K. Roth-Ey: Moscow Prime Time

Cover
Titel
Moscow Prime Time. How the Soviet Union Built the Media Empire That Lost the Cultural Cold War


Autor(en)
Roth-Ey, Kristin
Erschienen
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
$39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Zeller, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg

Über die Geschichte autoritärer Gesellschaften lässt sich wenig Substantielles zu öffentlicher Kommunikation, Propaganda und Unterhaltung sagen, wenn die Medientechnologien unerforscht bleiben, die in diesen Gesellschaften zum Einsatz kommen. In der Sowjetunion nach Stalins Tod entwickelten sich Radio, Fernsehen und Filmindustrie zu einem wuchernden und widersprüchlichen „sowjetischen Medienimperium“, das seine Legitimation aus dem „kulturellen Kalten Krieg“ gegen den kapitalistischen Westen zog und aus einer Vielzahl konkurrierender Akteure, Ebenen und Interessen bestand. Kristin Roth-Ey hat sich die ambitionierte Aufgabe gestellt, die Funktionsmechanismen dieses „Medienimperiums“ anhand seiner drei zentralen Medien, Radio, Film und Fernsehen, zu ergründen. Gelungen ist ihr eine äußerst gut geschriebene, amüsante und instruktive Studie, die Lust auf mehr macht.

Das erste Kapitel ist der sowjetischen Filmindustrie gewidmet, die nach Stalins Tod zu einer der größten der Welt expandierte. Nach größeren Erfolgen in den Tauwetterjahren konnte sie den eigenen Anspruch eines „weltweit führenden Kinos“ (S. 70) nicht verwirklichen. Widersprüchlich erscheint Roth-Ey die Filmindustrie auch intern, da ihre „antikommerzielle“ Grundausrichtung systematischem Profitdenken keinen Einhalt geboten habe (S. 27). Während etwa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Filmtrophäen wie „Tarzan“ auch in sowjetischen Kinos zu Kassenschlagern wurden, verharrte das sowjetische Kino insgesamt unter dem massiven Zugriff diverser Kontrollinstanzen, die die ideologische Konformität neuer Filmproduktionen sicherstellten. Für die Filmindustrie der 1960er- und 1970er-Jahre kann Roth-Ey zeigen, wie sich Entscheidungsinstanzen vervielfältigten und teilweise dezentralisierten, bevor sich der Zugriff durch höchste politische Instanzen im Zuge des Prager Frühlings erneut verstärkte. Die inneren Widersprüche des sowjetischen Kinos verstärkten sich zu einer Segmentierung der Filmkultur, als Kassenschlager wie „Moskau glaubt den Tränen nicht“ (1979) in einer „Ära der Blockbuster“ die Szenerie dominierten, während anspruchsvollere Filme eher in abgelegene Kinos abwanderten (S. 63).

Das zweite Kapitel beschreibt den mediengesellschaftlichen Wandel, der in den 1960er-Jahren eine völlig neue sowjetische Filmkultur hervorgebracht habe. In einer politischen Ordnung, die ihr Kino als Kunstform präsentierte, „demonstrierten“ große Zuschauermassen „das kulturelle Niveau ihrer Bevölkerung und ihre fundamentale Einheit“ (S. 71). Doch anders als Kriegs- und Bürgerkriegsklassiker „verletzten“ importierte und einheimische Gassenhauer „fast jeden Standard“ sowjetischer Kunst- und Bildungsideale (S. 72). Diesem erneuten Widerspruch geht das Kapitel systematisch auf den Grund. Roth-Ey interessiert sich dabei allerdings weniger dafür, was Filme für sowjetische Kinogänger bedeuteten. Sie konzentriert sich auf soziokulturelle Rahmenbedingungen, vor allem aber auf die mediale Oberfläche selbst, auf der sich ideologische Standards und Unterhaltung auch in Bezug auf „Stars“ und „Fans“ erkennbar rieben. Offiziell zählten etwa Filmstars nicht zur Riege sowjetischer Helden, die es zu imitieren galt (S. 99, 121). Doch implizit versorgten sowjetische Medien die zunehmend selbstbewusster auftretenden Filmfans mit persönlichen Informationen über Schauspieler und förderten so deren Verehrung. Die widersprüchlichen Signale sowjetischer Filmzeitschriften hätten der Paradoxie der Filmkultur insgesamt entsprochen, deren „erfolgreicher Misserfolg“ überwältigenden Zuspruch an den Kinokassen ebenso beinhaltete wie ein weites Abrücken des Kinos von „seinem ideologischen Rahmen“ (S. 130).

Im dritten Kapitel wendet sich Roth-Ey dem Radio und insbesondere dem Empfang ausländischer Radioprogramme zu. Dass illegale Programme wie „Voice of America“ oder „Radio Free Europe“ in der Sowjetunion empfangen werden konnten, beschreibt sie als Produkt einer komplexen Motivlage in Politik, Industrie und Bevölkerung; und als Konstrukt der sowjetischen Eliten. Angesichts eines „Systems überlappender Zuständigkeiten und widerstreitender Interessen“ (S. 149) lasse sich etwa erklären, weshalb die Produktion von Kurzwellenradios beständig stieg, obwohl diese Geräte auch den Empfang ausländischer Sender ermöglichten. So habe es im Interesse von Parteioffiziellen gelegen, ihre Regionen zügig zu ‚radiofizieren‘ (S. 150). Selbst die Vorstellung der „Bedrohung“ durch Medien des kapitalistischen Westens sei letztlich durchaus im Interesse ganz unterschiedlicher Protagonisten der sowjetischen (Medien-)Politik gewesen. Sowjetische Behörden und Medien bekämpften die „Bedrohung“ mit neuen Programminhalten und Störsignalen, deren Ineffektivität ihnen nur zu gut bewusst war (S. 145). Vor allem aber profitierten sie von ihr, da der Hinweis auf die große Bedrohung ihr eigenes Tun legitimieren konnte.

Im vierten Kapitel skizziert Kristin Roth-Ey den Aufstieg des sowjetischen Fernsehens als Geschichte bewusster Entscheidungen und nicht als Folge technologischer Determinismen. Die Bevölkerung wurde im Kontext des kulturellen Kalten Krieges sukzessive mit privaten Fernsehgeräten versorgt (S. 181). Bereits in den frühen 1970er-Jahren hatten rund siebzig Prozent der Bevölkerung Zugang zu Fernsehübertragungen. Bemühungen, „das sowjetische Fernsehen zu expandieren, zu zentralisieren und zu standardisieren“, hätten schon lange eingesetzt, bevor auch das Fernsehen Anfang der 1970er-Jahre unter direkteren Zugriff des Zentralkomitees geriet (S. 218). Im Vergleich etwa zur Filmindustrie fällt das geringe Prestige des Fernsehens ins Auge. Die anderen Medien schätzten die Wirkung dieser neuen (Konkurrenz-)Technologie ambivalent ein; zögerlich habe sich auch die Politik ihr genähert; wenig hätten sich Künstler von diesem Medium zunächst versprochen (S. 197).

Das fünfte Kapitel skizziert das Ringen des Fernsehens und seiner frühen Macher um „Autorität“. In den späten 1950er- Jahren hätten aus Journalismus, Theater oder Film kommend, „junge, enthusiastische Dilettanten“ sich das neue Medium als Spielwiese angeeignet, um die „Täuschungen“ des Stalinismus durch „Fernsehwahrheit“ zu ersetzen (S. 223). Deren „Autorität“ habe allerdings in dem Maße abgenommen, wie sich die „Autorität“ des Mediums selbst vergrößerte. Hohe Funktionäre, unter ihnen nicht zuletzt Leonid Breschnew, hätten in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren mehr als je zuvor „die Parameter für Zuschauerbedürfnisse gesetzt“, wobei sie „politische Erziehung“ und „Mobilisierung“ höher gewichteten als die gleichermaßen zugestandene „Unterhaltung“ (S. 279).

Kristin Roth-Ey verknüpft politische Entscheidungsprozesse, technologische und ökonomische Beobachtungen, statistische Erhebungen und Umfragen, sowie Film- und Fernsehszenen, Anekdoten zum Zuschauerverhalten und Einschätzungen zeitgenössischer Medienakteure und liefert damit einen hervorragenden Überblick über die sowjetische Radio-, Film- und Fernsehindustrie der Sowjetunion nach Stalins Tod. In seinen stärksten Passagen konstatiert „Moscow Prime Time“ die ambivalente Gemengelage sowjetischer Medienkultur nicht einfach aus der Vogelperspektive sowjetischer Behördendokumente, sondern leitet sie aus den jeweiligen Entscheidungsprozessen, den technologischen Möglichkeiten, dem internationalen Kontext und der widerstrebenden ökonomischen und politischen Interessenlage sowjetischer Institutionen heraus ab. Dies ist eine Kulturgeschichte, die ihre Augen nicht vor herrschaftlich-ökonomischen Rahmenbedingungen verschließt, diese aber, anders als klassische Strukturgeschichten, ihrerseits wieder aus konkreten Wahrnehmungen einzelner Akteure heraus ableitet.

Kristin Roth-Ey ist sich der Grenzen ihres Ansatzes sehr wohl bewusst, wenn sie etwa über Statistiken und Beschwerdebriefe nur punktuell andeutet, wie sowjetische Medien auf die Bevölkerung wirkten. Wie sahen sowjetische Bürger die propagandistische Inkohärenz von Film- und Fernsehinhalten? Wie nutzten sie sie aus? Eine Geschichte von Radiohörern, Kinofans und Fernsehzuschauern würde vermutlich weit weniger bequem unter der These des „erfolgreichen Misserfolgs“ zu subsumieren sein, als dies in „Moscow Prime Time“ geschieht. Die sowjetische Medienindustrie vernetzte in den 1960er- und 1970er-Jahren große Teile der Bevölkerung und erzeugte so völlig neue soziale Zusammenhänge, Gemeinschaften und Kommunikationsweisen der Bevölkerung mit sowjetischen Institutionen, die kaum untersucht sind.

„Moscow Prime Time“ macht Lust auf mehr. Es ist ein polit-bürokratisch, technologisch, statistisch und filmkulturell höchst informierter, ansprechend geschriebener Überblick, der ausgehend von den Produktionsbedingungen sowjetischer Medien mit einseitigen Thesen aufräumt und ein weites Forschungsfeld umreißt. Einen besseren Ausgangspunkt für weitere Explorationen in die sowjetische Populär- und Medienkultur nach Stalins Tod hätten wir uns nicht wünschen können.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch