Titel
Mobilitäten in Europa:. Migration und Tourismus auf Kreta und Zypern im Kontext des europäischen Grenzregimes


Autor(en)
Lenz, Ramona
Erschienen
Anzahl Seiten
319 S., 7 sw-Abb.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Kerstin Poehls, Forschungsprojekt „Exhibiting Europe“ am Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Dass sich der Blick der europäischen Kultur- und Sozialanthropologie und der Europäischen Ethnologie auf Europa als Wissens- und Machtraum schärft und in dieser Loslösung von rein geographischen Verortungen verändert, lässt sich schon seit einiger Zeit beobachten. Kolloquien 1 und Publikationen zeugen von einem durch postkoloniale Theoriebildung geprägten und gendersensiblen Zugang zu „Europa“, das damit uneindeutiger in seinen Umrissen, fragmentarischer in seiner sozialen wie politischen Konfiguration und zugleich deutlicher in seinen kultur-, wirtschafts- und geopolitischen Implikationen zutage tritt.

In diesem Kontext liefert Ramona Lenz mit „Mobilitäten in Europa“ einen komplex argumentierenden und differenziert beobachtenden Beitrag. Fokussierend auf „Tourismus“ und „Migration“ geht sie der Frage nach, wie sich wissenschaftlich-künstlerische und politische Kategorien zu alltäglichen Handlungsoptionen und -strategien verhalten, wenn es um die Mobilitäten von Menschen in Europa geht. Damit bewegt sich die Arbeit auf drei Ebenen: Zum einen auf einer ethnographisch erforschten Alltagsebene, zweitens auf der Ebene politischer Prozesse und Entscheidungen und drittens auf der Ebene (erkenntnis)theoretischer Debatten. Die spannungsreichen Verquickungen dieser drei Ebenen offen zu legen und zu durchdringen, ist das Ziel der Autorin.

In Kapitel 1 werden zunächst die Begriffe „Paradigmenwechsel“ und „scientific turn“ sowie historisch gewachsene Mobilitätsmetaphern bestimmt: Lenz beleuchtet Bilder von Sesshaftigkeit („Baum“) und Mobilität („Fluss“, „Motel“, „Lager“, „Nomade“). Sie zeigt deren Verflechtung mit Ideen von Gesellschaft und Gemeinschaft auf sowie ihnen innewohnende Zuordnungen von Geschlecht und sozialem Status und beschreibt, wie diese Metaphern zu analytischen Kategorien werden. Vor diesem Hintergrund wägt die Autorin Möglichkeiten und Grenzen des vor allem von John Urry postulierten „mobility turn“ ab, der es erlaube, „Mobilitäten im Plural zu thematisieren und […] zueinander in Beziehung zu setzen“ (S. 74). Zu Recht kritisiert Lenz, dass der intensivierte Blick auf Mobilität neue blinde Flecken produziert, denn es „fehlen Konzepte zur Erklärung des Wechselverhältnisses zwischen Mobilität und Immobilität“ (S. 72) – darüber hinaus arbeiteten konzeptionelle Texte zum „mobility turn“ mit „maximale[r] Kontrastierung“, wenn sie beispielsweise „arme Flüchtlinge und reiche Geschäftsreisende“ (S. 77) einander diametral entgegensetzen.

Wenn Lenz nun ansetzt, diese Polarisierungen aufzuweichen, dann geschieht das vor dem Hintergrund sozial- und kulturwissenschaftlicher Migrations- und Tourismusforschung. Nicht nur entwickelten sich diese lange parallel zueinander, sondern zeichneten auch ein Bild von Mobilität als Ausnahme (denn „Heimat“ sei die eigentliche Konstante) und Bedrohung (beispielsweise für authentische Lebensweisen in Tourismusregionen oder die identitäre Verwurzelung von Migranten). Die Autorin greift in Kapitel 2 jene für sie anregenden Vorhaben heraus, die gerade die Überlappungen und Zusammenhänge zwischen Tourismus und Migration aus künstlerisch-kuratorischer bzw. sozial- und kulturwissenschaftlicher Warte sichtbar machen. Lenz stellt Ausstellungsprojekte (von „Routes“, 2002, und „Backstage*Tourismus“, 2004, bis „Projekt Migration“, 2005, – an dem sie selbst beteiligt war –) in schlüssiger Weise auf eine Ebene mit wissenschaftlichen Studien. Dabei problematisiert sie gängige Typologisierungen in Bewegung befindlicher Menschen beispielsweise entlang von Produktionsketten oder Konsummustern und betont, „dass ein und dieselbe Person in ihrem Leben verschiedene Formen der Mobilität praktizieren kann“ (S. 95). Im folgenden Abschnitt legt die Autorin die für sie leitenden Konzepte dar: 1) Transnationalisierung, um „Kultur als Produkt grenzüberschreitender Praxen in sozialen Räumen jenseits des nationalstaatlichen Rahmens“ (S. 97) fassen zu können, 2) Raum, den sie praxeologisch als „ökonomisches, politisches und kulturelles Produkt vielfältig vernetzter Mobilitäten von Kapital, Menschen, Objekten, Zeichen und Informationen“ (S. 99) versteht, 3) Authentizität im Sinne einer jeweils neu zu erzeugenden Qualität, 4) Gastfreundschaft, die als „Produkt der Begegnung unterschiedlicher mobiler AkteurInnen“ begriffen wird und deren unterschwellige Anbindung an ein „territoriale[s] Verständnis von ‚Zuhause‘“ (S. 108) es zu hinterfragen gilt, und schließlich 5) den „touristischen Blick“ und die Differenz. Der „touristische Blick“ bezeichnet hier „Wahrnehmungsmuster, die Differenz in Bezug auf ‚die bereiste Kultur‘ betreffen und das Verhältnis verschiedener Personen im Tourismus prägen“ (S. 110). In diesem Zusammenhang verweist Lenz ganz zu recht auf die von Michael Herzfeld unter dem Schlagwort „mediterreneanism“ (S. 111) subsumierten Studien der früheren Mittelmeer-Ethnologie, deren Gemeindestudien – unterschwellig ebenso kulturpessimistisch wie potentiell romantisierend – das dörfliche Leben als ein von umfassenderen ökonomischen, staatlichen oder sozialen Veränderungen weitgehend losgelöstes charakterisierten. Ferner diagnostiziert sie mit Marion von Osten ein nach wie vor wirksames „Blickregime“, das den Mittelmeerraum mit Rückständigkeit assoziiert (S. 113). Die Autorin weist hier voraus auf einen zentralen Punkt ihrer Arbeit, nämlich die später herausgearbeiteten „abgestufte[n] Sichtbarkeiten, die von der Hypersichtbarkeit touristischer Körper in der Hochsaison bis zur Unsichtbarkeit von Flüchtlingen reichen, von denen bisweilen nur Spuren wie am Strand zurückgelassene Boote zu sehen sind“ (S. 114). Gerade angesichts der „gegenseitige[n] Bedingtheit“ und der „Schwierigkeiten einer klaren Trennung“ zwischen diversen Formen von Mobilität, so Lenz, lohne die Dienstleistungsebene im Tourismus einen eingehenderen Blick.

Bevor es allerdings soweit ist, nimmt die Autorin die Leserin in Kapitel 3 mit auf einen Parforceritt durch „Europa“, das zum einen als Wiege touristischer Praktiken gelten kann (S. 120), zum anderen den geographischen, vor allem aber kulturpolitischen und rechtlichen Rahmen für die noch folgende Empirie bildet. Ihr geht es – angefangen bei der antiken Mythologie über Mittelalter und frühe Neuzeit bis in die Gegenwart – um die Genese des derzeitigen europäischen Mobiliätsregimes und die Frage, wie das innere und äußere „Andere“ Europas hervorgebracht wurde. Anstatt vergeblich Vollständigkeit anzustreben, liegt ihr an einer „Genealogie als Kritik“ und einem weiten Blick auf den diskursiven Rahmen, in dem der untersuchte Alltag auf Kreta und Zypern stattfand.

Bis hierhin folgte die Leserin der Autorin gespannt und nimmt nun – in Kapitel 4 – mit Freude zur Kenntnis, dass endlich auch die „DienstleisterInnen, UnternehmerInnen/ArbeitgeberInnen und (ehemalige[n]) TouristInnen“ (S. 177) zu Wort kommen. Lenz umgeht mit dieser Einteilung der von ihr Befragten und Begleiteten die benannten Fallstricke und lenkt den Blick auf Alltagsstrategien und Strukturen im kretischen Tourismusgewerbe. Sie zeigt, wie der „touristische Blick“ insbesondere für MigrantInnen aus Nicht-EU-Ländern wirkmächtig wird, da ihnen die (teils unterstellte, teils gegebene) Suche nach „Authentischem“ Flexibilität und Kreativität abverlangt. TouristInnen wie MigrantInnen – Lenz zeigt das am deutlichsten, wenn sie Lage und Handeln albanischer MigrantInnen und so genannter AlternativtouristInnen nebeneinanderstellt – praktizieren Mimikry und organisieren ihren (Arbeits)Alltag, wobei sie „nicht einfach Identitätszuschreibungen [kreativ persiflieren], sondern migrationspolitische Ordnungskategorien und Sichtbarmachungstrategien“ (S. 234) durchkreuzen. „Going native“ als Erfordernis und als Bedürfnis gleichermaßen – und keineswegs auf ethnographisch Forschende beschränkt.

In Kapitel 5 mit Blick auf Zypern zeigt Lenz, wie die rechtlichen Veränderungen im Zuge des zypriotischen EU-Beitritts 2004 die Hierarchien unter MigrantInnen aus der EU und Drittstaaten sowie – in Verbindung mit einer immer wieder beschworenen „zypriotischen Gastfreundschaft“ – deren Arbeitsmöglichkeiten verändern. Weder sind Diskriminierung und Aufenthaltsstatus direkt gekoppelt, noch würde etwa eine Daueraufenthaltserlaubnis tatsächlich ein dauerhaftes Verbleiben auf Zypern bedeuten. Die von ihr befragten Frauen (was sich in einem besonders geschärften Blick für geschlechtsspezifische Handlungsmuster niederschlägt) ermöglichen Lenz zu zeigen, wie in einem zypriotischen Dorf ein transnationaler Raum von EU-geprägtem nationalem Recht umrissen wird und individuelle Lebenswege beeinflusst.

Mit Kapitel 6 schwenkt die Autorin auf den Schluss ein, indem sie eine Nahaufnahme des „Hotel Royal“ vornimmt, in dem sommers TouristInnen, winters MigrantInnen untergebracht sind und in dem sich die Bewegungen von Menschengruppen durch Europa ganz konkret durchkreuzen. Das „Hotel Royal“ bietet ihr aber auch Anlass zu einer weiteren reflexiven Schleife in dieser sich ohnehin schon sehr präzise innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie situierenden Arbeit – schließlich seien Orte wie dieser „touristische Attraktionen für jene [VertreterInnen des linken Kultur- und Wissenschaftsbetriebs], die ihre Reise in den Süden politisch und ästhetisch aufwerten wollen“ (S. 286).

Ramona Lenz zeigt in ihrer Studie, mit der sie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main promoviert wurde, wie das EU-europäische Mobilitätsregime sowohl Migration als auch Tourismus reguliert, die in einem spannungsreichen Wechselverhältnis zueinander stehen. Lenz’ Forschung weckt die Frage nach der Rolle des Wartens (möglicherweise lethargisch, möglicherweise gespannt auf Handlungsmöglichkeiten hoffend) und der konkreten Orte des Wartens, anhand derer sich eine Zusammenschau von Tourismus und Migration vertiefen ließe. Dass das Buch trotz aller Rückbezüge in zwei Teile zerfällt, nämlich einen eher theoretisch-einordnenden und einen empirischen, lässt sich auch als eine Stärke werten. So lassen sich beide Teile individuell mit Gewinn lesen; insbesondere die klare, nuancierte Auseinandersetzung mit dem „mobility turn“ sei auch Studierenden empfohlen. Lediglich bei der ausführlichen Auseinandersetzung mit „Europa“ (Kapitel 3) ist nicht immer klar, wie diese sich zur folgenden Empirie verhält – sie hätte insofern etwas knapper ausfallen können. Dem Buch ist die intellektuelle Neugier derjenigen zu wünschen, die Anregungen zu einer ethnographisch verdichteten „Kritik als Genealogie“ suchen, welche wissenschaftliche Forschungstraditionen mit politischen und alltäglichen Welten in Beziehung setzt.

Anmerkung:
1 So etwa die Vortragsreihen des Münchner und des Berliner Instituts für Europäische Ethnologie, die unter dem Titel „Europa Postkolonial“ bzw. „Decentering Europe“ „Blicke auf Räume, Wissen und Wertungen“ werfen bzw. postkoloniale und „post-bloc“ Perspektiven für das Vielnamenfach fruchtbar machen wollen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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