A. Gallus u.a. (Hrsg.): Rückblickend in die Zukunft

Cover
Titel
Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930


Herausgeber
Gallus, Alexander; Schildt, Axel
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 48
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Wintgens, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Berlin

„Bonn ist nicht Weimar“ – in dieser sprichwörtlich gewordenen Formel hat der Schweizer Journalist Fritz René Allemann 1956 seine verständnisvollen Beobachtungen der frühen Bundesrepublik auf den Punkt gebracht.1 Auch wenn Allemann selbst heute unbekannt ist, wird die deutsche Nachkriegsgeschichte gemäß dem berühmten Zitat gedeutet: Aus dem Scheitern der Weimarer Republik, so die gängige Erzählung der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte, habe man gelernt und vom Grundgesetz bis zur politischen Kultur die Konsequenzen gezogen. Aber ist damit schon alles gesagt?

Dass es – über das abschreckende Negativbeispiel hinaus und jenseits der politologischen Ungleichung – auffällige Zusammenhänge zwischen „Bonn“ und „Weimar“ gegeben hat, ist die Erkenntnis eines von Alexander Gallus und Axel Schildt herausgegebenen Sammelbandes, der vor allem die Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik analysiert. Damit dokumentiert und vertieft das Buch die Vorträge einer wissenschaftlichen Tagung, die im März 2009 an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg stattgefunden hat.2

Die 23 Beiträge wählen den chronologisch umgekehrten Weg: Von 1950 aus, also vor Allemanns Ermutigung einsetzend, geht es weiter zurück in die Spätphase der ersten deutschen Demokratie. Dieser Blickwinkel ist insofern bemerkenswert, als zwischen den beiden Referenzdaten 1950 und 1930 jene epochalen Zäsuren liegen, die mit den Jahreszahlen 1933 und 1945 angedeutet sind: der Beginn der nationalsozialistischen Diktatur und ihr Ende mit dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs. Allerdings ermöglicht es diese Perspektive, im Vergleich Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu benennen. Vor allem aber erhellt sie die Kontinuitäten und Traditionslinien zwischen den 1920er- und 1950er-Jahren. Dadurch bereichert der Band unser Bild der frühen Bonner Republik.

Das Interesse gilt der westdeutschen Öffentlichkeit um 1950 und dabei derjenigen Personengruppe, die man als „Intellektuelle“ bezeichnet. Diese Intellektuellen waren in drei Bereichen tätig: in der akademischen Welt, gerade in den Geisteswissenschaften, in der Literatur und in den Medien. Die Sphären waren allerdings nicht strikt getrennt, sondern es gab viele Berührungspunkte, beispielsweise wenn Universitätsprofessoren in der Presse publizierten oder Schriftsteller für das Radio produzierten. Ihr gemeinsames Forum war die westdeutsche Öffentlichkeit und es einte sie das Anliegen, dort mit ihren politischen Sorgen gehört zu werden. Methodisch folgt der Sammelband dem Konzept der „intellectual history“3, die den politischen, gesellschaftlichen und vor allem medialen Kontext der Geistesgeschichte rekonstruiert.

In diesem Sinne geht es den Autoren um eine „ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik“ (S. 402), wie Friedrich Kießling das in seinem Beitrag über Walter Dirks und Eugen Kogon nennt. Dirks und Kogon warnten vor den „restaurativen Tendenzen“ der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Schon das Beispiel der „Restaurationskritik“ belegt die Stimmigkeit des „Weimar-Komplexes“, den Sebastian Ullrich für die Debatten der 1950er-Jahre diagnostiziert. Denn viele Diskussionen der frühen Bundesrepublik bezogen ihre Argumente aus der Weimarer Zeit: so im vielstimmigen Klagelied über die „Probleme der modernen Massengesellschaft“ – dem „Vermassungs“-Blues der 1950er-Jahre – oder in der tiefsitzenden Skepsis gegenüber dem „Parteienstaat“.

Das schlechte Image der Weimarer Republik, insbesondere das Schreckbild des Parteiengezänks, blieb kontinuierlich seit den 1920er-Jahren bestehen. Noch nach dem Ende „Weimars“ manifestierten sich die verbreiteten Vorbehalte gegenüber dem Parlamentarismus im Bild der untergegangenen Republik. Tatsächlich erschien in der frühen Bundesrepublik vieles wie eine Neuauflage der Zeit vor Hitler: Im ersten Bundestag gab es eine Vielzahl von Parteien mit teils radikalen, schrillen Auftritten und beim politischen Personal dominierte die biografische Kontinuität der Weimarer „Altpolitiker“ wie Adenauer, Heuss und Schumacher. Insofern hatten die „Überbleibsel“ (Sebastian Ullrich, S. 36) aus den Intellektuellendebatten eine reale Entsprechung.

Neu in Bonn war indes der „Weimar-Komplex“ der politischen Kultur oder positiv formuliert: das konsensuale Ziel, ein abermaliges Scheitern der Demokratie zu verhindern. Damit war „Weimar“ nicht nur ein Überrest, sondern eine neuartige intellektuelle Konstruktion, und zwar als verpflichtende Erfahrung. Die Warnung vor „Weimarer Verhältnissen“, denen es vorzubeugen galt, bekam den Status eines gewichtigen Arguments. Legitimitätsgewinn durch Abgrenzung: Die parlamentarisch regierte Bundesrepublik profitierte gewiss von den Erfolgen der Adenauerzeit – Westbindung, Wirtschaftswunder und Parteienkonzentration –; bei der geistigen „Verarbeitung“ schaute man aber zunächst auf das Menetekel „Weimar“.

In der Kultur der frühen Bundesrepublik gingen Altes und Neues merkwürdige Verbindungen ein. So stammte der intellektuelle Horizont der westdeutschen Feuilletons weitgehend aus den 1920er-Jahren; besonders prominent waren etwa die Thesen von José Ortega y Gasset über den „Aufstand der Massen“ von 1929. Skepsis gegenüber der Moderne blieb die „mentale Grundierung“ (Jan Eckel, S. 305) der 1950er-Jahre. Eine melancholisch gestimmte Kulturkritik teilte nicht den liberalen Fortschrittsglauben des neunzehnten Jahrhunderts, sondern bewertete Diktatur wie „Massendemokratie“ als Verfallsprozess, dessen gefährliches Ende womöglich erst noch komme.

An der publizistischen Biografie des Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Karl Korn veranschaulicht Marcus Payk überdies die Kontinuitäten, die oft von den antiliberalen Ideen der „Konservativen Revolution“ über die Gratwanderung zwischen Opportunismus und Zensur im „Dritten Reich“ bis zu den kulturkritischen Vorbehalten reichten, mit denen man sich während der 1950er-Jahre gegen die Schuld der NS-Vergangenheit und die rasante Modernisierung zu imprägnieren versuchte. Derartige Kulturkritik war aber mehr als nur ein Nachklang, vielmehr ein Übergangsphänomen. Korn beispielsweise öffnete als Mitherausgeber der FAZ das Feuilleton der liberal-konservativen Zeitung für eher linke Autoren, die mit ihrer Kritik an der materialistischen, kulturfernen Wohlstandsbourgeoisie der Wirtschaftswunderrepublik auf die 1960er-Jahre verweisen. Nicht zuletzt schrieb Korn eine verständnisvolle, lobende Rezension über Wolfgang Koeppens Parlamentsroman „Das Treibhaus“ (1953).

Besonders auffällig bei der Lektüre des Bandes sind viele biografische Kontinuitäten: So hatte Rudolf Pechel bis zu seiner Verhaftung 1942 die „Deutsche Rundschau“ herausgegeben, eine Kulturzeitschrift aus dem Umfeld der „konservativen Revolution“. Von 1946 bis 1961 war Pechel abermals Herausgeber der „Deutschen Rundschau“, nun aber nicht mehr als der nationalkonservative Publizist der Weimarer Zeit, sondern, wie Claudia Kemper feststellt, als Kritiker nicht unterbrochener Karrieren seit dem „Dritten Reich“.

Neben diesen Verbindungslinien heben viele Beiträge zu Recht die Unterschiede zwischen 1950 und 1930 hervor. Manche Entwicklungen waren zu Beginn der Bundesrepublik einfach zu Ende. So zeigt Daniel Morat am Beispiel der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger, die vor 1930 mit ihren radikalen Positionen im rechten Lager den Ton angegeben hatten, dass sich einstmals einflussreiche Intellektuelle in der Bundesrepublik von der Politik ab- und den „musischen Territorien“ (F.G. Jünger) zuwandten. Sie galten als so stark belastet, dass sie die Nachkriegszeit „als Fortsetzung der inneren Emigration unter veränderten Bedingungen“ (S. 129) erlebten.

In fast allen Beiträgen zeigt der Band, dass Intellektuelle in hohem Maße Individualisten sind, bei denen es auf den Einzelfall ankommt. Das gilt für das gut erforschte konservativ-rechte Spektrum, etwa für Emil Franzel, den Chefredakteur der Zeitschrift „Neues Abendland“. Franzel schrieb für eine Rechristianisierung des „Abendlands“, um es gegen den Kommunismus, die Moderne und die Amerikanisierung zu verteidigen. Sein Europabild war eine rückwärts gewandte Utopie, die sich, so Vanessa Conze, nicht bloß aus dem Kalten Krieg erklärt. Auch beim „Neuen Abendland“, dessen Titel sich auf die Weimarer Zeitschrift „Abendland“ bezog, gab es geistige Wurzeln, die bis in die 1920er-Jahre reichten.

Unterschiedliche Lebensläufe werden ebenso sehr bei linken Publizisten deutlich, bei Axel Eggebrecht und Kurt Hiller, zwei Autoren der Weimarer „Weltbühne“, deren Nachkriegsbiografien Alexander Gallus skizziert. Während Hiller abseits der Öffentlichkeit mit seinen Briefpartnern korrespondierte, wurde Eggebrecht ein beachteter Kommentator beim Norddeutschen Rundfunk. Er hatte im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ die erfolgreichere Medienstrategie gewählt. Darüber hinaus galt die „Weltbühne“ als linke Ikone der „weimar culture“. Mit dem englischen Begriff der „weimar culture“, deren Spuren eher in Amerika zu finden seien, erinnert Claus-Dieter Krohn an die Opfer, die der Nationalsozialismus vor allem bei linken und jüdischen Intellektuellen gefordert hat. Die Folge sei in Deutschland „eine geistige Ebbe Anfang der fünfziger Jahre“ (S. 68) gewesen, sinnfällig zum Ausdruck gekommen etwa im Erfolg des wehleidigen Entnazifizierungsbestsellers „Der Fragebogen“ von Ernst von Salomon.

Nur wenige Vertreter der Weimarer Intellektuellenszene, die Deutschland nach 1933 verlassen mussten, kehrten – sofern sie überlebt hatten – nach dem Krieg zurück, um wie die „Frankfurter Schule“ an der „intellektuellen Gründung der Bundesrepublik“ mitzuwirken. Am Beispiel des remigrierten Politikwissenschaftlers Siegfried Landshut illustriert Rainer Nicolaysen die Anfänge dieser politisch-pädagogisch neu konzipierten Wissenschaft. Seit den 1920er-Jahren hatte sich bei Landshut weniger sein Programm verändert – seine „Kritik der Soziologie“ von 1929 gilt als Klassiker der neo-aristotelischen Schule – als vielmehr die politischen Umstände. Vor 1933 hatte er sich zweimal in Hamburg vergeblich um die Habilitation bemüht, nach 1951 konnte er an der gleichen Universität ein neues Fach aufbauen.

Auch bei den Schriftstellern der Gruppe 47 und ihrem Gründer Hans Werner Richter haben die Erfahrungen vor der „Stunde null“ die politische Haltung in der Bundesrepublik bestimmt. Mit dieser These erklärt Dominik Geppert die Befangenheit der „47er“ gegenüber den Schriftstellern der Emigration – deren grundlegend andere Erfahrungen die Vertreter der Wehrmachtsjahrgänge nicht an sich heranließen –, aber auch die Bedenken vieler Literaten gegenüber dem Parteienstaat. Gleichzeitig betont Geppert, wie viele andere Beiträge, den Unterschied zwischen „Bonn“ und „Weimar“: eine produktive Dialektik von Politik und Zeitkritik, an deren Ausgang eine politische Kultur nicht scheitert. Vielmehr konnten sich der Integrationskraft der Bonner Republik weder linke noch rechte Intellektuelle entziehen und an die Stelle der ideologischen Zuspitzung war ein pluralistischer Austausch getreten.4 Carola Dietze bringt das auf die Formel: Nachdem sich das politische Denken um 1930 radikalisiert hatte, waren die 1950er-Jahre eine Phase der Deradikalisierung.

Alles in allem bündelt der Band die „intellectual history“ der vergangenen fünfzehn Jahre. Die meisten Autoren haben ihre Themen andernorts ausführlich erörtert.5 Indem sie sich jedoch in diesem Band auf die Perspektive der Herausgeber konzentrieren und von 1950 auf 1930 blicken, geben sie der Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik ein Gesicht, genauer: mehrere Gesichter. Ihre anregenden Erkenntnisse laden dazu sein, die Kultur der 1950er-Jahre weiter zu untersuchen – einer Gründerzeit und einer Zeit mit vielfältigen Verbindungen in die Zeit vor 1945 wie vor 1933.

Anmerkungen:
1 Vgl. Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956.
2 Vgl. Eva-Maria Silies, Tagungsbericht Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930. 19.03.2009-21.03.2009, Hamburg, in: H-Soz-u-Kult, 27.05.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2629> (08.10.2011).
3 Vgl. zu Begriff und Konzept: Riccardo Bavaj, Intellectual History, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.09.2010, <http://docupedia.de/zg/Intellectual_History> (08.10.2011).
4 Vgl. Nina Verheyen, Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des „besseren Arguments“ in Westdeutschland, Göttingen 2010; vgl. die Rezension von
Jens Elberfeld, in: H-Soz-u-Kult, 04.03.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-159> (08.10.2011).
5 Vgl. etwa Rainer Nicolaysen, Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1997; Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970)( Studien zur Zeitgeschichte 69), München 2005; vgl. die Rezension von Andreas Schneider, in: H-Soz-u-Kult, 08.02.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-087> (08.10.2011); Carola Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892-1985. Eine Biographie, Göttingen 2006; vgl. die Rezension von Jens Hacke, in: H-Soz-u-Kult, 15.12.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-202> (09.10.2011); Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920-1960 (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 24), Göttingen 2007; vgl. die Rezension von
Ingeborg Villinger, in: H-Soz-u-Kult, 27.09.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-235> (09.10.2011); Jan Eckel, Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen 2008; vgl. die Rezension von Jens Thiel, in: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-2-199> (09.10.2011); Marcus M. Payk, Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn, München 2008; vgl. die Rezension von Alexander Gallus, in: H-Soz-u-Kult, 16.09.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-164> (09.10.2011); Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2009; vgl. die Rezension von Marcus M. Payk, in: H-Soz-u-Kult, 29.10.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-091> (09.10.2011).

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