D. Döring: Deutsche Gesellschaft Leipzig

Cover
Titel
Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds


Autor(en)
Döring, Detlef
Reihe
Frühe Neuzeit 70
Erschienen
Tübingen 2002: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 68.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Till M.A.

Um es gleich vorweg zu sagen: Dies ist ein wichtiges Buch. Das mag aus dem auf den ersten Blick vielleicht wenig attraktiven Titel nicht hervorgehen. Doch Dörings Studie erhellt ein zentrales Kapitel der Sozial- und Institutionengeschichte der frühen Aufklärung, das in den letzten fünfzig Jahren praktisch überhaupt nicht erforscht wurde.

Worum geht es? Döring untersucht die sogenannten 'Deutschen Gesellschaften' des frühen 18. Jahrhunderts am Beispiel der durch den 'Literaturpapst' Johann Christoph Gottsched bekannt gewordenen Leipziger Sozietät. Die 'Deutschen Gesellschaften' sind ein wichtiger Typus der Aufklärungsgesellschaften: Teils knüpften sie an die sprach- und fremdwortpuristischen Ziele der barocken Sprachgesellschaften an, verfolgten jedoch vorrangig das Ziel, die deutsche Literatur in gebundener und ungebundener Rede zu verbessern. Dazu gehörte auch der Plan einer Erarbeitung eines deutschen Wörterbuchs nach dem Vorbild der französischen 'Académie', der allerdings nie realisiert wurde. Das unmittelbar praktische Ansinnen und die lokale Organisationsform unterscheiden die 'Deutschen Gesellschaften' von den dezentral organisierten Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, als deren Nachfolger die Forschung sie vielfach verstanden hat. Döring korrigiert diese Ansicht ebenso wie viele ungesicherte Behauptungen über die Ziele der Leipziger 'Deutschen Gesellschaft' und die - von der älteren Forschung meist dominant gesehene - Rolle Gottscheds in seinem Forschungsbericht (S. 1-20).1 Döring führt die unbefriedigende Forschungslage auf die ungünstige Quellensituation zurück: Das Archiv der Leipziger ist verschollen, Mitgliederverzeichnisse und sonstige Unterlagen, die die Tätigkeit der Gesellschaft in ihrer Frühzeit dokumentieren könnten, gehören zu den Kriegsverlusten und sind in Form älterer Editionen nur noch teilweise greifbar (S. 21-23). Erhalten ist die Bibliothek der Gesellschaft; sie wird heute in der Universitätsbibliothek Leipzig aufbewahrt. Erstmals macht Döring Gottscheds fast vollständig erhalten gebliebenen Briefwechsel zugänglich. Die Ausschnitte und Zitate, die er uns im Gang seiner Untersuchung mitteilt, stellen mit das eigentliche Ereignis dieses Buches dar; sie lassen uns ungeduldig auf die ersten Bände des Gottsched-Briefwechsels warten, dessen Edition seit 2000 von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig vorbereitet wird (vgl. S. XI).2

Was das Buch im wesentlichen bietet, ist eine Darstellung der 'frühen' Geschichte der Deutschen Gesellschaft seit ihrer Gründung 1697 (als 'Görlitzische Poetische Gesellschaft') bis zu den ersten Jahren des 'Seniorats' von Gottsched (um 1730), der die Leipziger Gesellschaft gründlich reformiert und ihren Bekanntheitsgrad deutlich mehrt. Für die weitere Geschichte der Gesellschaft bis zum Austritt Gottsched (1738) und ihrem nachfolgenden Absinken in die Bedeutungslosigkeit annonciert der Verfasser vorsichtig einen zweiten Band (S. XII).

Die Gliederung des Buchs folgt chronologisch den wichtigsten Entwicklungsstadien der Gesellschaft. Vier junge Studenten aus Görlitz gründeten am 3. Januar 1697 die Gesellschaft, die zu Beginn in erster Linie ein Freundschafts- und Geselligkeitsbund von dichtenden Studenten mit dem Ziel des gegenseitigen Austauschs und der Konversation war (S. 48; vgl. auch S. 51 Anm. 23).3 Nimmt man die immer wiederkehrenden Motive 'Fest', 'Musik' und 'Gesang' (S. 52) als Spiegel der tatsächlichen Verhältnisse, dann scheint es in Leipzig in dieser Frühzeit durchaus vergnüglich zugegangen zu sein. Ob diese gesellige Lyrik allerdings tatsächlich als 'Anakreontik' zu bezeichnen wäre (vgl. S. 52), oder nicht eher aus den Motiv-Reservoir der 'Galanten Lyrik' um 1700 schöpft, bleibe dahingestellt.4 Neben dem reinen Vergnügen dient das Dichten aber auch ganz pragmatischen Zwecken; es stellte eine "notwendige Fähigkeit oder Fertigkeit für das Fortkommen im gesellschaftlichen Leben" dar, "über die jeder Hochschulabsolvent wenigstens ansatzweise verfügen mußte." (S. 53) Darunter sind in erster Linie die verschiedenen Typen des Gelegenheitsgedichts, wie Hochzeits-, Begräbnis- oder auch Taufgedichte zu verstehen (vgl. auch S. 79f.).5 Döring ordnet dieses frühe Poeten-Kollegium in die Tradition studentischer Gesellschaftsgründungen im 17. Jahrhundert ein und stellt die Variabilität der Gesellschaftstypen am Beginn des 18. Jahrhunderts heraus (S. 55-57): Es gab in Leipzig noch andere - konkurrierende? - Sozietäten, wie die 'Schmidische Rednergesellschaft' oder das 'Große Predigerkolleg'. Alle diese Gesellschaften zielten auf die ganz praktische Verbesserung der Rhetorik der Studierenden - ein Aspekt, der in Dörings letztlich doch literaturzentrierter Darstellung (vgl. S. 77-109) eindeutig zu kurz kommt.6

Stammten die Mitglieder der 'Görlitzer Poetischen Gesellschaft' zu Beginn des Jahrhunderts in der überwiegenden Mehrzahl aus den beiden Lausitzen und aus Schlesien (S. 61), so veränderte sich die Mitgliederstruktur der Gesellschaft nach mehreren Krisen seit 1711/1712 (S.121) tiefgreifend. Ihr neuer 'Praeses' wird 1717 der angesehene Johann Burkhard Mencke, der die Gesellschaft regional öffnet und in ihrer Zielsetzung umorientiert: "Erweitert wird schließlich auch die bisherige Ausrichtung der literarischen Produktion: Neben der Poesie wird jetzt das Verfassen von Prosastücken zugelassen, um durch solche Übungen die Mitglieder, wie es ganz pragmatisch heißt, 'viel mehr in Kirchen, Schulen und Regiment applicable' zu machen." (S. 122) Zusammen mit Christian Clodius - der treibenden Kraft beim Aufbau der Bibliothek der Gesellschaft (S. 165, S. 177-189) - ist Mencke für diese Umgestaltung der nun 'Teutschübende Poetische Gesellschaft' genannten (S. 167) Vereinigung verantwortlich. Mit Beginn der 1720er Jahre steht die Gesellschaft deshalb erneut gestärkt da. Dieses zunehmende Selbstwertgefühl zeigt sich jetzt in einer immer kritischer werdenen Haltung zur massenhaften Produktion von Casualgedichten (S. 193) - Gottsched, der 1724 nach seiner Ankunft in Leipzig sehr schnell als Mitglied in die Gesellschaft aufgenommen wird (S. 197), führt diese Linie später (vorsichtig abwägend) weiter (S. 213f., S. 261f.).

1725/26 gerät die Gesellschaft erneut in eine Krise, die Döring darauf zurückführt, daß die meisten Mitglieder mehr am geselligen Beisammensein als der Arbeit an Gedichten und Prosatexten interessiert waren (S. 206); auch scheint es innerhalb der Gesellschaft selbst unterschiedliche Meinungen über deren Ausrichtung gegeben zu haben (S. 210, S. 212f.). Aus diesem Kampf geht Gottsched 1727 letztlich als Sieger hervor: Unter seinem 'Seniorat' wird die Gesellschaft wiederum reformiert, was sich nicht zuletzt in der Formulierung neuer Statuten niederschlägt (S. 222). Das Schreiben von Gedichten tritt, wie Döring präzise herausarbeitet, in den Hintergrund - die Prosa wird von Gottsched mit pragmatischen Argumenten bevorzugt (S. 223); zudem werden Übersetzungen in der Folgezeit immer wichtiger (S. 252f.). Auch die Mitgliederstruktur verändert sich erneut, und immer mehr Adlige treten in die Gesellschaft ein. Döring interpretiert dies überzeugend im Kontext eines Programms, der Gesellschaft mehr öffentliche Bedeutung zu verleihen (S. 231). Sogar ein weibliches Mitglied - Christiane Mariane von Ziegler, eine Frau, die in Leipziger Kreisen einen durchaus zweifelhaften Ruf hatte - wurde aufgenommen.

Durch verschiedene literarische Projekte Gottscheds und seines Kreises tritt die 'Deutsche Gesellschaft' um 1730 "in einem breiten Umfang [...] publizistisch an die Öffentlichkeit" (S. 260). Im Kontext des sich anbahnenden 'Leipzig-Zürcher-Literaturstreits' gerät die Dichtung der 'Zweiten Schlesischen Schule' (u.a. Lohenstein und Hofmannswaldau) in ihr Visier; auch der Schlesier Johann Christian Günther, dessen Förderer der frühere Praeses Mencke in den 1720er Jahren noch war, wird von einem Gottsched-Anhänger kritisiert (S. 267f.). Auf der Grundlage von Handschriftenfunden kann Döring erstmals nachweisen, daß Gottscheds zuerst 1729 erschienene 'Critische Dichtkunst' - die einflußreichste Poetik der Frühaufklärung - im Kontext der Programmatik der 'Deutschen Gesellschaft' entstand und in (mindestens) einer Sitzung auch diskutiert wurde (S. 271). Arg schematisch fällt allerdings seine Charakterisierung der 'Critischen Dichtkunst' aus ("Etwas Geheimnisvolles wurde so auf die Ebene der handwerklichen Künste, des Machens, hinabgezogen, der mechanischen Anwendung von Regeln unterworfen.", S. 270); hier merkt man deutlich, daß der Verfasser kein Literaturwissenschaftler, sondern Historiker ist.7 Auch die 'Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit' (1732ff.), "die erste Fachzeitschrift für deutsche Literatur und Sprache" (S. 273), erweisen sich als ein Publikationsorgan der Gesellschaft - und weniger Gottscheds, wie dies in der Literatur (und von dem Leipziger Professor selbst) immer wieder dargestellt worden ist (S. 273-278). Auch hier revidiert die Studie einige hartnäckige Klischees. Das letzte Kapitel schließlich beschreibt die Versuche des Gottsched-Kreises, der Leipziger Gesellschaft überregionale Bedeutung zu verleihen. Die Mitglieder wollten an die Pariser 'Académie' anknüpfen und ihre Sozietät in eine dauerhafte und finanziell gesicherte Akademie umwandeln. Alle diese Pläne scheiterten (S. 281-295).

Um 1730 bricht die Studie bewußt ab. In einem kurzen Schlußkapitel zieht Döring ein Resümee und eröffnet einen Blick auf die Zukunft der 'Deutschen Gesellschaft'. Für ihren Untergang nach dem Austritt Gottscheds 1738 macht er letztlich den Leipziger 'Literaturpapst' selbst verantwortlich, der wegen seines kompromißlosen Charakters letztlich der falsche Mann für die Führung einer solchen Gesellschaft war (S. 305).

Ein Anhang mit bislang unedierten Quellentexten und ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis beschließen den Band. Detlef Döring hat eine interdisziplinäre Studie verfaßt, die eine Forschungslücke schließt und deren zahlreiche bio-bibliographische Exkurse das Buch vielfach zu einem Hand-Buch machen. Immer dort, wo literarhistorisches Spezialistenwissen gefragt ist, gerät der Autor aber an seine Grenzen. Das betrifft, wie gezeigt, die literarhistorische Einbettung und Deutung der poetischen Texte der Mitglieder der Gesellschaft ebenso wie der unreflektierte Umgang mit literarhistorischen Kampfbegriffen wie demjenigen des 'Schwulstes' (vgl. S. 73, S. 220, S. 273).

Anmerkungen
1 Übersehen hat Döring: Corinna Fricke: Die Deutschen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts - ein Forschungsdesiderat. In: Klaus D. Dutz (Hg.): Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert. Fallstudien und Überblicke. Münster 1993, S.77-98.
2 Kurzinformationen unter folgender URL: http://www.saw-leipzig.de/sawakade/3vorhabe/gotsched.html (29.10.02).
3 Vgl. dazu auch Emanuel Peter: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999.
4 Vgl. Alfred Anger: Literarisches Rokoko. Stuttgart 1962, S. 52ff. Anger läßt die eigentliche Anakreontik erst ab 1740 beginnen, betont aber zugleich, daß es sich bei der Anakreontik um eine Tradition frühneuzeitlicher Lyrik handelt, die insgesamt wenig trennscharfe Datierungen ermöglicht.
5 Döring hätte seine Argumentation hier an vielen Stellen durch einen Blick in die (von ihm leider nicht berücksichtigte) umfassende Studie von G. Grimm schärfer herausarbeiten können: Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 314ff., S. 426ff.
6 Hier fehlt auch wichtige Forschungs-Literatur, vor allem Irmgard Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. 2 Bde. Tübingen 1961, Bd. I, S. 304 (u.ö.). Über andere Rednergesellschaften im Umfeld Gottscheds informiert Berthold Grosser: Gottscheds Redeschule. Studien zur Geschichte der deutschen Beredsamkeit in der Zeit der Aufklärung. Diss. Greifswald 1932, S. 32ff.
7 Zu Gottscheds Poetik wiederum umfassend (auch zu ihrer philosophischen Grundlage): Grimm: Literatur und Gelehrtentum, S. 620ff.

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