A. Bonoldi u.a. (Hrsg.): Recovery and Development

Cover
Titel
Recovery and Development in the European Periphery. (1945-1960)


Herausgeber
Bonoldi, Andrea; Leonardi, Andrea
Reihe
Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient. Beiträge /Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Contributi 22
Erschienen
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 27,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Grabas, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Tagungsband verfolgt das weit gefasste Ziel, die Forschungsergebnisse des 1994 in Trient eingerichteten "Seminario permanente sulla storia dell´economia e dell´imprenditorialità nelle Alpi in età moderna e contemporanea" systemübergreifend zu vergleichen. Dazu wird der nach 1945 einsetzende Übergang der vorwiegend agrarisch geprägten und im nationalen Kontext jeweils eher rückständigen deutsch-italienischen Alpenregionen zu florierenden Industrie- und Dienstleistungszentren mit der ökonomischen Entwicklung in anderen europäischen "Randregionen" in Ost und West kontrastiert. Diese Fokussierung auf "marginal areas" (S. 10) der europäischen Peripherie erscheint vielversprechend, lässt die wirtschaftshistorische Analyse von Wiederaufbau und Wachstum in Europa nach Kriegsende gerade unter regionalen Gesichtspunkten doch noch viele Fragen unbeantwortet. Der regionalgeschichtliche Zugang hat während der letzten beiden Jahrzehnte in der Wirtschaftsgeschichte eine deutliche Aufwertung erfahren: Kleinere territoriale Einheiten sollen eine präzisere Bestimmung von Akteuren, Zusammenhängen und Tendenzen ermöglichen. Insofern wecken die Herausgeber einige Erwartungen, die der Sammelband insgesamt aber leider nicht erfüllt.

Nach einer Einleitung der beiden Herausgeber diskutiert Vera Zamagni den Zusammenhang von ökonomischem Wandel und institutioneller Transformation. Sie unterstreicht die Bedeutung der Europäischen Integration nach 1945 für wirtschaftliches Wachstum und Wohlfahrt in Westeuropa als "the greatest positive novelty of the XXth century" (S. 27). Anschließend entwerfen Peter Csillik und Tamas Tarjan in einer Markt- und Planwirtschaften vergleichenden, quantitativen Studie ein mit erstaunlicher Selbstsicherheit vorgetragenes, jedoch wenig überzeugendes, hoch aggregiertes endogenes Wachstumsmodell für West- und Osteuropa nach 1945, das nationale Besonderheiten und Entwicklungspfade nicht näher berücksichtigt.

Ivo Bicanics Analyse des ökonomischen Wiederaufbaus nach Kriegsende und der wirtschaftlichen Entwicklung in Jugoslawien bis 1960 bildet dann den Auftakt einer Reihe von Länder- und Regionalstudien. Nach Titos Zerwürfnis mit der Sowjetunion sei mit der teilweisen Liberalisierung des Binnenmarktes sowie der Implementierung der "kollektiven Selbstverwaltung" der jugoslawischen Volkswirtschaft seit 1950 eine kurze, aber intensive Wachstumsperiode eingeleitet worden. Hohe Zuwächse der Industrieproduktion – vor allem im Bereich der Schwerindustrie –, eine rasche Ausweitung der Exporte sowie der Ausbau der nationalen Infrastrukturen waren die wichtigsten Kennzeichen des "Golden Age of Self Management", das die Republik Jugoslawien innerhalb von kaum zehn Jahren "from a backward agricultural rural society into a growing urban industrial one" (S. 44) verwandelte. Allerdings zeigten sich bereits seit den frühen 1960er-Jahren – auch auf Grund verfehlter staatlicher Wirtschaftsplanung – erste Anzeichen struktureller Fehlentwicklungen, das Wirtschaftswachstum verlor zusehends an Dynamik, und spätestens seit Mitte der 1970er-Jahre befand sich die jugoslawische Wirtschaft in einer von hoher Staatsverschuldung und Inflation geprägten Krise.

Ezio Ritrovato liefert einen Überblick über die – trotz der in einigen Regionen Süditaliens erzielten Teilerfolge – insgesamt gescheiterten Versuche der italienischen Regierungen, die strukturelle Rückständigkeit des Mezzogiorno mit Hilfe forcierter industriepolitischer Maßnahmen dauerhaft abzubauen und damit das traditionelle Nord-Süd-Gefälle zu verringern. Franz Mathis geht in einer komparativ angelegten Analyse des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in den alliierten Besatzungszonen Österreichs der Frage nach, ob und wie stark die im nationalen Vergleich bis heute zu konstatierende relative Rückständigkeit der östlichen Bundesländer von der bis 1955 anhaltenden sowjetischen Besatzungspolitik mitverursacht wurde. Zwar sei die Wirtschaftsstruktur in der sowjetischen Besatzungszone vor allem durch die systematische Demontage bestehender Industrieanlagen sowie durch die Abwanderung vieler Unternehmen in die westlichen Besatzungszonen stark geschwächt und somit ein rascher Wiederaufbau verhindert worden. Allerdings könne die unterdurchschnittliche ökonomische Leistungsfähigkeit nicht als eine notwendige Folge der sowjetischen Besatzungspolitik angesehen werden, sondern sei eher der peripheren geopolitischen Lage zuzuschreiben.

Ernesto Clar und Fernando Collantes skizzieren sodann die erfolgreiche Neustrukturierung und Modernisierung des Agrarsektors in Spanien unter der Diktatur Francisco Francos bis 1975. Andrea Bonoldi diskutiert in Fallstudien über das Aostatal und die Provinz Sondrio den Beitrag und die Steuerungseffizienz einer seit 1952 forcierten staatlichen Infrastruktur- und Industrieförderung für den Übergang dieser italienischen Alpenprovinzen von vorwiegend agrarisch geprägten, strukturschwachen und unterentwickelten Regionen zu florierenden Industrie- und Dienstleistungszentren mit Wachstumsraten weit über dem nationalen Durchschnitt.

Viele neue Erkenntnisse liefern die folgenden vier Aufsätze zur italienischen Bankengeschichte der Nachkriegszeit. Auf einer breiten Quellenbasis analysieren Pietro Cafaro und Andrea Locatelli die Wirkung des staatlichen Kreditinstituts Mediocredito Regionale Lombardo, das sich während der 1950er-Jahre zum Vorzeigemodell staatlich subventionierter Kreditvergabe an regionale Industrieunternehmen in ganz Italien entwickelte. Eingebettet in die Diskussion über institutionelle Kontinuitäten von der faschistischen zur republikanischen Zeit, fokussiert auch Andrea Leonardi die Ausweitung des staatlichen Kreditwesens zum Aufbau industrieller Wachstumszentren in den jeweiligen Regionen. Leonardi betont jedoch, dass die regionalen Kreditinstitute zum Beispiel in Süditalien "were unable to perform any active role in driving growth of industrial firms" (S. 240). Silvio Goglio unternimmt anschließend den Versuch, die Einflussnahme lokaler Kreditinstitute auf die Dynamik von lokalem Wachstum für die italienische Nachkriegszeit insgesamt zu quantifizieren. Er kommt zu dem vorläufigen Ergebnis, dass die lokalen Banken in den industrial districts kleiner und mittelständischer Unternehmen in Mittel- und Norditalien ihre größten Erfolge erzielten. Ein weiteres Fallbeispiel für das Beziehungsgeflecht von regional operierenden staatlichen Kreditinstituten und wirtschaftlicher Entwicklung liefert der Beitrag von Cinzia Lorandini über den Mediocredito Trentino-Alto Adige.

Besondere Hervorhebung verdient der Aufsatz von Maximiliane Rieder, die auf umfassender Quellengrundlage kenntnisreich den von der bayerischen Landesregierung mit Hilfe von Marshall-Plan-Geldern eingeleiteten Übergang vom industriell nur schwach besetzten Agrarland zu "Germany´s most strongly growing economic region" (S. 310) analysiert. In Auseinandersetzung mit den Planungsbehörden der Economic Cooperation Administration gelang es der bayerischen Landesführung bereits seit 1948, ihre Vorstellungen regionaler Industrie- und Strukturpolitik zu verwirklichen und dadurch den sozioökonomischen Strukturwandel in Bayern in einem Prozess der kollektiven Krisenbewältigung und des politischen Interessenausgleichs voranzutreiben.

Schließlich diskutiert Aleksander Surdej die Auswirkungen des planwirtschaftlichen Regulierungssystems, die Effizienz öffentlicher Eingriffe und die Rolle der Staatsunternehmen für den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung in Polen nach Kriegsende. Zwar gelang es der kommunistischen Führung relativ schnell, die Folgen der Kriegszerstörungen zu beseitigen und die Produktion speziell der Energiewirtschaft sowie der Schwerindustrie zu steigern, doch zeigten sich schon Mitte der 1950er-Jahre systembedingte Ineffizienzen auf der Mikroebene. Staatliche Reform- und Investitionsprogramme konnten den wirtschaftlichen Niedergang der polnischen Wirtschaft seit Mitte der 1960er-Jahre nicht verhindern, was Surdej vor allem mit der Rigidität und damit einhergehenden Innovationsschwäche von Zentralplanwirtschaften begründet.

In der Zusammenschau bietet der Sammelband viele wertvolle Details, zeigt aber zugleich erhebliche konzeptionelle Schwächen. Grundsätzliche Kritikpunkte sind der problematische redaktionelle Aufbau sowie fehlende Kohärenz: Erstens fällt die sehr unausgewogene geographische Verteilung und Schwerpunktsetzung der untersuchten Regionen negativ auf: Wer eine regional ausgerichtete, europaweite wirtschaftshistorische Querschnittanalyse erwartet, wird enttäuscht. Sechs der insgesamt zwölf Beiträge befassen sich mit der italienischen Nachkriegsgeschichte, weite Gebiete Europas bleiben vollkommen unbeachtet. Zweitens erscheint der Untersuchungszeitraum nicht einleuchtend. Angesicht der von der Forschung weithin anerkannten Periodisierung der europäischen Nachkriegsprosperität von 1945 bis 1973 wäre bereits die von den Herausgebern im Titel gesetzte Spanne von 1945 bis 1960 zu hinterfragen; zum anderen variieren die zeitlichen Endpunkte der einzelnen Beiträge erheblich, was die Vergleichbarkeit der Ergebnisse erschwert.

Hiermit korreliert schließlich ein dritter Hauptkritikpunkt: die unklare und inkohärente Verwendung der Begriffstrias "periphery", "recovery" und "development". Zwar betonen Bonoldi und Leonardi, dass eine "over-precise definition of the concept of 'periphery'" (S. 10) vermieden werden sollte, allerdings bleibt dadurch offen, ob nun die geographische Randlage oder die ökonomische Rückständigkeit die untersuchten Länder und Regionen als "marginal areas" bzw. "European periphery" charakterisieren. Eine theoretische Fundierung der synonym verwendeten Begriffe "reconstruction" und "recovery" fehlt ebenso wie die Definition von "post-reconstruction economic development". Angesichts dieser Hauptkritikpunkte verwundert es nicht sonderlich, wenn die von Alberto Cova versuchte Zusammenfassung und abschließende Bewertung der Untersuchungsergebnisse nicht gelingt. Trotz der vielen erhellenden Einzelaspekte bleibt der Band durch seine konzeptionellen Schwächen vieles schuldig und wird den Ansprüchen der Herausgeber kaum gerecht.

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