
Rákosník, Jakub
Anzahl Seiten
502 S.
Preis
Kč 395
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Heumos, Moosburg

Es gibt seit langem kritische Einwände gegen die tschechische Geschichtsschreibung zur kommunistischen Ära der Tschechoslowakei; sie richten sich gegen das vorherrschende (und zumeist ziemlich schematisch gehandhabte) Totalitarismuskonzept wie gegen funktionalistische bzw. systemtheoretische Ansätze, die die Entwicklungslogik normativer Strukturen (Weltbilder, Deutungssysteme) bloß als Steuerungsprobleme zur Kenntnis nehmen. Untersuchungen dieser Art erschöpfen sich für ihre Kritiker, zumeist jüngere tschechische Historiker, im Wesentlichen darin, immer wieder aufs Neue das Bild eines omnipotenten Staats- und Parteiapparats und diesem ohnmächtig unterworfener Massen zu beschwören. Die Gesellschaft solle in einem antagonistischen Verhältnis zum Staatssozialismus gestanden haben, doch seien Erwartungen, Bedürfnisse, Wertorientierungen und Verhaltensweisen der sozialen Gruppen bisher kaum analysiert worden. Die Ausblendung des sozialen Substrats kommunistischer Herrschaft gehe so weit, dass die kommunistische Periode exotisiert, als etwas Fremdartiges wahrgenommen werde, das der Tschechoslowakei „von außen“ übergestülpt wurde.1

Die hier besprochene Untersuchung von Jakub Rákosník überschreitet im Rahmen dieser Kontroverse den Fragehorizont älterer Darstellungen so erheblich, dass deren Positionen in die Defensive gedrängt werden und sich nicht mehr ernsthaft perpetuieren lassen. Rákosník bestreitet, dass Begriffe wie „totalitär“ oder „Diktatur“ dem tschechoslowakischen Realsozialismus signifikante Einsichten abgewinnen können; schon das Ausmaß informeller Machtverhältnisse, die die offiziellen Machtstrukturen auf allen Ebenen aushöhlten und den Staat „vergesellschafteten“, zeige ihre begrenzte Erklärungskraft. Zentral erscheint Rákosník vielmehr die Frage nach dem „gesellschaftlichen Konsens“, der kommunistische Herrschaft zu legitimieren vermochte. Dass dieser Konsens vorhanden war, ergibt sich für ihn aus einer einfachen Überlegung: Die von massenhaftem Terror geprägten „Gründerjahre“ der tschechoslowakischen Volksdemokratie (1948-1953) könnten in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive mit den späten 1960er-Jahren, als die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) von massenhafter Zustimmung getragen wurde, nur dann sinnvoll verknüpft werden, wenn angenommen wird, die Gesellschaft habe ihr Verhältnis zur KPTsch nicht nur anhand der Erfahrung von Gewalt und Terror definiert. Der gängigen Auffassung, die Vernichtung politischer Rechte im Staatssozialismus habe diesen auf Dauer delegitimiert, setzt Rákosník die Unterscheidung zwischen der öffentlichen Rolle des Staatsbürgers und der privaten Rolle des Klienten sozialstaatlicher Massendemokratien entgegen. Qua Sozialpolitik habe die Volksdemokratie ihr politisches Defizit abbauen und „gesellschaftlichen Konsens“ herstellen können. Rákosník zögert nicht, sich dabei auf den „Mann auf der Straße“ zu berufen, dem ältere Darstellungen (mit ihrer traditionellen „Überintellektualisierung“ historischer Analysen) ausdrücklich kein kompetentes Urteil über kommunistische Politik zubilligen wollen.2

Für die einschlägige Forschung ist die „kompensatorische“ und „pazifizierende“ Funktion kommunistischer Sozialpolitik ein geläufiges Argument. Dabei wird allerdings nicht mitbedacht, dass sozialpolitische Maßnahmen – so auch in der DDR – oft genug auf relativ autonome Entwicklungen in der Gesellschaft reagierten3, eine Interpretation von Sozialpolitik als (im Grunde manipulativ gehandhabte) kollektive Ersatzbefriedigung für politische Partizipation die Sache also nicht trifft. Für die Tschechoslowakei gilt beispielsweise, dass sich die nivellierende Lohnpolitik der KPTsch einem von der Industriearbeiterschaft selbst artikulierten Bedürfnis anpasste.

Rakosníks These vom sozialpolitisch fundierten „gesellschaftlichen Konsens“ zielt daher in eine andere Richtung. Er bettet Sozialpolitik in einen zeitlichen Zusammenhang ein, der über die Jahre 1945-1960 hinausreicht, die Vorkriegsrepublik, das Protektorat Böhmen und Mähren und die 1970er-Jahre einbezieht und als säkularer Trend zum Sozialstaat die großen politischen Zäsuren der tschechoslowakischen Geschichte erheblich einebnet. Tradition, die damit unvermeidlich ins Spiel kommt, erscheint Rákosník als diejenige kulturelle Variable, die zwangloses Einverständnis ermöglichte und eine Analyse von Sozialpolitik jenseits herrschaftsbezogener Deutungen erlaubt. Eines seiner Beispiele ist der genossenschaftliche Wohnungsbau der Vorkriegsrepublik, an den die Volksdemokratie bruchlos und mit Erfolg anknüpfte. Dass es ergiebig ist, im Rahmen seines Themas die Zäsuren der politischen Geschichte zu unterlaufen, erläutert Rákosník am kommunistischen Coup d'État 1948. Da die (nicht allein von der KPTsch beherrschte) Nachkriegsrepublik 1945-1948, wie Rákosník nachweist, sozialpolitisch „kommunistischer“ war als die Volksdemokratie unter Alleinherrschaft der KPTsch, brauchte die KPTsch nach 1948 nicht mehr zu tun, als sich das sozialpolitische Erbe der dritten Republik anzueignen und davon zu zehren. Auch die Opposition Vorkriegsrepublik/Volksdemokratie erscheint unscharf, wenn dargelegt wird, dass sich die KPTsch in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre – nach einer Phase revolutionärer Sozialpolitik – auf sozialpolitische Prinzipien der 1930er-Jahre besann.

Rákosníks Untersuchung ist methodisch-konzeptionell auf der Höhe der internationalen Forschung. Dies zeigen – um nur einige Argumentationsfelder zu nennen – die enge Verzahnung der Sozialpolitik mit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung; die Überlegungen zur Ergiebigkeit verschiedener sozialstaatlicher Konzepte; die Absicherung der Befunde durch vergleichende Statistik; die Erwägungen zur intergenerationellen sozialpolitischen Umverteilung; zur Problematik der Versorgungsklassen; zu den programmatischen Grundlagen der Sozialversicherung mit dem Hauptproblem ihrer allmählichen Umwandlung in ein staatspaternalistisch gehandhabtes Instrument des „sozialistischen Aufbaus“. Sorgsam abwägend, sieht Rákosník diese Bereiche auf der Habenseite kommunistischer Sozialpolitik: die Gesundheitspolitik; mit einigen Abstrichen die Bildungspolitik; das die gesamte Bevölkerung prinzipiell einschließende, wenn auch die Nutzungschancen staatlicher Leistungen für die Versorgungsklassen begrenzende System der Sozialversicherung; die Preispolitik für Grundnahrungsmittel und die niedrigen Mieten (obwohl – wie in der DDR – vom Verfall der Bausubstanz begleitet).

Im Kontext der tschechischen Geschichtsschreibung und speziell der zeitgeschichtlichen Forschung ist Rákosníks Buch ohne Einschränkung ein opus magnum. Es erneuert den Anspruch, Gesellschaft im Ganzen zu begreifen, und zieht daraus für die kommunistische Ära den Schluss, dass zu diesem Zweck vor allem der empirisch immer schon fragwürdige (und dem historiographischen popular taste des Kalten Krieges verpflichtete) Topos eines diametralen Gegensatzes von kommunistischem Herrschaftsapparat und Gesellschaft aus dem Verkehr gezogen werden muss. Den Peripetien der politischen Geschichte stellt Rákosník ein gesellschaftsgeschichtliches Kontinuum entgegen, das die realsozialistische Periode in langfristige Zusammenhänge der tschechoslowakischen Geschichte hereinholt und mit der Vorstellung aufräumt, das kommunistische System habe oberhalb des von ihm Zusammengefassten ein Eigenleben geführt. Dass es an der Zeit ist, dieser Sicht den Boden zu entziehen, wird – um Rákosník zu ergänzen – an der Herausbildung einer „Sondermethodologie“ für die kommunistische Ära deutlich, die – ausgestattet mit einer hermetischen Sprache – Mauern zu errichten versucht, um unantastbare Bezirke dem Zugriff einer bestimmten Art von Forschung zu entziehen.4 Im Schlusskapitel führt Rákosník ein anderes Argument dafür an, dass ein methodischer Paradigmawechsel in der tschechischen zeitgeschichtlichen Forschung längst überfällig ist: Wer es mit den viel zitierten „Lehren aus der Geschichte“ ernst meint, sollte den Platz der Gesellschaft herausarbeiten, den sie in der Geschichte tatsächlich eingenommen hat, und ihr nicht ein Vakuum vorspiegeln, das nachträglich mit entlastenden Symbolisierungen gefüllt wird.

Anmerkungen:
1 Dies sind, stark zusammengefasst, die Überlegungen von Michal Pullmann, Sociální dějiny a totalitněhistorické vyprávění [Sozialgeschichte und die historische Erzählung über den Totalitarismus], in: Soudobé dějiny 15 (2008), S. 703-717. Pullmann gehört wie Rákosník zur jüngeren Generation tschechischer Historiker. Beiden ist, wenn ich richtig sehe, eine kulturwissenschaftlich und sozialgeschichtlich inspirierte Perspektive bei der Aufarbeitung der kommunistischen Ära der Tschechoslowakei gemeinsam.
2 Der Unterschied zwischen dem Urteilsvermögen des „Mannes auf der Straße“ und dem einer „hellseherischen Elite“ in der kommunistischen Tschechoslowakei wird herausgearbeitet bei Karel Kaplan, Proměny české společnosti 1948-1960. Část první [Wandlungen der tschechischen Gesellschaft 1948-1960. Erster Teil], Praha 2007, S. 130.
3 Für die DDR dazu Hans Günter Hockerts, Grundlinien und soziale Folgen der Sozialpolitik in der DDR, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 519-544.
4 Am Beispiel der Entwicklung der Sozialgeschichte der Tschechischen Republik dazu Peter Heumos, K sociálněhistorickému výzkumu komunistických systémů [Zur sozialhistorischen Forschung über kommunistische Systeme], in: Soudobé dějiny 15 (2008), S. 686-702.

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