F. Bezner u.a. (Hrsg.): Frühneuzeitliche Vergangenheitskonstruktionen

Cover
Titel
Zwischen Wissen und Politik. Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen


Herausgeber
Bezner, Frank; Mahlke, Kirsten
Reihe
Akademiekonferenzen 6
Erschienen
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Völkel, Historisches Institut, Universität Rostock

Dieser Sammelband geht auf eine gleichnamige Tagung zurück, die 2006 im Rahmen eines Heidelberger Akademieprojektes („Europa und das historische Imaginäre. Konstruktion von Vergangenheit als Raum des Politischen“) abgehalten wurde. Die Einleitung des Mitherausgebers Frank Bezner paraphrasiert die Thematiken der Einzelbeiträge nur und geht mutlos an der Frage einer ‚Zentralperspektive‘ für dieses weitgefächerte Spektrum von Vergangenheitskonstruktionen vorbei. Dafür sollte der Leser die Abbildung auf dem Cover etwas länger betrachten. Zu sehen ist Daumiers La veille des Thermopyles (Nachtwache bei den Thermopylen), 1842 als eine von 50 Karikaturen seiner berüchtigten Serie Histoire ancienne im Charivari erschienen. Die Wahl dieser Karikatur der ‚heroischen Nacktheit‘, wie sie David im Salon von 1814 mit Léonidas aux Thermopyles vorgeführt hatte, zum Emblem dieses Bandes kann kaum Zufall gewesen sein. Man wird zum Beschluss dieser Besprechung darauf zurückkommen müssen.

Möglichen Interessenten des Sammelbandes sei also geraten, sich nicht lange den Kopf über Zusammenhang und Interaktion der annoncierten ‚Leitbegriffe‘ Wissen, Politik, Archäologie, Genealogie und Vergangenheitskonstruktion zu zerbrechen, sondern sofort zum Inhaltsverzeichnis zu greifen. Hier zeigt sich schnell der eigentliche Wert des Bandes: Es handelt sich um ‚Werkstattberichte‘ bewährter Autorinnen und Autoren, die hier zum Teil sehr ansprechende Varianten ihrer Standardproblematiken geben. Hillard von Thiessen beschäftigt sich zuerst mit der „Anciennität in grenzüberschreitender Patronage“ im Nachgang zu seinen Forschungen zu den Verflechtungen zwischen Spanien und dem Kirchenstaat. Frank Bezner gibt mit „Pellegrino Prisciani und die Praxis der Historia“ eine Vorschau auf seine seit langem geplante große Untersuchung zur Ferrareser Geschichtsschreibung zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Cornel Zwierlein baut seine Studien zu den französischen Religionskriegen mit dem „Geschichtsgebrauch der Bartholomäusnacht des konfessionellen Zeitalters und der Aufklärung“ aus. Christian Schmitt-Kilb tut das Gleiche, wenn er seine Thesen zum Zusammenhang von Nationbuilding und Poetik im Tudor- und frühen Stuartengland mit Betrachtungen zu „Samuel Daniels Defence of Ryme und Edmund Spensers Shepheardes Calender“ fortsetzt.

Trägt diese erste Gruppe von Beiträgen den Sammeltitel „Politische Kommunikation – Legitimität – Identität“, so wendet sich der zweite Teil der „Medialität der Vergangenheit“ zu. Gabriela Schmidt behandelt hier „Thomas Mores History of King Richard the Third zwischen humanistischer Vergangenheitskonstruktion und autoreflexiver Skepsis“, eine schöne Ergänzung zu ihrem Werk Thomas More und die Sprachenfrage (2009).1 Florian Kläger analysiert „Historical Dialogues“ zur Irlandfrage in der Nachfolge seiner Studie zu den Forgone Nations und der elisabethanischen Identitätskonstruktion (2006).2 Claudia Wedepohl, Archivarin des Warburg Institute, verfolgt die Hinwendung der Franziskaner „Von der Erlösungsallegorie zur heiligen Historie“ in einer anspruchsvollen politisch-ikonographischen Abhandlung.

Im dritten Teil geht es um nicht weniger als das „Wissen um die Vergangenheit“. Benjamin Steiner kommt eingangs mit einer vertieften Version seines Opus tabellarum zum Wert von Geschichtstabellen als „Reservoire und Ordnungssysteme historisch-empirischen Wissens“ zu Wort. Helga Penz greift sich den Zusammenhang zwischen Archiv und Narration in Verfolg ihrer verzweigten Forschungen zum Archivwesen österreichischer Orden (Herzogenburg) heraus. Kai Bremer vervollständigt seine Arbeiten zur gelehrten Polemik und Kontroverstheologie mit Anmerkungen zu einem Lutherkommentar des Johannes Cochläus (1549). Der Romanist und Musikhistoriker Philipp Jeserich klärt das Verhältnis von „Geschichte und Geschichte der Dichtung in der französischen Renaissance-Poetik“. Andreas Urs Sommer endlich erweitert sein Opus Magnum zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant (2006) um einige Blicke auf die „französische Geschichtstheologie im späten 17. Jahrhundert“.3

Der vierte und abschließende Teil des Sammelbandes befasst sich mit dem „Alter der Neuen Welt“, sucht also das ‚Alte im Neuen‘. Arndt Brendecke verstärkt hier mit einem gediegenen Aufsatz zum „obersten Kosmographen und Chronisten Amerikas“ einen wichtigen Aspekt seiner Habilitationsschrift Imperium und Empire. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft (2009).4 Auch Roswitha Lucht setzt ihre andinen Forschungen fort mit einem Beitrag zur „Re-Konstruktion inkaischer Herrschaft in frühen Textquellen Perus“ (López de Jerez, Juan de Betanzo). Im letzten Beitrag wendet sich dann Franz Obermeier, Herausgeber der Warhaftigen Historia Hans Stadens, dem Bericht von dessen Zeitgenossen Ulrich Schmidel über die „Eroberung des La Plata-Raums“ zu.

Wie ist es nun um den Erkenntnis- und Wissensgewinn dieses Sammelbandes bestellt? Zwei Aussagen lassen sich sehr schnell treffen: 1. Dass es kaum eine Dissertation oder Habilitation gibt, die nicht ihr ‚Archiv‘ besäße. Von diesen Schätzen wird hier reichlich ausgeteilt. 2. Dass alle Beiträge aus bereits erprobten Forschungs- und Quellenkontexten stammen und somit für die jeweiligen Spezialisten mit Gewinn zu lesen sind.

Die dritte Frage ist wesentlich schwieriger zu beantworten. Was geschieht, wenn man alle diese Teilstücke nebeneinander legt und überlegt, welche Thematik, welche Methode, welcher Diskurs sie denn verbindet? Schnell stellt sich die vage Ahnung ein, es könnte so etwas wie ‚frühneuzeitliche Historiographiegeschichte‘ als gemeinsamen Nenner geben. Aber, und diese Gewissheit stellt sich ernüchternd schnell ein, hinter der Gesamtheit der für sich gelungenen Beiträge findet so gut wie keine übergreifende Reflexion statt. Der Grund dafür ist rasch gefunden. Fast jede Einzelstudie schon ist mit ihrer eigenen ‚zentripetalen‘ Begrifflichkeit und Thematik ausgestattet: Anciennität und Patronage/Historia und Praxis/Erinnerungsort und Genese/Konstruktion und Kollektiv/Konstruktion und autoreflexive Skepsis/Archäologie und Genealogie etc. Schon intern ergeben sich nicht wenige Probleme mit der Passgenauigkeit dieses ‚symbolischen Begriffskapitals‘ für die jeweiligen Quellen- und Untersuchungshorizonte. Konfrontiert man dann diesen unkoordinierten Aufwuchs an Begriffen auch noch mit einem „wissensgeschichtlich-archäologischen und politisch-genealogischen Blick“, wie es der Herausgeber einleitend versucht (S. 9), dann findet eben keine dringend erwünschte Hierarchisierung, Selektion, Ausrichtung und thematische Stabilisierung statt.

Historiographiegeschichte, um im Feld der Wissens-, Wissenschafts- wie Literaturgeschichte abgrenzbar zu werden, benötigt noch weit mehr als andere heute ‚stark gemachte‘ Paradigmen eine deutliche Rahmung. Für sich umfasst sie schon viel: Rhetorik, Poetik, Wissenschafts- und Methodengeschichte, und das auch noch epochenübergreifend von der Antike bis in die Gegenwart. Erklärt sich die Historiographiegeschichte aber für ‚allzuständig‘ in einem prinzipiell unabgeschlossenen Feld allgemeiner kultureller Diskurse, dann fällt sie auf ihren frühneuzeitlichen Status als ancilla omnium artium et scientiarum zurück. Man sollte doch meinen, dass der Historismus trotz seines bedingten Scheiterns die genuin historiographische Praxis so deutlich ausgeleuchtet hat, dass man von ihr aus ihr jeweils ‚Anderes‘ ebenso deutlich wie sie selbst zu erfassen vermag.

Bleibt die Frage nach dem Sinn der ‚antiheroischen Nacktheit‘ der müden und welken Krieger Daumiers, die den Umschlag zieren. Vielleicht lässt sich ja un- als postheroisch, sprich postmodern, deuten und die Szene schlüssig als Bildmetapher für die diesem Sammelband vorgeschaltete Begrifflichkeit verstehen. Sie wirkt weder austrainiert noch strahlt sie strategische Entschlossenheit aus. Man sollte sie dringend auf Diät setzen.

Anmerkungen:
1 Gabriela Schmidt, Thomas More und die Sprachenfrage. Humanistische Sprachtheorie und die translatio studii im England der frühen Tudorzeit, Heidelberg 2009.
2 Florian Kläger, Forgone Nations. Constructions of National Identity in Elizabethan Historiography and Literature: Stanihurst, Spenser, Shakespeare, Trier 2006.
3 Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006.
4 Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln 2009.