Titel
Sozialismus in Xinjiang. Das Produktions- und Aufbaukorps in den 1950er Jahren


Autor(en)
Neddermann, Hauke
Reihe
Berliner China-Studien 48
Erschienen
Berlin 2010: LIT Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva-Maria Stolberg, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Hauke Neddermann leistet mit seiner Magisterarbeit, die in der renommierten Reihe „Berliner China-Studien“ erschienen ist, einen lobenswerten Beitrag zum Trend in den „border studies“, Theorie und Empirie zu verbinden.1 Die Erforschung außereuropäischer Grenzregionen unter dem Aspekt nationaler, ethnischer und sozialer Identitätsstiftung stellt in der deutschen Geschichtswissenschaft – gerade auch im Unterschied zur auf Europa bezogenen Thematik – ein Desiderat dar. Neddermanns Studie bietet mit dem Fallbeispiel Xinjiangs, Chinas nordwestlicher Grenzregion, einen guten Einstieg.

Xinjiang ist keineswegs ein marginaler Teil Zentralasiens. Gemeinsam mit Tibet besitzt es eine militärstrategische Bedeutung für die Volksrepublik China. Aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht kommt dieser Grenzregion eine wichtige Rolle zu: Hier gibt es unter anderem reiche Erzvorkommen, Erdöl- und Erdgaslagerstätten. Das gespannte Verhältnis zwischen muslimischen Uiguren und Han-Chinesen sorgt (neben Tibet) immer wieder für Schlagzeilen in den Medien – ein Grund mehr, sich unter historischen Gesichtspunkten der Grenzregion zu widmen. Bei westlichen Regionalstudien stand bisher vor allem die Ethnohistorie der Uiguren, ihre Verortung in der Geschichte Zentralasiens, im Vordergrund. Daneben konzentrierte sich die Forschung vor allem auf die politische Entwicklung Xinjiangs als Chinas „Neuer Grenze“ (xin jiang) in der Zeit von der Inkorporation in das Qing-Kaiserreich im späten 19. Jahrhundert bis zur Gründung der Volksrepublik China.2 Politische, wirtschaftliche und soziale Transformationsprozesse im Sozialismus wurden von Michael E. Clarke aufgegriffen, jedoch auf die Reformära Deng Xiaopings beschränkt.3 Die 1950er-Jahre fristen dagegen ein Schattendasein, in das nun Neddermanns Arbeit Licht wirft.

Die Arbeit basiert auf einem Forschungsaufenthalt des Autors an der Universität Shihezi im Jahr 2006/07. Shihezi ist heute ein wichtiger Standort der Öl- und Textilindustrie. In der chinesischen Presse wurde die Stadt 2004 als „Shining Pearl in the Gobi desert“ und als Symbol modernen chinesischen Fortschritts gepriesen.4 Dies ist ein weiterer Grund dafür, den Ursprung dieses Fortschrittsparadigmas kritisch zu hinterfragen.

Die Geschichte des Industriestandortes Shihezi ist eng mit dem Produktions- und Aufbaukorps von Xinjiang (XJ PAK) verbunden. Neddermann spürt souverän der Frage nach, wie das XJ PAK als Akteur den chinesischen Sozialismus in die zentralasiatische, mehrheitlich von Muslimen bewohnte Region brachte. Den Bogen schlägt er von den 1950er-Jahren bis zur Beginn der „Kulturrevolution“ (1966-1976). Zwei Komplexe verbindet der Autor dabei miteinander: 1) die Strukturgeschichte Xinjiangs als Teil der gesamtchinesischen Modernisierung in der Konsolidierungsphase der jungen Volksrepublik China, 2) den Erinnerungsdiskurs der Teilnehmer des Produktions- und Aufbaukorps, dem Neddermann mit den Methoden der „oral history“ nachspürt. Diese Verbindung von „structural history“ and „oral history“ verleiht der Magisterarbeit einen klaren theoretischen Problemaufriss, ohne dabei an erzählerischer Lebendigkeit zu verlieren.

Anhand von Zeitzeugenbefragungen gelingt es Neddermann, den Mythos des Produktions- und Aufbaukorps und seiner „sozialistischen Helden“ zu dekonstruieren. Dabei geht der Autor von der Foucaultschen Prämisse aus, dass „in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses […] kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird“ (S. 16). Neddermann stellt die autobiografischen und staatstragenden Vergangenheitsdiskurse (letztere prägen die offizielle Propaganda und die chinesische Geschichtswissenschaft) zum XJ PAK vor. Die 1950er-Jahre standen unter dem Zeichen eines politischen, wirtschaftlichen und sozialen Voluntarismus. Ziel der Kommunistischen Partei war es, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der VR China innerhalb von 15 Jahren die der westlichen Industrienationen übertreffen sollte. Bei diesem Wettlauf sollten gerade auch die „rückständigen“ Peripherien wie beispielsweise Xinjiang (man könnte auch die Innere Mongolei nennen) auf Vordermann gebracht werden. Vor allem im unwirtlichen Norden sollte ein „Neues China“ entstehen. Vom maoistischen Regime wurde eine Euphorie, der Traum von einem „goldenen Zeitalter“, heraufbeschworen, was zweifellos nach den vielen Jahren des Bürgerkrieges und der inneren Zersplitterung eine optimistische Stimmung wecken sollte. In den nördlichen Grenzregionen wie Xinjiang stand das Regime noch vor einer weiteren Aufgabe: Eine zentralstaatliche Gewalt musste erst aufgebaut werden, nachdem hier bis 1944 Warlords ihre eigenmächtige Politik (oft in Zusammenarbeit mit der Sowjetunion) betrieben hatten. Garant für die dauerhafte Etablierung der chinesisch-kommunistischen Zentralgewalt mit ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ethnopolitischen Agenda sollte die Volksbefreiungsarmee werden. Bereits 1949 setzte im zivilen Bereich eine Militarisierung Xinjiangs ein (S. 48ff.). Die Volksbefreiungsarmee (VBA) als „Produktivarmee“ war der Kern eines militärisch-ökonomischen Komplexes. Unter dem Motto „die Natur verbessern, den Menschen neu formen“ (biàngé zìran, chóngsù rénlèi) wurde dem Brachland, den Wüsten und den Nomaden der Kampf angesagt (S. 57). Erschien zunächst der VBA-Soldat als „heldenhafter Pionier“, sollte sich der Kreis – wie Neddermann am Beispiel des Produktions- und Aufbaukorps aufzeigt – bald auch auf Zivilisten ausweiten, was das weite Ausgreifen der Militarisierung der Gesellschaft (nicht nur an der Grenze) verdeutlicht. Dem vollmundigen Ausdruck von der „Produktionsfront“ standen jedoch eklatante Versorgungsengpässe gegenüber. Der Umgang mit Kapital und Produktionsgütern war sorglos (S. 66ff.). Der Appell an die revolutionären Tugenden wie Willenskraft, Tapferkeit, Beharrlichkeit, Opferbereitschaft, Selbstlosigkeit, Erfindergeist sollte von diesen Mängeln im System ablenken. Der militärische Charakter kam auch in den Termini wie „landwirtschaftliche Aufbaudivisionen“, „Baudivisionen“ etc. zum Ausdruck. Das Resultat dieser Politik waren schwere Einbrüchen in der Getreide- und Baumwollproduktion, mit der Folge, dass der Lebensstandard in der Region sank. 1958/59 war Xinjiang auf staatliche „Rettungspakete“ angewiesen (S. 127). Die Erinnerung an diese sehr turbulente Zeit fällt heute für die ehemaligen Mitglieder des XJ Produktions- und Aufbaukorps sehr ambivalent aus: Einige verklären nostalgisch ihre Pionierarbeit als eine Art „chinesisches Wirtschaftswunder“ der 1950er-Jahre, andere stellen den Hunger und die Entbehrungen, die Trennung von der Familie in den Vordergrund. Manche verbinden auch beides und betonen den „Stolz auf ein schmerzerfülltes Leben”. Offensichtlich gelang es dem Regime nicht durchgängig, den Diskurs im Foucaultschen Sinne zu kanalisieren. Bei den Interviewten besteht zudem der Tenor, dass die jüngere Generation der Enkel sich kaum noch für die Geschichte des XJ Produktions- und Aufbaukorps interessiere. Neddermann kommt zu dem Schluss, dass es sich bei den Korps-Mitgliedern um eine „Erinnerungsgemeinschaft“ handelt, die in die Jahre gekommen ist und ihr bald naturgemäß nur noch ein musealer Wert zukommen wird. Tatsächlich hat das Pekinger Regime schon Vorsorge geschaffen durch die Einrichtung eines „Museums des XJ PAK und der Landreklamation” mit einer Ausstellungsfläche von 9.700 Quadratmetern (S. 214). Der propagierte und teilweise auch erlebte Pioniergeist des XJ Produktions- und Aufbaukorps ähnelt in mancher Hinsicht dem Enthusiasmus der Baubrigaden in der DDR und Sowjetunion, die ja gleichermaßen als Träger von Modernisierung und Verteidigung des Sozialismus fungierten.5 Von daher lädt die vorliegende Studie sicherlich auch zu vergleichenden Überlegungen an.

Anmerkungen:
1 Donan Hastings / Thomas M. Wilson, Borders. Frontiers of Identity, Nation, and State, Oxford 2001; William Zartman, Understanding Life in Borderlands. Boundaries in Depth and Motion, Athens 2010; Eeva-Kasa Prokkola, Unfixing Borderland Identity. Border Performances and Narratives in the Construction of the Self, in: Journal of Borderland Studies 24 (2009), H. 3, S. 21-38.
2 Beispielsweise Ildikó Bellér-Hann, Community Matters in Xinjiang, 1880-1949. Towards a Historical Anthropology of the Uighur, Leiden 2008; James A. Milward, Eurasian Crossroads. A History of Xinjiang, London 2006.
3 Michael E. Clarke, Xinjiang in the „Reform Era“, 1978-1991. The Political and Economic Dynamics of Dengist integration, in: Issues & Studies, 43 (2007), H. 2, S. 39-92.
4 Shihezi a ‚Shining Pearl in the Gobi Desert‘, <http://www.china.org.cn/english-/2004/Oct/108620.htm> (07.11.2010).
5 Klaus Froh, Chronik der NVA, der Grenztruppen und der Zivilverteidigung der DDR 1956-1990, Berlin 2010; Thomas Reichel, „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben“. Die Brigadebewegung in der DDR (1959-1989), Berlin 2010; Christopher J. Ward, Brezhnev’s Folly. The Building of BAM and Late Soviet Socialism, Pittsburgh 2009.

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