N. Grüne u.a. (Hrsg.): Korruption

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Titel
Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation


Herausgeber
Grüne, Niels; Slanička, Simona
Erschienen
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
474 S.
Preis
€ 70,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Isenmann, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die historische Forschung widmet sich seit einigen Jahren verstärkt dem Problem der Korruption. Vor allem die Frage, inwieweit moderne Normvorstellungen auf vergangene Gesellschaften angewendet werden können, wird dabei intensiv diskutiert. Niels Grüne und Simona Slanička interpretieren in ihrem jüngst erschienenen Sammelband Korruption als eine „Grundfigur politischer Kommunikation“, da sich in Korruptionsdiskursen gesellschaftliche Selbstbeschreibungen kristallisieren, und wollen den Rollenerwartungen nachgehen, welche diese Diskurse an die Akteure stellten. Der Band soll sich damit in „den Strom der ‚Neuen Kulturgeschichte‘“ einfügen (Grüne, S. 13). Zudem wollen die Herausgeber die Ergebnisse als Beitrag zu einer „Kommunikationsgeschichte des Politischen“ verstanden wissen.

Die drei ersten Beiträge führen in die Problematik ein. Der Essay von Mitherausgeber Niels Grüne legt die historiographisch-methodischen Grundlagen und dient zugleich als programmatische Einleitung. Jens-Ivo Engels vertritt in seinem Aufsatz die These, dass der amtsorientierte Ansatz, der Korruption als Pflichtverletzung eines Amtsinhabers zugunsten seines individuellen Nutzens begreift, nur auf „moderne Gesellschaften“ anwendbar sei. Dieses Verständnis habe sich erst in den letzten beiden Jahrhunderten aufgrund von bestimmten Modernisierungsprozessen (wie zum Beispiel die Ausdifferenzierung einer privaten und einer öffentlichen Sphäre) herausgebildet. In den Debatten über Korruption hätten sich solche Prozesse widergespiegelt, weshalb Korruptionskommunikation auch einen privilegierten Zugang zu Modernisierungsphänomenen biete. Der Soziologe Peter Graeff diskutiert im Anschluss den Nutzen von „Prinzipal-Agent-Klient-Modellen“, bei denen ein Agent die von seinem Prinzipal festgelegten Normen zugunsten seines Klienten übertritt, wobei Agent und Klient den Vorteil haben und der Prinzipal den Schaden davonträgt. Angesichts der Schwierigkeiten, für „Korruption“ eine überzeitliche Definition zu finden, sind für Graeff solche Modelle ein gutes Mittel, die Rolle der verschiedenen Akteure zu identifizieren und diese zueinander in Beziehung zu setzen.

Die übrigen Beiträge sind Themengebieten zugeordnet. Das erste befasst sich mit „Vokabularen und Semantiken“. Gunda Steffen-Gaus widmet sich der Simonie als „theologischer Korruption“ anhand des Traktats „De Simonia“ von John Wyclif, der schon viele Spielarten von Korruption im Sinne des amtsorientierten Ansatzes benennt und anprangert, auch wenn er nicht das Wort „Korruption“ selbst verwendet. In Fürstenspiegeln aus der Zeit vom 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert finden sich schon sehr häufig sowohl der Begriff corruptus als auch „sehr detaillierte und verblüffend modern wirkende Beschreibungen konkreter Korruptionspraktiken“ (S. 99), wie Simona Slanička zeigen kann. Felix Saurbier geht der Korruptionssemantik in deutsch- und englischsprachigen Bibelübersetzungen der Frühen Neuzeit nach und stellt fest, dass in Bezug auf Käuflichkeit und Bestechung in beiden Fällen zunächst ein „ambivalentes, kontextsensitives Vokabular“ überwog, sich in England jedoch zwei Jahrhunderte früher als im deutschsprachigen Raum eine „eindeutig negativ konnotierte Diktion“ (S. 141) durchsetzte.

Das zweite Problemfeld behandelt die Frage der Legitimität von personaler Verflechtung und Patronage aus Sicht der Zeitgenossen. Uwe Walter zeigt, dass im spätrepublikanischen Rom der inkriminierende Diskurs gegen unerlaubte Wahlwerbung auf praktischer Ebene eine sehr begrenzte Wirksamkeit entfaltete, da es unmöglich war, das Unerlaubte genau zu definieren und es vom legitimen aristokratischen Patronagewesen abzugrenzen. Andreas Suter erhebt in seinem Essay zu den Geheimpensionen, die in der frühen Neuzeit von auswärtigen Mächten an eidgenössische Eliten gezahlt wurden, gegen die Patronageforschung den Vorwurf, einseitig die Perspektive der Netzwerke eingenommen und sich damit „unfreiwillig zu deren Verteidigerin“ (S. 202) gemacht zu haben. Neben dem Freundschaft betonenden Verteidigungsdiskurs der Patronage habe es einen anderen Diskurs gegeben, der ein gemeinwohlorientiertes Korruptionsverständnis aufwies, das sich nicht vom modernen unterscheide. Hillard von Thiessen wiederum betont in seinem Artikel zu frühneuzeitlichen Gesandten die Koexistenz und Konkurrenz von formellen gemeinwohlorientierten und informellen sozialen Normen. Thomas Welskopp zeigt in seinem Beitrag anhand der Politik einiger US-amerikanischer Städte im 19. und 20. Jahrhundert, dass Korruption auch funktionale Bedingungen und Funktionsweisen haben kann und daher nicht automatisch als Verfallserscheinung gedeutet werden muss. Ohne ein sichtbarer Bestandteil der politischen Institutionen zu sein, habe Korruption ihr Zusammenspiel geschmeidig und ein radikal-demokratisches System funktionsfähig gemacht, das anderenfalls an seinen unrealistischen puritanischen Gesetzen zerbrochen wäre. Auch im Fall der Sowjetunion können Praktiken wie Bestechung oder klienteläre Netzwerke nicht wirklich als Korruption bezeichnet werden, wie Stephan Merl hervorhebt, da sie zum Überleben notwendig waren und dazu beitrugen, dass die sowjetische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung überhaupt funktionieren konnte. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Korruption – wie auch Welskopp für die Vereinigten Staaten feststellt – öffentlich immer verurteilt wurde. Exemplarische Bestrafungen dienten vor allem dazu, die Fiktion von Legalität aufrecht zu erhalten.

Das dritte Themengebiet befasst sich mit Institutionskulturen in Recht und Verwaltung. Nach Stefan Ehrenpreis war Korruption in Form von illegitimen Zuwendungen am frühneuzeitlichen Reichshofrat ein strukturelles Problem, das durch eine mangelhafte Gerichtsfinanzierung und kaiserliche Klientelpolitik hervorgerufen wurde und daher von kaiserlicher Seite auch nicht angegangen wurde. André Krischer analysiert anhand der Prozesse gegen Francis Bacon (1621) und Warren Hastings (1788-95) einen Strukturwandel bei der Bewertung von Korruption in England, die sich von einer „Kultur der tolerierten Scheinheiligkeit“ hin zu einer schärferen Wahrnehmung entwickelt habe, was Krischer auf eine gewandelte Rolle der Öffentlichkeit und eine zunehmende Ausdifferenzierung im Sinne von Engels‘ Beitrag zurückführt. Stefan Gorißen widmet sich der Korruption bei der Eintreibung indirekter Steuern im friderizianischen Preußen, und schreibt das mangelnde Interesse an deren Bekämpfung einem Staatsverständnis zu, in dessen Zentrum nicht das materielle Wohlergeben der Untertanen gestanden habe, sondern der außenpolitische Ruhm des Fürsten. Matthias Braasch wiederum befasst sich mit „Wirtschaftskorruption“ aus strafrechtlich-kriminologischer Perspektive und attestiert Unternehmensführungen in Deutschland eine „verhängnisvolle Doppelmoral“ und der hiesigen Korruptionsbekämpfung erheblichen Nachholbedarf. Zudem findet sich in dieser Sektion der Wiederabdruck eines Artikels von Philip Harling aus dem Jahr 2003.

Der letzte thematische Block nimmt das Spannungsfeld von Obrigkeitskritik und Herrschaftslegitimation in den Blick. Sebastian Knake untersucht Bestechung bei der Wahl zum römisch-deutschen König, die beispielsweise in der Verpfändung von Reichsgut an die Kurfürsten ihren Ausdruck fand, was nach Knake auch in den Augen der Zeitgenossen eindeutig illegitimen Charakter hatte. Niels Grüne plädiert aus kommunikationsgeschichtlicher Perspektive für eine Kontextualisierung von Korruptionsvorwürfen. Anhand von drei Fallstudien zeigt er, dass eine Häufung solcher Vorwürfe keine reale Zunahme korrupter Handlungen im jeweiligen Umfeld widerspiegelte, sondern vielmehr als Teil von Elitenkonflikten zu deuten ist, in denen es letztlich um politische Teilhabe ging. Katia Béguin bietet eine neue Interpretation der Proteste der Inhaber französischer Schuldentitel („Rentiers“) während der Fronde an, in denen sie eine „spezifische Korruptionskonzeption“ ausmacht, welche die Verletzung der Repräsentationspflicht seitens der Pariser Stadtverwaltung anprangerte. Antoon D. N. Kerkhoff, Michel P. Hoenderboom, D. B. Ronald Kroeze und F. Pieter Wagenaar schließlich schlagen einen „neo-klassischen“ Ansatz im Sinne des Politikwissenschaftlers Michael Johnston vor und erproben ihn an zwei kurzen Fallstudien.

Der vorliegende Band ist überaus facetten- und lehrreich, und es ist ein besonderes Verdienst der Herausgeber, dass er sowohl epochenübergreifend als auch interdisziplinär angelegt ist. Probleme ergeben sich denn auch vor allem da, wo die Autoren harte Epochengrenzen vertreten und historische Teildisziplinen ignoriert werden. So kann Engels’ für den politischen Bereich erarbeitete Modernisierungsthese nicht ohne weiteres verallgemeinert werden, da bereits das römisch-kanonische Recht und die Gesetzgebung des Mittelalters sowohl einen ziemlich „modernen“ Amtsbegriff als auch, vornehmlich in Bezug auf das Justizwesen, einen amtsorientierten Korruptionsansatz beinhalten. Aus demselben Grund ist es auch nicht nötig, wie Simona Slanička eine moral economy zur Erklärung „moderner“ Korruptionsnormen in spätmittelalterlichen Fürstenspiegeln anzuführen. Dass die Interdisziplinarität des Bandes ausgerechnet vor der Rechtsgeschichte Halt macht, ist nicht recht verständlich und ein klares Defizit. Diese ist nämlich trotz ihres Bemühens, neben Brüchen auch Kontinuitäten aufzuspüren, keineswegs blind für die Wahrnehmung der Zeitgenossen, wie Stefan Ehrenpreis meint, und wer aprioristisch solche Kontinuitäten ausschließt, trägt nur scheinbar zu einer Historisierung des Phänomens bei. Es ist selbstverständlich richtig, kein „essentialistisches“ und überzeitliches Korruptionsverständnis anzunehmen, doch muss gerade beim Phänomen Korruption sehr genau zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen differenziert werden, die sich nicht zwangsläufig durch die Kategorien „Vormoderne“ und „Moderne“ ordnen lassen.

Im Hinblick auf den gewählten Ansatz weist der Band eine außergewöhnliche Stringenz auf und wird seinem Anspruch, die Bedeutung und Wirkung von Korruptionsdiskursen aufzuzeigen, völlig gerecht. Diese Stringenz ist jedoch zugleich auch eine Schwäche des Bandes. Dass Korruption vor allem als kommunikative Praktik erscheint, liegt nicht zuletzt daran, dass beinahe ausschließlich Institutionen und Angehörige von Eliten untersucht werden, unter denen der Kampf um die politische Macht besonders virulent war, was auch zu einer verstärkten Politisierung von „Korruption“ in den Auseinandersetzungen führte. Aber ist es möglich, dass Korruption als Diskurs über mehrere Jahrhunderte wirksam war, ohne dass die Devianzzuschreibungen eine Grundlage auch in der Praxis besaßen, die solchen Vorwürfen ihre Durchschlagskraft verlieh? Über den Umgang mit Korruption abseits der Zentralen erfährt man in diesem Band wenig. Die in mehreren frühmodernen Gemeinwesen verbreitete Praxis, die Verwaltung und Rechtsprechung des Territoriums ortsfremden Amtsträgern anzuvertrauen, die zudem auf verschiedene Weisen überwacht und zur Rechenschaft gezogen werden konnten, spricht zumindest für das Bemühen, Klientelismus zu unterbinden und eine sachgerechte Amtsführung im Rahmen definierter Kompetenzen sicherzustellen. Damit soll die Bedeutung der Korruptionsdiskurse keineswegs in Zweifel gezogen werden, und der Band bietet diesbezüglich wichtige und grundlegende Erkenntnisse. Doch sind die Diskurse nur ein Teil der Geschichte der Korruption.

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