M. Goullet u.a. (Hrsg.): L'hagiographie mérovingienne

Cover
Titel
L'hagiographie mérovingienne à travers ses réécritures.


Herausgeber
Goullet, Monique; Heinzelmann, Martin; Veyrard-Cosme, Christiane
Reihe
Beihefte der Francia 71
Erschienen
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christofer Zwanzig, Department Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

In zahlreichen Beiträgen haben namentlich Monique Goullet und Martin Heinzelmann den Nutzen des aus den Sprachwissenschaften entlehnten réécriture-Ansatzes für hagiographische Forschungen aufgezeigt. Dass zu einzelnen Heiligenfiguren teils umfangreiche Dossiers mit Textbearbeitungen aus unterschiedlichen Zeitschichten vorliegen, eröffnet vielfältige Anwendungsmöglichkeiten zur differenzierten Bestimmung des Verhältnisses von Hypotext und Hypertext. Diesem Forschungsansatz verpflichtet, veröffentlicht der vorliegende Band verschiedene ausgearbeitete Vorträge eines im Jahre 2007 im Deutschen Historischen Institut zu Paris abgehaltenen Kolloquiums. Er schließt zugleich eine Trilogie von Sammelbänden ab, die im Umfeld des Projekts "Les sources hagiographiques composées en Gaule avant l‘an mil" das réécriture-Konzept für unterschiedliche hagiographische Quellencorpora erproben sollte.

Für den Untersuchungsschwerpunkt des vorliegenden Bandes, der Hagiographie der Merowingerzeit, scheint das Konzept der réécriture im mehrfacher Hinsicht gewinnbringend: Wie Martin Heinzelmann in seinem Panorama zur merowingischen Hagiographie verdeutlicht, müssen Forschungen zu diesem Thema mit einem grundsätzlichen Widerspruch zurechtkommen. Denn einerseits ergibt Heinzelmanns statistische Auswertung der "Bibliotheca Hagiographica Latina", dass man für 75 Prozent der in der Gallia verehrten Heiligen die Lebenszeit vor der Mitte des 8. Jahrhunderts datiert. Zugleich sind in den Dossiers der Heiligen Überlieferungslücken zu beklagen, so dass sich die merowingerzeitlichen Texte vielfach nur in späteren Handschriften erhalten haben oder in karolingischen Bearbeitungen einzelner Heiligenleben zu erkennen sind. Das Konzept der réécriture eröffnet in diesem Sinne vielfältige Möglichkeiten, sich den merowingischen Hypotexten zu nähern. Es kann so zur Rekonstruktion eines hagiographischen Quellencorpus beitragen, das – wie Heinzelmann aufzeigt – durch antike und orientalische Einflüsse geprägt war und wesentliche Beiträge zur Etablierung der Vorstellung vom ‚Martyrium ohne Blut‘ leistete. Darüber hinaus lassen sich insbesondere durch Einwirkungen von Königen und Klostergründern vielfältige Reflexionen einer zunehmenden Institutionalisierung und Hierarchisierung des Christentums erkennen.

Bereits in ihrer Einleitung verdeutlicht Monique Goullet freilich die Schwierigkeiten des gewählten Ansatzes, die merowingische Hagiographie mittels ihrer réécritures zu untersuchen. Der Begriff der merowingischen Hagiographie sei räumlich wie zeitlich kaum kohärent abgrenzbar. Selbst sprachliche Veränderungen seien weniger mit dem politischen Wechsel von Merowingern zu Karolingern als mit den Bestrebungen der sogenannten karolingischen Renaissance einhergegangen. Entsprechend unterschiedlich ist auch das Urteil der Beiträge des vorliegenden Bandes, welche Möglichkeiten sprachliche Kriterien für eine Datierung der Texte bieten. Besonders weitgehend ist der Ansatz Brigit Auernheimers, die am Beispiel der in vier Fassungen vorliegenden Vita Aviti die linguistischen Entwicklungen vom merowingischen Latein bis hin zum Latein nach den karolingischen Reformen aufzeigt. Anhand einer vergleichenden syntaktischen Analyse schlägt sie eine Datierung der Texte vor. Michel Banniard hingegen verdeutlicht in seinem Beitrag, welche sprachliche Bandbreite sich in der merowingischen Hagiographie bei diachroner Betrachtung bedingt durch unterschiedliche Kommunikationsziele selbst innerhalb ein und desselben Textes nachweisen lässt.
Neben dieser linguistischen und sprachgeschichtlichen Betrachtung zielen drei weitere Beiträge insbesondere auf formale Veränderungen der Texte durch réécritures ab. François Dobleau untersucht die Veränderungen von Prologen im Zuge von réécritures. Vor allem seine Unterscheidung nach der – teils sogar in zwei Prologe aufgeteilten – hagiologischen und der auf den Autor bezogenen Funktion der Vorrede ermöglicht es, Bereiche unterschiedlich intensiver Veränderung auszumachen. Prologe seien teils interpoliert oder schlicht fortgeführt worden; in vielen Fällen seien sie aber auch wegen ihrer offenbar geringeren Bedeutung bei der Lektüre gar nicht überliefert worden.

Auch Francesco Stella widmet sich nicht einem einzelnen Heiligendossier, sondern untersucht, welche Phänomene von réécriture sich im Zuge der Übertragung hagiographischer Texte in Versform nachweisen lassen. Neben wichtigen Ergebnissen zur Datierung einzelner Texte erweist sich dabei insbesondere seine Beobachtung als bedeutend, dass sich die Funktion der Texte in Prosaform zunehmend über den liturgischen Bereich hinaus gerichtet habe. Mit seiner Untersuchung zur Handschrift Cvp 420 der Österreichischen Nationalbibliothek aus dem Umfeld des Bischofs Arn von Salzburg erweitert Maximilian Diesenberger schließlich die Überlegungen zur Funktion von réécritures um eine zentrale Perspektive. Zwar wurden in der Handschrift überwiegend bereits vorhandene réécritures aufgenommen, die Texte also nicht mehr verändert. Diesenberger verdeutlicht jedoch, dass gerade die Anordnung den bereits durch frühere réécritures veränderten Heiligenleben eine weitere Bedeutungsdimension geben konnte. Die Handschrift Cvp 420 sei offenbar mit dem Ziel der Identitätsstiftung und "gedanklichen Neuordnung" des bayerischen Episkopats unter Führung des Salzburger Erzbischofs zusammengestellt worden.

Vier weitere Beiträge des Bandes gehen schließlich von einzelnen hagiographischen Dossiers oder bestimmten Autoren aus. Charles Mériaux stellt die drei Fassungen der Vita Gaugerici gegenüber und analysiert deren Entstehungskontexte, Abhängigkeit und Überlieferungsgeschichte. Stéphane Gioanni vergleicht in seiner Untersuchung die nahezu identischen Vitae Maximi und Virgilii. Weder der Begriff der réécriture noch der des Plagiats seien geeignet, das Verhältnis der Texte hinreichend zu beschreiben. Während der Begriff des Plagiats weder den Mirakelberichten noch den vom Bild des Mönchsbischofs inspirierten Ausführungen zur Verantwortung des Oberhirten für die Gläubigen gerecht werde, impliziere der Begriff réécriture eine zu große Entfernung zwischen beiden Texten. Stattdessen schlägt Gioanni den Begriff des remploi, also der Wiederverwendung, vor, die das Ziel der Einbettung des Virgilius in vorhandene hagiographische Traditionen hatte. Die mit dem réécriture-Ansatz verbundenen Begriffe diskutiert auch Christiane Veyrard-Cosme am Beispiel der Lebensbeschreibung des Maximin von Trier. Sei der Hypotext in Form einer Rede vor den Mönchen von St. Maximim abgefasst gewesen, schaffe die Überarbeitung durch Lupus von Ferrières mit vielfältigen Stilmitteln Distanz zum Hypotext und verändere so die textuelle Perspektive. In diesem Sinne könne weniger von einer réécriture des Hypotextes, sondern eher von dessen "transsubstantiation" die Rede sein. Auch Julia Smith kommt bei ihrer Untersuchung zu réécritures durch Hucbald von Saint-Amand zu dem Schluss, dass bei seinen Umarbeitungen der jeweilige Hypotext dem Ziel eines "projet d’édification" untergeordnet wurde, welches die Herausarbeitung der theologischen, historiographischen und moralischen Bedeutung des jeweiligen Heiligen erforderte.

Gerade die in den Beiträgen greifbaren unterschiedlichen Zugriffe auf sprachliche Kriterien zur Datierung von Hypotexten, aber auch unterschiedliche Zugänge zum réécriture-Konzept hätten eine zusammenfassende Diskussion der Beiträge am Ende des Bandes sicher lohnend gemacht. Hervorzuheben bleibt, dass der Band mit einem Verzeichnis der Handschriften und einem Index der behandelten Heiligen auch durch ausführliche Anhänge – teils mit synoptischen Gegenüberstellungen der untersuchten Quellen – für künftige Forschungen überaus wertvolles Material an die Hand gibt.