A. Lisiak: Urban Cultures in (Post)Colonial Europe

Cover
Titel
Urban Cultures in (Post)Colonial Central Europe.


Autor(en)
Lisiak, Agata Anna
Reihe
Comparative Cultural Studies
Erschienen
West Lafayette 2010: Purdue University Press
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Schalenberg, Center for Metropolitan Studies, Technische Universität Berlin

Gleich vier ostmitteleuropäischer Hauptstädte nimmt sich Anna Agata Lisiak in der aus ihrer Dissertation hervor gegangenen kulturwissenschaftlichen Untersuchung an: Warschau, Budapest, Prag und (ganz überwiegend Ost-)Berlin, in ihren Transformationen seit dem Umbruch von 1989/90. Als Ergebnis konstatiert die Autorin ein „Dazwischen“, einerseits in Bezug auf die „in-between peripherality“, wie sie namentlich von Steven Tötösy de Zepetnek, dem Herausgeber der vorliegenden Schriftenreihe, postuliert worden ist; andererseits auf die (nicht nur) kulturelle Prägung der genannten Städte durch die beiden „Kolonisatoren“ Sowjetunion und die eng mit Kapitalismus und Globalisierung verbundene westliche Welt. An die temporale Verschiebung beider Potenzen bei partiellen Überlappungen, zumal urbanistischen und lebensgeschichtlichen, soll das von Lisiak konsequent in Klammern gesetzte Präfix „post“ erinnern.

Die klug komponierte, flüssig geschriebene und gut lektorierte Studie stellt nach einer Einleitung zur theoretischen Verortung und einem Abriss der Entwicklung der vier untersuchten Kapitalen im 20. Jahrhundert die vor allem von den jeweiligen Stadtregierungen seit den 1990er-Jahren geprägten und medialisierten Images sowie signifikante Architektur- und Infrastrukturprojekte ausgewählten künstlerischen Repräsentationen der Städte in der zeitgenössischen Literatur und im Film gegenüber. Dass die darin zu verfolgenden Lesarten voneinander abweichen, mag vielleicht keine allzu große Überraschung sein, aber wie sie es tun, welche spezifischen Differenzen und Ähnlichkeiten zwischen den vier Hauptstädten auftraten, das ist doch ausgesprochen erhellend heraus gearbeitet. Der vergleichende Blick eröffnet neue Perspektiven, etwa denjenigen auf eine stärker medialisierte Widersprüchlichkeit und Zukunftsoffenheit Berlins und Warschaus im Unterschied zu eher Homogenität und vergangenen Glanz evozierenden Imagekampagnen in Prag und Budapest. Auch die Debatten um die Errichtung von Museen und Gedenkstätten mit geschichtspolitisch relevanten Inhalten, wie Lisiak sie referiert, gewinnen in der direkten Gegenüberstellung an Aussagekraft – wobei die Hauptstädte hier eher eine nationale Dimension offenbaren als eine ausschließlich kommunale.

Bei einer interdisziplinären Arbeit wie dieser bewegen sich die konsultierten Quellen, die zugrunde gelegte Literatur und die Berücksichtigung einschlägiger Forschungsdebatten notwendigerweise in gewissen Grenzen, und manche Passage kommt ein wenig enzyklopädisch daher. Dennoch werden zahlreiche Hauptthemen der neueren Stadtforschung – wie Tertiarisierung, Gentrifizierung, gated communities, Suburbanisierung oder urban tourism – angesprochen und durchaus problemorientiert auf ihre Erscheinungsformen in Ostmitteleuropa inklusive Berlin befragt. Unter Umständen hätte man sich einen noch stärker systematisierten, zum Beispiel auch statistisch unterlegten Vergleich gewünscht. So bleibt es bei der Evidenz einzelner, wichtiger Beispielfälle, welche die Autorin freilich mit großem Geschick, Differenziertheit und Sensibilität auszudeuten und einzuordnen versteht. Aus den grundsätzlich affirmativen Wappen, Logos und Touristenbroschüren der Städte zieht sie ebenso interessante Rückschlüsse wie aus den auch urbane Verwerfungen und persönliche Enttäuschungen nicht kaschierenden literarischen Stadtporträts und Filmsequenzen.

Den deutlich stärksten Akzent legt die Autorin unterdessen auf eine „(post)koloniale“ Deutung der von ihr beleuchteten Phänomene, wohlwissend, dass eine solche bislang eher im angelsächsischen Raum entwickelt und angewandt wurde als in den untersuchten Regionen selbst. Eine Relativierung oder gar Rehabilitierung der bankrotten sowjetischen Unterdrückungsmaschinerie liegt ihr dabei fern, und die qualitativen Unterschiede zum derzeitigen „Kolonisator“ liegen auf der Hand. Er ist offensichtlich vielschichtiger, flexibler und lässt auch konträre Aktivitäten und Lesarten zu. Er hat eine (west-)europäische, eine amerikanische und eine globale Ausprägung, mit einem breiten Spektrum an sozial- und wirtschaftspolitischen Instrumenten, medialen und kulturellen Ausdrucksformen, gerade auf städtischer Ebene. Eine tendenziell holistische und selber schon recht angegraute geschichtsphilosophische Analysekategorie wie „Spätkapitalismus“, die Lisiak weder durchgehend noch dogmatisch, aber doch erklärend bemüht, kann dem wohl kaum gerecht werden.

Wer wen wie kolonisiert – nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch innerhalb der Städte und der Transformationsgesellschaften – scheint bei näherem Hinsehen alles andere als klar. Letztlich müsste die in der Untersuchung oft selber subjekthaft auftretende „Stadt“ genauer aufgeschlüsselt werden nach Interessengruppen und -koalitionen, nach der Reichweite von Images und ihrem konkreten handlungsleitenden Potenzial. Auch die kulturellen Deutungen der städtischen Transformationen, wie sie in den Kapiteln 6 und 7 exemplarisch beleuchtet werden, wären vor dem Hintergrund einer breiteren Quellengrundlage auf ihre Repräsentativität zu hinterfragen. Würde sich das Bild beispielsweise aufhellen, wenn Fernsehserien, Plakate oder Werbeclips mit einbezogen würden, in denen die thematisierten Städte eher als Chiffren für Vielfältigkeit und Chancen stehen? Wie wären die verschiedenen kulturellen Umsetzungen von Stadtbildern quellenkritisch zu gewichten? Das wäre dann rasch eine andere, „historischere“ Arbeit, der möglicherweise der unbefangene, panoramatische Blick mit seinen vielfältigen Verknüpfungsmöglichkeiten abhanden käme, welcher Lisiaks Darstellung so anregend macht.

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