E.U. Pirker u.a. (Hrsg.): Echte Geschichte

Cover
Titel
Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen


Herausgeber
Pirker, Eva Ulrike; Rüdiger, Mark; Klein, Christa; Leiendecker, Thorsten; Oesterle, Carolyn; Sénécheau, Miriam; Uike-Bormann, Michiko
Reihe
Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen / History in Popular Cultures 3
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sara Jones, Department of German, University of Bristol

In der postmodernen Welt der Simulation und Digitalität ist der Begriff der „Authentizität“ einerseits fragwürdig geworden. Andererseits hat die Sehnsucht nach „authentischen“ Erfahrungen im 21. Jahrhundert nicht nachgelassen, sondern ist sogar stärker geworden.1 Dieses Phänomen ist besonders in populären Geschichtskulturen ersichtlich: Historische Museen, Filme und Romane, autobiographische Texte, Reenactments und Living-History-Serien erleben spätestens seit den 1990er-Jahren eine Konjunktur. In Anlehnung an Siegfried J. Schmidt versuchen die Autorinnen und Autoren dieses Bandes die besonderen „Authentizitätsfiktionen“2 und Authentifizierungsstrategien ausgewählter Produkte und Artefakte verschiedener Geschichtskulturen zu ermitteln. Der Band liefert auf diese Weise einen interdisziplinären und intermedialen Ansatz zwischen der populären Suche nach „echter Geschichte“ und der unausweichlichen Medialisierung der Vergangenheit in der postmodernen „Medienkulturgesellschaft“.3

In der Einführung skizzieren Eva Ulrike Pirker und Mark Rüdiger das zentrale Anliegen des Bandes: die Frage nach dem „‚Wie‘ der Darstellungen von Geschichte“ (S. 12). Sie kontrastieren die auf dem Ideal der Objektivität basierende Authentizität der Geschichtswissenschaft mit dem existenziellen Authentizitätsverständnis in der Philosophie und Kunstgeschichte sowie der wertneutralen Verwendung des Begriffes in der Psychologie und der politischen Anwendung des Konzepts in den postkolonialen Debatten (S. 14ff.). Pirker und Rüdiger argumentieren, dass es in populären Geschichtskulturen zwei dominante Formen der Authentizität gebe: das authentische Zeugnis und das authentische Erlebnis (S. 17). Die Wechselwirkung zwischen diesen dominanten Modi – in Verbindung mit der Multimedialität populärer Geschichtsdarstellungen – erweist sich als relevant für den ganzen Band.

Marco Kircher und Henje Richter untersuchen die Konstruktion von Authentizität in musealen Darstellungen der Vergangenheit. Kircher fokussiert seine Analyse auf die Berliner Ausstellung „Babylon: Mythos und Wirklichkeit“ sowie die Züricher Ausstellung „Tutanchamun: Sein Grab und die Schätze“ (beide von 2008). Er zeigt, dass die Babylon-Ausstellung klassische Techniken der mit einem Objektivitätsanspruch verbundenen Authentizität verwendet. Die Tutanchamun-Ausstellung bot hingegen eine Art „Edutainment“ (S. 42); sie vermittelte dem Publikum eine kognitive und zugleich eine körperliche Erfahrung. Richter stützt sich auf Ansätze aus der Fetischtheorie, um „die paradoxe Inszenierung von Objekten als ‚authentisch‘“ zu erhellen (S. 47). Er argumentiert, dass Besucher der „Echtheit“ von Museumsobjekten eine hohe Bedeutung beimessen, aber gleichzeitig deren Inszenierung erkennen und akzeptieren.

In seinem Beitrag über „vormoderne Ritualität im Geschichtsunterricht“ meint Tim Neu, dass SchülerInnen im Nachstellen von Ritualen „faktisch nur ihre eigenen Erfahrungen im Rahmen der Ritualdarstellung beobachten“ (S. 62); dennoch führten die im Prozess des Nachstellens wirksamen Authentizitätsfiktionen dazu, dass die SchülerInnen diese Erfahrungen als die Erfahrungen historischer Figuren verstehen würden. Daniel Schläppi untersucht auch die gemeinschaftsbildende Funktion von als authentisch wahrgenommenen Ritualen in bürgerlichen Gruppenverbänden – Rituale, die allerdings auf „invented traditions“ beruhen (S. 252).

Mehrere Autorinnen und Autoren betrachten in ihren Beiträgen die verschiedenen Authentifizierungsstrategien in filmischen Darstellungen der Geschichte. Christian Heuer bespricht die Verwendung von Ego-Dokumenten in Historienfilmen, wie zum Beispiel in Oliver Hirschbiegels und Bernd Eichingers „Der Untergang“ (2004). Er zeigt, dass der „Verweis auf […] Ego-Dokumente im filmbegleitenden Medienverbund“ den Spielfilm als „Medium historischer Wahrheit“ inszeniert (S. 79) und als „Authentizitätssignal“ verstanden werden kann. Achim Saupe analysiert auf ähnliche Weise verschiedene Authentizitätseffekte in filmischen und literarischen Geschichtskrimis. Er belegt, wie dieses Genre, das „in einem Grenzbereich zwischen fiction und non-fiction angesiedelt“ ist, mit verschiedenen Authentifizierungsstrategien die fiktive Welt „mit der Wirklichkeit verschränkt“ (S. 175).

In ihrer Analyse von Authentizitätseffekten in Dokumentar- und Unterrichtsfilmen argumentiert Miriam Sénécheau, dass archäologische Funde eine authentifizierende Funktion erfüllen können. Die Objekte werden, wie Sénécheau zeigt, in ein vereinfachendes und dramatisiertes Narrativ eingebettet, das bereits existierende Geschichtsvorstellungen bestätigt. In seinem Beitrag zur britischen „Histosoap“ „The Tudors“ (Showtime, 2007) stellt Jonas Takors fest, dass diese Serie bewusst auf den Authentifizierungseffekt des ikonischen Bildes verzichtete; es mussten stattdessen aber andere Authentifizierungsstrategien verwendet werden (zum Beispiel Kulissen, Kostüme), die „eine Vergangenheit heraufbeschwören, zu deren Charakteren und Lebenswelt die Zuschauer leichten Zugang finden“ (S. 221). Durch eine Analyse der Zuschauerreaktion auf die Sendung demonstriert Takors jedoch, dass mindestens ein Teil des Publikums zwischen Fiktion und Geschichte unterscheiden kann und die Zuschauer „keineswegs nur passive Konsumenten“ sind (S. 228).

Die Aufsätze von Christa Klein und Anja Schwarz behandeln die Rolle von Authentizität in „Living-History-Serien“. Klein argumentiert, dass das Format der Sendung „Die Bräuteschule 1958“ (ARD, 2007) Geschichte als „gegenwärtige Auseinandersetzung mit Vergangenheitsaspekten inszeniert“ (S. 123) und in diesem Sinne zur Wahrnehmung von gegenwärtigen Realitäts- und Identitätsentwürfen als „keineswegs essentiell“ führen könnte (S. 136) – ein Potenzial, das allerdings in den Zuschauerreaktionen nicht realisiert werde. Schwarz analysiert auf ähnliche Weise das australische TV-Reenactment „Outback House“ (ABC, 2005). Sie zeigt, dass historische Reenactments behaupten, einen körperlichen, unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit anzubieten, der den Teilnehmern den Eindruck vermittelt, diese Vergangenheit wirklich erlebt zu haben. Eine derartige Beschäftigung mit der australischen Kolonialgeschichte hat auch eine wichtige politische Dimension, da sich laut Schwarz die nicht-indigenen Teilnehmer in einem Prozess des „Re-fixing“ (S. 244) positiv in die Geschichte Australiens einschreiben. Mark Rüdiger stellt noch eine weitere Form der Geschichtsdarstellung im Fernsehen vor: das vierteilige Fernsehspiel „Was wären wir ohne uns“ (Regie: Ulrich Schamoni, 1979), eine „Mischung aus Fernsehspiel und Unterhaltungsshow“ (S. 147). Rüdiger analysiert die Verwendung von Authentizitätsbegriffen in der Rezeption dieser Sendung, um zu zeigen, „ob und warum die Repräsentationen ‚historisch‘ wirkten“ (S. 149).

Thorsten Leiendecker, Karolin Viseneber und Phillipp Schulte widmen sich schließlich Authentizifierungsstrategien in künstlerischen bzw. literarischen Produkten. Leiendecker untersucht die Rolle und Funktion von Authentizitätseffekten in fiktiven Texten, die der Frage nach dem „echten Shakespeare“ nachgehen. Viseneber analysiert literarische Texte, die das Thema der verschwundenen Opfer der argentinischen Militärdiktatur behandeln. Sie fragt, „inwieweit literarische Texte und die damit verbundenen narrativen Strategien als Produzenten von Erinnerungsdiskursen interpretiert werden können“ (S. 270). Schulte nimmt die Arbeit der von Walid Raad geleiteten „Atlas Group“ unter die Lupe. Dieser libanesische Medien- und Performancekünstler schafft Authentizitätsfiktionen durch die Darstellung seiner Arbeit in Form eines Archivs oder eines wissenschaftlichen Vortrags. Gleichzeitig unterwandert er die Authentizität seiner Tätigkeit und weist auf deren Konstruiertheit hin. Auf diese Weise stellt er hegemoniale Geschichtsdeutungen in Frage, die auf ähnlichen Authentifizierungsstrategien basieren.

Insgesamt bietet der Band sehr gute und zeitgemäße Aspekte zum Thema „Authentizität“, das, wie die Autorinnen und Autoren detailliert zeigen, in populären Geschichtsdarstellungen von zentraler Bedeutung ist. Eine besondere Stärke des Bandes sind die Interdisziplinarität sowie die Betrachtung verschiedener Medien und ihrer jeweiligen Authentifizierungsstrategien. Die Beiträge zeigen etwa, dass die physische Erfahrung in der Inszenierung von Authentizität eine besondere Rolle spielt. Nicht nur in musealen Darstellungen, sondern auch in Living-History-Serien, Reenactments und sogar in der Literatur wird Geschichte angeblich am besten am eigenen Leibe erlebt.4 Diese körperliche Erfahrung ist oft mit einer Vereinfachung historischer Ereignisse oder Epochen verbunden, die gängige Geschichtsvorstellungen und Klischees bestätigt – ungeachtet wissenschaftlicher Gegenbeweise. Der Sammelband leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Darstellung von Geschichte in der populären Kultur. Zu bemängeln ist lediglich das Fehlen eines zusammenfassenden Schlusskapitels, das diese Gemeinsamkeiten für die Leserinnen und Leser nochmals hätte bündeln können.

Anmerkungen:
1 Vgl. als Überblick Achim Saupe, Authentizität, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, URL: <http://docupedia.de/zg/Authentizit.C3.A4t?oldid=75505> (11.2.2011).
2 Siegfried J. Schmidt, Lernen, Wissen, Kompetenz, Kultur. Vorschläge zur Bestimmung von vier Unbekannten, Heidelberg 2005.
3 Ders., Die Koppelung von Kommunikation und Kognition, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 55-72, bes. S. 55.
4 Vgl. Alison Landsberg, Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture, New York 2004.